Don’t read my diary when I’m gone. OK, I’m going to work now. When you wake up this morning, please read my diary. Look through my things, and figure me out. (Kurt Cobain: Journals)
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Neue Rubik – wieder für genau 1 Jahr:

69 oder: Einerseits. Andererseits.

Einerseits: Alles geht nicht immer.
Andererseits: Gar nichts aber auch.

 

 

nacht liegt im sterben
todesboten am himmel
schlaf ein kind schlaf ein

 

nicht alles versucht
stattdessen alles riskiert
und alles verspielt

 

wenn ich nicht mehr kann
bringe ich dich zum lachen
lässt du mich hoffen

 

was ist das leben
ritt auf den wellen der zeit
sturz in die brandung

 

 

KurtsWellen

Bezeichnung für den Mangel an unhöflichen Männern: Flegelnotstand.

Vietnam hat jahrzehntelang eine Zweikindpolitik betrieben – weil Überbevölkerung. Jetzt merken sie: sinkende Geburtenraten = Alterung der Gesellschaft. Ja, was haben die denn erwartet? Das haben sie doch so gewollt. Oder haben sie das nicht antizipiert? Dann kann ich nur fragen: Wie blöd seid ihr denn? Wenn weniger Kinder geboren werden, gibt es irgendwann mehr alte Menschen – eine Zeit lang. Dann sind die tot, und das Problem der Überbevölkerung ist gelöst. PS: Schönen Gruß auch an die Das-Vok-stirbt-aus-Hysteriker in Deutschland.

 

Vorrichtung, mit der man Leuten sein Wohlwollen entzieht: Gunstabzugshaube.

 

Die USA sind entstanden durch einen sehr, sehr langen sukzessiven maximal invasiven Völkermord an den indigenen Völkern und Nationen, dargestellt als eine Art Kollateralschaden auf dem Weg ins von Gott den Weißen gegebene Land.

 

 

Kopfhengst – Wunderlichkeiten aus Blödland. Akte 7.

Kopfhengst liegt mal wieder in der Wanne. Die hatte er voll laufen lassen für seine ehemalige Freundin Hulla Hupp. Siehe Akte 6. Hulla Hupp war ja auf dem Weg zu Kopfhengst. Aber sie kam nie dort an. An einer Kreuzung lief sie bei Rot über die Straße, von links kam ein Bus, von rechts ein LKW und auf der anderen Straßenseite winkte ein Freundin – das war zu viel. Als Kopfhengst die Sirenen von Polizei und Krankenwagen hörte, wusste er sofort Bescheid. Er kippte eine Flasche Eierlikör in die volle Wanne, legte sich dazu und begann zu überlegen. Macht er gerade immer noch. Kopfhengst arbeitet. Kreativ! Kopfhengst hat Auftrag vom Kunden: Mach mir Werbekampagne für mein Unternehmen und meine Produkte. Kunde ist ARES: Army-Related Equipments and Services. Im Klartext: Waffen jeder Art. Daher auch der Slogan (natürlich ein echter Kopfhengst-Knaller): „Wir kriegen das schon hin“. Internationale Version: „War happens“.
Kopfhengst macht laut Brainstorming als Selbstgespräch. Hören wir mal rein: „Minen zum bösen Spiel. Super! Volles Rohr zum Frieden. Jawoll! Bombenstimmung an allen Fronten. Nicht schlecht. Wir schützen euch in den Gräben. Total empathisch. Panzerknacker 2.0: Wir brechen Panzer, bis der Feind kotzt. Ge-ni-al.“
Dann zieht Kopfhengst den Stöpsel. Es gurgelt bedrohlich aus dem Abfluss. Ein U-Boot?

 

 

Die kleinen Mönche.

> Zur aktuellen Fortsetzung bitte scrollen.

Episode 3: Landung in der Normandie
– Eine Geschichte, die einfach so das Reihenendhaus verlässt –

Was bisher geschah – ein kurzer Blick in Karolines „Akte Kleine Mönche“.

Im ersten gemeinsamen Abenteuer rettet Karoline die kleinen Mönche vor aggressiven Elstern und nimmt sie anschließend mit ins Reihenendhaus (die Mönche, nicht die Elstern, wobei, eine schon), in das sie mit ihren Eltern aus der großen in eine benachbarte kleinere Stadt am selben Strom umzieht. Das ist Episode 1 / Tempel auf dem Dach.

Als sie schon eine Zeitlang in der kleineren Stadt wohnen, helfen die kleinen Mönche, die Krise um den Regenwasserkanal im Bachwäldchen zu überwinden. Episode 2 / Der Kampf ums Bachwäldchen.

Ein Jahr später, Karoline ist inzwischen 13 Jahre alt, passiert wieder etwas Erzählenswertes.

Und noch etwas zur Erinnerung: Sämtliche Kleine-Mönche-Geschichten wurden von Karoline noch einmal gesichtet und, wo nötig, überarbeitet, bevor sie dann ihr Elternhaus verließ, um sich in der großen weiten Welt ihre eigene zu schaffen.

Doch jetzt startet hier und jetzt erst mal Episode 3 von Karolines Kleine-Mönche-Erzählungen. Karoline, bitte…

 

Achtung: Wichtige Informationen zu den kleinen Mönchen! An alle, für die es neu ist: Bitte hier und jetzt als Erstes lesen, weil ich es später nicht andauernd erklären will!

Die kleinen Mönche stammen ursprünglich aus einem stillen, abgelegenen Kloster in Tibet, hoch oben in den Himalaya-Bergen. Von dort mussten sie eines Tages fliehen (siehe hierzu Episode 1 „Tempel auf dem Dach“ bzw. Wikipedia Tibet/China) und gerieten so ins Leben eines Mädchens namens Karoline (das bin ich). Zur Flucht und auch später bedienten sich die kleinen Mönche diverser Kleine-Mönche-Zaubereien. Zum Beispiel ihre Verkleinerung auf echte Winzlinge, die so lange anhält, bis sie wieder in ihr Kloster zurückgekehrt sind. Ausnahmen von dieser Regel sind allerdings immer möglich. Diese Zaubereien perfektionieren sie im Verlauf der Geschichten immer weiter. Denn je länger der Zustand der Verkleinerung anhält, desto mächtiger und stärker werden die Zauberkräfte der kleinen Mönche. Irgendwie dialektisch, oder?

Zu diesen Zaubereien gehört vor allem und von Anfang an der Glitzerring. Er dient als Lupe, damit Menschen die Winzlinge sehen können. Und kann zur Glitzerglocke bzw. Glitzerkuppel bzw. zum Glitzerdom bzw. zur Glitzerkugel „aufgeblasen“ werden, unter / in der/dem dann eine optimale Kommunikation Mönche-Menschen möglich ist, weil dann alle gleich groß bzw. klein sind. Wird die Kuppel zur Kugel, kann man sich mit ihr fliegend fortbewegen (wie z.B. in Episode 2 „Der Kampf ums Bachwäldchen“ ). Kommuniziert wird außerhalb der Kuppel telepathisch, also in Gedanken, und innerhalb der Kuppel entweder normal sprachlich oder aber auch gedanklich, wenn z.B. die Elster Finanzamt mit dabei ist. Wer nicht weiß, wer das ist, lese Episode 1 oder 2. Oder einfach weiter.

Der Abt des Klosters, Meister Alhasa, trägt ein Holzkistchen mit dem Ursprungsglitzerstaub und einem kleinen Löffel in seinem Umhang immer bei sich. Auf Basis dieses Ursprungsstaubes lässt sich immer wieder neuer Glitzerstaub herstellen. Ilhasa mit seiner umfassenden Bildung nennt das Kästchen deshalb gern auch die Staubmutter, weil ihn das alles an das Prinzip der Essigmutter erinnert.
Alhasa ist der Vorstand des Klosters, ein uralter, weiser Mönch, der schon viel erlebt und gesehen hat und so manches Geheimnis kennt und es meist auch für sich behielt. Er ist das Herz, die Seele und der alle anderen überragende Geist des Klosters.
Elhasa ist ein stiller, etwas verschlossener Mönch. Deshalb passt auch das e für ernst so gut zu ihm. Dabei ist er hilfsbereit und pragmatisch, auch wenn er dabei nicht viele Worte macht. Er kann gut zuhören, und wenn er mal selbst den Mund aufmacht, hat das, was raus kommt, Hand und Fuß. Aus für die anderen unerklärlichen Gründen hat der Abt gerade ihn mit den sogenannten Außenkontakten betraut: Ab und zu schickte er ihn runter ins Dorf – einkaufen, tauschen und vor allem hören, was so läuft in der Welt. Das musste er dann jedes Mal bei seiner Rückkehr sofort dem Abt berichten, und nur dem. Meister Alhasa erzählte es dann den anderen Mönchen. Oder auch nicht. Merkwürdig ist, dass sich Elhasa noch nie, nachdem er dem Abt berichtet hatte, daran erinnern konnte, was für Neuigkeiten das gewesen waren.
Der lange, hagere Ilhasa ist der Gebildetste der fünf Mönche (i für intellektuell, ist doch klar), was vor allem daran liegt, dass er die Klosterbibliothek verwaltete und eine richtige Leseratte ist. Passend dazu trägt er eine kleine, runde Brille, was ihm etwas Professorhaftes verleiht. Neben der Bibliothek kümmerte sich Ilhasa auch um die kleinen Felder und den Obst- und Gemüsegarten des Klosters.
Olhasa wiederum ist das komplette Gegenteil von Ilhasa: Er ist der kleinste und dickste Mönch. Und der langsamste, was das Begreifen angeht. Wenn er dann endlich mal was kapiert hat, begleitet er seine Erkenntnis oft mit einem langen, staunenden „Ooooh“. Seine Mitbrüder haben ihm deshalb den Beinamen „Licht der geistigen Bescheidenheit“ verliehen, was Olhasa tatsächlich als Kompliment versteht, gilt doch im Kloster Bescheidenheit als Tugend. Wie man bei seiner Leibesfülle schon annehmen kann, ist Olhasa in der Küche tätig. Er ist aber nicht nur ein exzellenter Koch, sondern auch  ein perfekter Hausmönch: putzen, waschen, spülen, aufräumen, nähen, flicken – für Olhasa das reinste Vergnügen. Früher so im Kloster und jetzt da, wo die kleinen Mönche leben. Denn da, wo sie leben, sagt der Abt, ist auch das Kloster, irgendwie.

Ulhasa ist ein recht junger Mönch, der zudem ziemlich gut aussieht und sich eine Menge traut und zutraut. Im Kloster war er vor allem für die Tiere, essbare und nicht essbare, zuständig. Ich denke, er heißt Ulhasa, weil er so besonders unternehmungslustig ist.

Diese Porträts beziehen sich, wie ihr sicher schon gemerkt habt, auf das Leben bzw. die Zeit im Kloster in Tibet, als dort noch alles gut und friedlich war. Ihre individuellen Eigenschaften haben die kleinen Mönche in ihrer Diaspora zum Glück behalten, und, was immerhin ein Trost ist: Sie werden, jeder für sich, kontinuierlich besser und perfekter. Noch so ein kleines Wunder.

 

Prolog.

Gedankenaustausch:
– Finanzamt?
– Ja, Karoline.
– Wir fahren in Urlaub, Mama, Papa und ich.
– Aha.
– Vier Wochen. Ans Meer, nach Frankreich, in eine Gegend, die Normandie heißt oder so.
– Aha.
– Die Frage ist jetzt: Was machst du, wenn wir weg sind?
– Ich passe auf Haus und Garten auf.
– Nee, das macht schon Melanie von nebenan.
– Okay, dann komm ich eben mit.
Ich erleichtert:
– Dann ist ja alles gut. Und die Mönche?
Stimme Meister Alhasas in meinem Kopf:
– Wir auch, meine liebe Karoline.
– Und wie macht ihr das?
– Sagen wir dir, wenn wir angekommen sind. Oder vielleicht auch nicht. (Leises Kichern im Hintergrund.)
– Und du, Finanzamt, wie machst du die Reise? Fliegst du?
– Bin ich ein Zugvogel? Ein Mauersegler, der beim Fliegen schläft? Ich bin eine Elster. Ich bin für Kurzstrecken konstruiert.
– Ja, also, dann, wie…
– Ich fahre in eurem Auto mit, so wie damals, als ich das Straßenbahndepot verlassen habe.
– Aber du kackst uns nicht aufs Gepäck!
– Wenn ihr mich ab und zu raus lasst zum Gassi fliegen, nicht.
– Keine Sorge, Mama und ich müssen unterwegs auch öfter mal piesele.
– Wann geht es eigentlich los?
– Nächste Woche.
– Dann wird es Zeit, dass du deine Eltern vorbereitest.
Ich mit Riesenseufzer:
– Ich weiß.

 

En route !

Das ist Französisch. Wortwörtlich heißt das „auf dem Weg, unterwegs“. Es kann mit Ausrufezeichen aber auch eine Aufforderung sein. So, wie die Fußballreporter im Fernsehen zu Beginn eines Spiels oft „Auf geht’s“ sagen. Was sie sonst noch sagen, weiß ich nicht, weil Mama und ich danach immer fluchtartig das Wohnzimmer verlassen. Ach so, „Was ist denn hier los?“ sagen die Reporter auch oft, aber das tut Mama in der Schule auch.

Bevor es also in jenem Sommer, ein Jahr nach dem (gewonnenen!) Kampf ums Bachwäldchen, auf nach Frankreich ging, musste ich mit meinen Eltern noch kurz etwas klären, und zwar dies:
– „Für die Einfuhr von Vögeln (insbesondere von Papageien und Wellensittichen),
Nagetieren, Ratten, Meerschweinchen und Kaninchen werden benötigt:
• eine Gesundheitsbescheinigung, die weniger als fünf Tage vor der Abreise ausgestellt
wurde und die bestätigt, dass die Tiere an keiner arttypischen Krankheit leiden;
• eine offizielle Bestätigung des Tierhalters, dass er der Eigentümer der Tiere ist und diese
nicht verkaufen wird.“ Das sind die Gesetze, meine werte Tochter.
Papa konnte manchmal so ein Korinthenkacker sein. Er selbst benutzte dafür einen anderen Begriff, irgendwas mit Ameisen.
– Papa, Finanzamt leidet an keiner arttypischen Krankheit, und verkaufen will ich sie schon gar nicht!
Ich war echt empört.
– Und die elsterntypische Kleptomanie?
– Das ist keine Krankheit, das ist artgerechtes Verhalten, Nomen ist halt Omen, grätschte Mama in die Diskussion, die daraufhin unter dreifachem Gelächter beendet wurde.
– Außerdem, fügte Mama hinzu, ist Finanzamt eigentlich ein wildes Tier. Und kann somit machen, was sie will.
Draußen im Garten hörte ich ein zufriedenes Elstern-Keckern.

Und die kleinen Mönche? Wie gesagt: davon später, vielleicht. Jetzt waren wir erst einmal unterwegs. Das Auto voll, aber zum Glück genug Platz zum Sitzen. Neben mir auf der Rückbank hatte es sich Finanzamt zwischen dem Gepäck gemütlich gemacht. Sie schlief, und auch mir fielen bald die Augen zu. Mama und Papa unterhielten sich ab und an leise. Autobahnfahrten sind wirklich langweilig. Am späten Nachmittag erreichten wir ein sehr schönes, schlossähnliches Gebäude, das mitten auf dem Land irgendwo in Nordfrankreich gelegen war. Drumherum ein wunderschöner Park, den Finanzamt gleich erkundete.
– Das ist unsere Übernachtung mit Abendessen und Frühstück, verkündete Papa, als wir durch das sehr enge Eingangstor in den Park rollten. Mama und ich waren begeistert. Das Dreierzimmer auf der Etage riesig, mit großen Betten, hohen Decken, alten Möbeln und großen Fenstern mit Blick auf den Park. Die Gastgeber dieser „Chambres d’Hôtes“, so heißt Bed & Breakfast auf Französisch, waren ein, Achtung, niederländisches Ehepaar, die eine lustige Mischung aus Niederländisch, Englisch, Französisch und Deutsch sprachen. Vor allem aber waren sie sehr, sehr nett. Abends gab es lecker Essen im Esszimmer unter einem wirklich ungeheuer großen Hirschkopf mit Geweih. Auf den Tellern dann aber kein Wild, sondern „Kip“, was „Hühnchen“ bedeutet und Niederländisch ist.

Nach einem prima Frühstück am nächsten Morgen waren wir dann wieder en route. Finanzamt hatte den Abend und die Nacht bei französischen Verwandten im Park verbracht.
– Und?, fragte ich sie, als wir vor der Abfahrt – Mama und Papa studierten noch die Karte – eine Runde durch den Park drehten, was sagen die französischen Elstern denn …
– „Pie“, unterbrach mich Finanzamt, auf Französisch heißt Elster „Pie“.
– Also, fuhr ich fort, was hat die Verwandtschaft denn Pie mal Daumen so erzählt?
Finanzamt schüttelte kurz ihr Gefieder.
– Was sollen sie schon erzählt haben? Die Raubvögel sind hier genauso bescheuert wie bei uns, und die Menschen auch. Die schießen sogar auf Elstern. Manchmal jedenfalls.
– Hä? Wozu das denn? Essen Franzosen Elstern? Ich hab im Internet mal ein Rezept für Krähen aus dem Ofen gefunden. Und Elstern und Krähen sind doch irgendwie ähnlich.
Finanzamt schüttelte sich erneut.
– Hör bloß auf mit so was. Die Franzosen schießen dann auf uns, wenn sie meinen, wir schädigen sie, nur weil wir zum Beispiel ein bisschen ihre Obstbäume plündern, und weil sie uns anders nicht los werden. Aber meistens hauen die Elstern hier schon vor dem ersten Schuss ab. Sind ja nicht blöd.
– Papa sagt immer, die Franzosen schießen auf alles, was sich bewegt.
– Da verwechselt er die Franzosen mit den Amis. Übrigens dürfen in Deutschland die Elstern auch gejagt werden, aber alles streng geregelt, und in Städten, also da, wo ich wohne, sowie so nicht.
– Hast du die französischen Elstern mal gefragt, ob es da, wo wir hinfahren, auch Elstern gibt?
– Ja, gibt es. Aber vor allem gibt es dort die sogenannten Seevögel. Also Möwen, Austern, Robben und so. Finanzamt sah mich mit schräg gelegtem Kopf an. Grinste sie etwa?
– Passt schon, murmelte ich, und da riefen zum Glück auch schon Mama und Papa nach uns.

Vier Stunden später, so gegen Mittag, waren wir angekommen. Als wir das Ortsschild passierten, deklarierte Papa fast feierlich:
– Willkommen in Gairemanville Plage. Ein kleiner Familienbadeort an der Westküste der Halbinsel Cotentin, Département Manche, im früher Basse Normandie genannten Westteil der Normandie. Wenn ihr nachher am Strand steht, seht ihr gegenüber die britische Kanalinsel Jersey. Wenn ihr der Küste nach Norden folgt, kommt ihr irgendwann nach Cherbourg. Wenn ihr an die Ostseite der Halbinsel fahrt, kommt ihr an die sogenannten Landungsstrände, wo im Juni 1944 die Westalliierten gelandet sind, um gegen Hitlerdeutschland zu kämpfen und, Gott sei Dank, zu siegen. Folgt ihr der Küste von hier aus nach Süden, kommt ihr zum Mont Saint Michel. Dahinter beginnt die Bretagne. Noch Fragen?
Papa war schon immer sehr stolz auf seine Geographie- und Geschichtskenntnisse. Dann hielten wir auch schon vor unserem Ferienhaus. Beim Blick über die Hecke sahen wir auf der Terrasse eine kleine, drahtige, sonnengebräunte ältere Frau mit halblangen, glatten Haaren sitzen und Zeitung lesen: Marion, unsere Vermieterin. Als sie uns sah, sprang sie flink auf und kam uns mit einem strahlenden Lächeln entgegen.
– Bonjour. Dü bist Lücie, und dü bist Mathias, begrüßte sie meine Eltern, um sich dann, immer noch strahlendes Lächeln, an mich zu wenden, und dü princesse, dü bist Karolin, n’est-ce pas?
Hm, dachte ich, Prinzessin, da habe ich schon schlimmere Komplimente bekommen. Was ich viel bemerkenswerter fand, war die Tatsache, dass die Dame, obwohl Französin, relativ gut Deutsch sprach, mit einem schönen Singsang und einem heftigen Akzent. Bald sollte ich merken, dass Marion ganz bewusst diesen heavy accent pflegte.
– Karoline. Karoline! Träumst du? Sag doch was zu Madame! Das war jetzt Papa.
Ich sah Marion, die mich immer noch anstrahlte, in ihre sanften braunen Augen und stammelte ein „Bongschuuur“. Aber da hatte sie mich auch schon umarmt und mir rechts-links diese berühmt-berüchtigte französische Wangenkussnummer verabreicht. Zum Glück roch sie gut, irgendwie nach Meer.*
– Aaaah, rief Marion, kaum dass sie mich wieder aus ihren Armen entlassen hatte, voilà Fronk!
Über die kleine Straße kam vom gegenüber liegenden Haus ein langer, schmaler Schlaks geschlendert, auch schon etwas alt, vom Typ her so einer, den Mama als „kernigen alten Kerl“ zu bezeichnen pflegte. Dass der so ruhig schlendern konnte, lag daran, dass auf der Straße überhaupt nichts los war. Nochmalige Begrüßung, zum Glück ohne Küsschen. Fronk, also Frank, war nicht rasiert, sprach dafür wesentlich besser Deutsch als seine Frau, ohne deren heftigen Akzent, dafür aber mit einem merkwürdigen Tonfall, der eindeutig kein französischer war.
Aber jetzt wollten wir ja erst mal ankommen. Also einchecken. Mein Zimmer aussuchen, ganz wichtig. Und wo war übrigens Finanzamt? Rätsch, rätsch machte es in der Pinie neben dem Haus. Und wo waren die Mönche?
– Wir sind hier, werte Karoline, sprach es sanft in meinem Kopf. Lass uns später reden, jetzt hast du zu tun, sieh dich mal um.
Das tat ich und stellte fest: Hoppla, die vier Erwachsenen waren ins Haus gegangen. Schnell hinterher.

* Wer mehr wissen will über die hohe Kunst des französischen Wangenküsschen: https://www.accentfrancais.com/de/blog/der-brauch-des-bises

 

Gairemanville Plage.

Nachdem uns Frank und Marion ins Haus eingewiesen und alles erklärt und wir alle Taschen und Koffer reingeschleppt hatten, hieß es erst einmal: Einkaufen.
– Morgön ist ier unser Sonntagsmarché, sagte Marion, da findet ihr Gemüsä, Obst, Käsä und vieles mehr.
– Auch Austern?, fragte Papa.
– Des huîtres? Oh oui. Die werden ier gleisch vor die Küstö gezüschtet. Von die Plage könnt ihr die tables à huîtres sehen, mit tausendö huîtres in ihre poches.
– Das sind die Tische, auf denen die Austern wachsen, erläuterte Papa, wir Deutschen nennen das Austernbänke. Die Austern sind dort in schwarzen Säcken gelagert, die aussehen wie große, sehr stabile Netztaschen, die nennen die Franzosen poches, also Taschen. Und im Wechsel von Ebbe und Flut sind die poches mal unter, mal über Wasser. Sind sie über Wasser, kommen die Austernleute und ernten.
– Rischtik, und oft vergessön die ihre poches, und die liegen dann bei Ebbä rum, und irgöndwann verschwinden sie für immör in die Määr.
– Klingt interessant, meinte Mama, wo genau finde ich diese poches?
– Femme, lass uns jetzt mal los die Grundausstattung kaufen, und den Rest dann morgen auf dem Markt. Papa klang leicht beunruhigt, ich verstand nicht, warum. Marion schaltete sich wieder ein:
– Dazü fahrt ihr am bestön in die Intermarché nach Lessay, das sind nür zähn Minüt.
– Gibt es hier einen guten Metzger?, fragte Papa.
Frank nickte:
– Im alten Gairemanville Bourg, im Dorf, da ist eine sehr, sehr gute Metzgerei, die bekommen ihr Fleisch hier aus der Gegend und machen ihre ganzen Produkte, also Würste, Pasteten und so, selbst. Und in Créances ist ein prima Bäcker, der auch ganz ausgezeichnete Konditoreiprodukte anbietet.
Papa strahlte:
– Auf geht’s, Mädels.

Drei Stunden später hatten wir alle wichtigen Vorräte im Haus verstaut. Fürs Abendessen sollte es Hacksteaks und Ofenkartoffeln geben, unser Ankunftsklassiker in jedem Urlaub. Aber jetzt war es noch mitten am Nachmittag, und so beschlossen wir, erst einmal zum Meer zu gehen, das, wie sich herausstellte, am Ende unserer Straße war. Also ganz nah, in Nullkommanix waren wir am Strand. Es war gerade Flut, die Leute badeten und schwammen, Kinder juchzten, wir waren glücklich. Durch den Sand liefen wir bis zur sogenannten Cale, einer Betonrampe, über die die Trecker der Ferienfranzosen mit ihren Bootsanhängern und die Trecker der Austernzüchter mit ihren Lastenhängern runter ans Wasser beziehungsweise hinaus zu ihren Austerntischen fuhren.

Die Flut hatte die halbe Rampe unter Wasser gesetzt, also kletterten wir über die großen Felsen an der Seite hinauf – und liefen oben Frank und Marion in die Arme.
– Habt ihr Lust auf einen Willkommensapéritif im Café?
Papa schaute Mama schaute Karoline schaute Papa an. Dann dreifaches Nicken.
­– Abär vorhär machen wir eine kleine Ortsführüng, sagte Marion, damit ihr schon mal das Wischtigste wisst über Lond und Lötä.
– Aber nicht zu lange zu weit, maulte ich.
– Pas de souci, so groß ist Gairemanville Plage nischt.
– Und außerdem sind wir auch dabei, zwitscherte es in meinem Kopf.
– Hä, wo denn?, dachte ich zurück.
– Wir reiten auf der Elster.
Rätsch, rätsch. Ich sah mich um. Drüben auf der Mauer einer großen, alten und sehr malerischen Ferienvilla saß Finanzamt mit, wenn man ganz genau hinsah, irgendetwas auf dem Rücken. Aber wenn man nicht wusste, dass da was war, sah man auch nicht, dass da was war. Also sah ich vorsichtshalber wieder weg, damit mich niemand fragte, wieso ich da so intensiv hinsah.

Plötzlich ertönte ein ziemlich lauter Vogelschrei. Und dann noch einer und noch einer. Dazwischen das „Rätsch! Rätsch!“ einer ziemlich empörten Elster. Elster? Finanzamt! Ich sah wieder hin. Und mit mir Mama, Papa, Frank und Marion. Und das sahen wir:

Eine riesige weiße Möwe stieß immer wieder auf eine nicht so riesige Elster (d.h. auf Finanzamt) herab, in erkennbar unfreundlicher Absicht. Und jedes Mal prallte die Möwe flügelschlagend und laut schimpfend zurück. Oder prallte sie ab? Aber an was? Dann hatte die Möwe anscheinend genug und flog davon.
– Die Möwen werden auch immer komischer, sagte Frank. Marion nickte.
– Ganz so wie bei uns. meinte Papa.
Ach ja? Hatte ich noch gar nicht bemerkt. Ich musste an diesen gruseligen Film von Alfred Hitchcock denken, „Die Vögel“, den hatte ich vor gar nicht langer Zeit mit Papa gucken dürfen, im Fernsehen, obwohl Mama meinte, das sei noch nichts für mich, weil zu jung. Na, wenn die gewusst hätte, was die Mädels und Jungs aus meiner Klasse so alles streamten.

Nachdem alle noch mal aufs Meer der Möwe hinterher geschaut hatten, begann die Erkundung von Gairemanville Plage unter Führung von Frank und Marion.

Man muss sich Gairemanville Plage als ein in die Dünen hinein und am Meer entlang gesprenkeltes Schachbrett vorstellen – also von oben betrachtet. Viele ruhige, erstaunlich breite, schnurgerade Straßen, rechts und links eskortiert von breiten Rasenstreifen, dazwischen Häuser und Grundstücke. Viele Pinien gibt es auch. Die Häuser sind in der Regel eher klein und höchstens mit erster Etage und/oder Dachgeschoss. Die Grundstücke oft nur Wiese oder Rasen, manchmal auch mit kleinem Gemüsegarten und Obstbäumen. „Terrain“ nennen die Franzosen das. Leider gab es auch ein paar neue, moderne Häuser, „architektonische Geschwüre“ und „Bauhausbunker“ sagte Papa dazu. Mama meinte nur: „Schrecklich!“. Frank und Marion nickten.

Nachdem wir eine Weile kreuz und quer übers Schachbrett gelaufen waren, führten uns Frank und Marion wieder an die kleine Straße direkt an der Düne parallel zum Strand, die den bombastischen Namen Boulevard de l’Océan trug. Nach ein paar hundert Metern blieben sie vor einem Gebäude stehen, das aussah wie ein großes Hotel.
– Hoppla, sagte Papa, sieht ja aus wie das Sanatorium im „Zauberberg“.
Mama verdrehte kurz die Augen, ich verstand nur Zauberberg. Frank hob den Arm und machte eine Art Präsentiergeste:
– Voilà, das ist unser Miraplaya. Gemeindeeigentum. Kein Sanatorium für Lungenkranke, aber dass sich auch hier zuweilen menschliche Schicksale intensiv begegnen, ist nicht auszuschließen.
Ich hätte nie gedacht, dass ich Papa mal so verblüfft würde dreinschauen sehen.
– Fronk, erklärte Marion mit einem kleinen, stolzen Lächeln, war vor seine Pensionierüng Professör für dötsche Literatür an die Üniversité in Caen. Oßerdäm at er zwei Jahrö in Wien stüdiert. Und vorär ist er zehn Jahröö zu die See gefahröön, meine kleine Matrosö. (Immer noch verliebter Blick zu Frank.)
Aha, dachte ich, daher das kernige Aussehen. Kurzer Blick zu Mama: Sie dachte anscheinend dasselbe.
– Und Marion, erklärte Frank nun mit immer noch verliebtem Blick zu Marion, war einst meine beste Studentin und hat später Deutsch am Lycée, Pardon, Gymnasium unterrichtet. Nur von ihrem französischen Akzent mochte sie sich nie ganz trennen. Die Deutschen mögen das, sagt sie immer. Im Unterricht war ihr Deutsch übrigens fast akzentfrei.
– Die Dötschän findön meine Akezäntö ärrlisch, abär noch ärrlischär finde isch die kleine wienärische Akezäntö von Fronk.
Dreimal deutsches, gänzlich unliterarisches, schwer beeindrucktes und zustimmendes Nicken. Jetzt verstanden wir.
– Also, sprach Frank, ich denke, unser Miraplaya hätte euren Thomas Mann auch inspirieren können. Vor allem der Blick aufs Meer. Wie ihr seht (er machte wieder seine Präsentiergeste), hat es eine wunderbare Fensterfront zum Ozean. Im Hochparterre seht ihr diese großen Fenster. Das ist die grande salle, da wird gegessen, gefeiert und sich zu Meetings oder so getroffen. Durch diesen kleinen Dünengarten kann man über die Straße direkt zum Strand gehen, hier, durch dieses Törchen. Die zwei Etagen über dem Hochparterre sind alles Zimmer, auch zur Hofseite hin. Aber die mit Meerblick sind natürlich die begehrtesten. Ganz oben unterm Dach, hinter den Doppelfenstern links und rechts der senkrechten Mittelachse, befinden sich diverse Wirtschaftsräume. Genauso wie (wir waren inzwischen weitergegangen zur rechten Giebelseite) im Souterrain, das, wie man sieht, nur von der Hofseite zugänglich ist. Außerdem seht ihr hier noch diese Baracken, in denen sich Seminarräume befinden. Und für Außenaktivitäten jenseits von Strand und Meer gibt es diesen riesigen Hof mit kleinem Fußballfeld, Basketballfeld, Tischtennisplatten und vielem mehr.
– Und wer nutzt das, fragte Mama.
– Schülklassön, sagte Marion, die kommön aus gonz Fronkreisch, für eine oder zwei Wochen. Vereine auch, alle Organisationön aus die sozialö Bereisch.
– Aber nicht nur die, ergänzte Frank. Das Miraplaya kann man auch für rein private Events wie Hochzeitsfeiern buchen, oder für professionelle Seminarveranstaltungen oder Teambuilding-Wochenenden von Unternehmen.
– Echt flexibel, euer Miraplaya, sagte Papa anerkennend. Und wie ist die finanzielle Situation? Rechnet sich das Ding für die Gemeinde?
– Bis jetzt ja, antwortete Frank, aber leider ist es ein wenig in die Jahre gekommen und muss renoviert werden. Das heißt, es kann dann einige Monate nicht benutzt werden. Und genau da beginnt das Problem.
– Wir wissön nämlisch nischt, fügte Marion hinzu, ob und wie langö es die Miraplaya überopt noch gebön wird.
Drei große deutsche Fragezeichen.
– Das erzählen wir euch am besten im Café, denn jetzt ist wirklich Apéritifzeit.
Mama und Papa schauten sich kurz an, dann sagte Papa:
– Wo Frank Recht hat, hat er Recht. Wir sind schließlich in Frankreich. (Und mit Blick auf mich.) Diabolo Menthe*, Karoline?

* Erfrischendes, herrlich grünes Sommergetränk mit Pfefferminzsirup, Sodawasser und Zitronen- oder Limettensaft. War in den 1970er-Jahren sehr angesagt. Bekommt man in Frankreich aber auch heute noch in fast jeder Bar. Ich liebe es.

Fünf Minuten später saß ich mit Mama, Papa, Frank und Marion auf der Terrasse des „Bac de Sable“, zu Deutsch „Sandkasten“, und genoss meinen erste Diabolo Menthe des Urlaubs, natürlich mit Strohhalm. Die Sonne schien spätnachmittäglich und auf der Straße vor uns mischten sich Sommerfrischler und Einheimische. Nicht zu viele, aber genug zum Gucken. Finanzamt saß mit den kleinen Mönchen auf dem Rücken im Baum eines Gartens gegenüber. Ich wollte gerade wieder in das Gespräch der Erwachsenen reinhören, als ein unglaublicher Lärm die Straße – Rue de la Mer genannt – Richtung Meer runterrollte. Das heißt, es rollte nicht der Lärm, sondern ein sehr alter Trecker, der auf einem uralten Hänger ein uraltes Boot hinter sich her zog. Und das in einem Affenzahn. Am Steuer: ein verwegen blickender Mann, der aussah wie ein Pirat, der aus einem Altersheim ausgebrochen war. Als er an uns vorbei brauste, hörte ich von allen Seiten „Mika. Mika. Mika.“ Aber da war er schon längst die Rampe runter Richtung Meer.
– Was? War? Das? fragte Mama.
– Mikaël Fournot, erklärte Frank, ist einer der letzten Küstenfischer hier in der Gegend. Bisschen bärbeißig und raubeinig. Auch schon etwas älter, aber sehr, sehr fit. Alle nennen ihn Mika. Den Namen gaben ihm die Damen, vor langer Zeit, als sowohl er als auch die Damen noch jung waren. (Schaute Marion da grad etwas nostalgisch?) Manche nannten ihn sogar Haut Fournot.**

** Fournot >> Haut Fournot >> haut fourneau: leicht anzügliches Wortspiel (das Lektorat).

– Fronk, bittö! Jetzt schaute Marion missbilligend. Frank fuhr unbehelligt fort:
– Mika lebt etwas abseits, zwischen Gairemanville Plage und Gairemanville Bourg, dem alten, etwas im Landesinneren gelegenen ursprünglichen Dorf. Da wohnt er…
– Frank, unterbrach in Marion erneut, wir wolltön doch von die Miraplaya berischtön.
– Stimmt. Also, die Sache ist die…

In der folgenden Stunde erzählten Frank und Marion abwechselnd die ganze, selbst für mich ziemlich aufregende Geschichte der Ereignisse rund um das „Sanatorium“. Von den Anfängen vor rund einem halben Jahr bis zum aktuellen Stand der Dinge. Von ihrem Bürgermeister, Jean-Marie Lefatal, französisch „Monsieur le Maire“, und seinen seltsamen Verbindungen zu einem sogenannten Investor aus Deutschland, der das Miraplaya kaufen und abreißen und an seiner Stelle eine megaschicke, megateure Residenz für reiche Leute errichten wollte, inklusive Umbau des jetzt noch recht naturbelassenen Boulevard de l’Océan mit seiner Düne zu einer pompösen Strandpromenade mit Cafés, Bars, Restaurants und schicken Boutiquen. „Miraplaya 3000“ hieß die Firma des Investors, und so sollte auch die zukünftige Residenz heißen. Den Namen des Investors selbst wussten Frank und Marion auch: ein gewisser Gierski. Bei diesem Namen guckte Papa plötzlich ganz komisch, schüttelte dann wie für sich selbst den Kopf und hörte weiter zu. Die ganze Sache diente laut Bürgermeister Lefatal natürlich ausschließlich dem Wohlstand und Wohlergehen von Gairemanville und seinen Bewohnern. „Mon oeil“, meinte Frank, was, wie ich später erfuhr, so viel heißt wie „geschissen“.
Als es dann so richtig in die Details ging, wurde es mir doch zu viel und ich klinkte mich geistig aus. Es gab ja auch genug auf der Straße vor uns zu sehen. Und außerdem spendierte mir Papa noch einen zweiten Diabolo Menthe.

Eine Stunde später waren alle Gläser leer und meine Eltern auf dem neuesten Stand in Sachen Miraplaya. Die „Dorfstraße“ hatte sich inzwischen auch ziemlich geleert.
– Ich muss jetzt echt in die Küche, sagte Papa. Mama und ich nickten heftig zustimmend, Frank und Marion verständnisvoll. Vor unserem Ferienhaus verabschiedeten wir uns voneinander. Frank und Marion gingen in ihr Haus, das ja schräg gegenüber lag. Papa machte sich in der Küche an die Vorbereitung des ersten Ferien-Menüs, wie er sagte. Mama ging Betten beziehen. Und ich verzog mich in den Garten hinterm Haus, aufs „terrain“. Dort wartete, auf dem blauen Plastikgartentisch sitzend, schon Finanzamt auf mich. Der winzige Rucksack war verschwunden.
– Die Jungs harren deiner im Gartenhaus, los komm.
Gartenhaus? Ich hatte das Ding schon vom Fenster meines Zimmers aus gesehen. War eher Gartenbude. Bevor es rein ging, blieb ich kurz stehen:
– Sag mal, Finanzamt, was war das eigentlich für eine Nummer mit der fetten Möwe? Das sah aus, als wäre die volles Produkt gegen eine unsichtbare Wand geknallt.
– Schutzschirm der kleinen Mönche. Und nun frag nicht weiter.
Na dann. Also rein in die Bude. Was für ein Gekörmel! Alter Werkeltisch, wackelige Regale, Liegen, Strandspielzeug und Sportgeräte in morbidem Zustand. Dazu zwei groteske Metallgestelle, die sich bei genauerem Hinsehen als halb verrostete Fahrräder entpuppten. Und hier hatten sich die kleinen Mönche für vier Wochen niedergelassen?
– Ja sicher, werte Karoline, erklang die Stimme von Alhasa in meinem Kopf, es ist doch recht gemütlich hier.
Ich sah genauer hin: Da saßen sie nebeneinander am Rand eines Regals und ließen die Beine baumeln. Mensch-ärgere-dich-nicht-Nüppi-klein, wie damals in jener Nacht unserer ersten Begegnung. Es gab dann, wie immer, die kleine Glitzerglockennummer, und schon saß ich genauso klein mitten unter ihnen.
– Und wo genau wohnt ihr hier in diesem Chaos?
– Tss. Tss. Tss. Karoline, du weißt doch, dass du nicht alles wissen musst.
– Was du allerdings wissen solltest (das war jetzt Elhasa, der „Außenbeauftragte“ des Klosters), ist, was sich rund um das Miraplaya ereignet hat, ereignet und womöglich ereignen wird. Denn es kann durchaus sein, dass wir, also du und wir, in gewisser Weise involviert werden könnten.
– Inwollwas?
– Involviert sein heißt, dass man an etwas beteiligt, in etwas verwickelt ist. (Danke, Ilhasa.)
Ich wurde stutzig:
– So wie bei der Geschichte mit dem Bachwäldchen etwa?
– Das werden wir noch sehen, werte Karoline, sprach Alhasa, jetzt berichte ich dir erst einmal, was Frank und Marion heute Nachmittag auf der Caféterrasse erzählt haben, während du über deinen Diabolo Menthe hinweg die Straße beträumt hast.
– Das habt ihr alles gehört? Vom Baum aus? Habt ihr so was wie Fernmikrofone oder wie die Dinger heißen?
Leises Gelächter. Okay, ich verstand: keine weiteren Fragen. Stattdessen sah ich noch mal genauer hin:
– Wo ist eigentlich Olhasa?
– Na wo schon? Der schaut deinem Vater beim Kochen zu. Und nun lausche bitte aufmerksam, liebe Karoline.
Und Alhasa, der weise Abt, berichtete.

 

Schlechte Aussichten fürs Miraplaya.

Und also sprach Alhasa:
– Liebe Karoline, ich erzähle dir jetzt die ganze Geschichte, also auch das, was du vielleicht im Café schon mitbekommen hast.
– Kein Ding, sagte ich, so viel war das nicht.
–Seit letztem Sommer, fuhr Alhasa fort, weiß die Gemeinde Gairemanville, dass das Miraplaya in Teilen gründlich renoviert werden muss. Fenster neu, Heizung, Leitungen für Elektrik, Wasser und so weiter. Ein Gutachten hat ergeben, dass diese Arbeiten spätestens im übernächsten Sommer durchgeführt werden müssen, um die Funktionalität nachhaltig zu gewährleisten.
– Das heißt, unterbrach ich, diesen Sommer kann das Miraplaya noch benutzt werden?
Alhasa nickte:
– Wird es auch. Habt ihr heute Nachmittag nur nicht so mitbekommen, weil die alle am Strand oder unterwegs waren. Aber im Moment sind drei Schulklassen da. Wo war ich? Ah ja, die Funktionalität und die damit verbundene weitere Wirtschaftlichkeit. Das Ergebnis des Gutachtens ist eindeutig: Einmal vernünftig renoviert, rechnet sich das Miraplaya auch in Zukunft und trägt so weiterhin positiv spürbar zu den Einkünften der Gemeinde bei.
– Und wo ist jetzt das Problem?
– Das Problem, meine ungeduldige Freundin, das Problem hat zwei Namen: Lefatal und Gierski. Jean-Marie Lefatal ist seit fünf Jahren Bürgermeister von Gairemanville Bourg und Plage. Er ist eitel, skrupellos, großkotzig und auf eine besondere Art und Weise feige. Ein genialer Populist und Selbstdarsteller, immer unterwegs in eigener Sache. Und: Er ist Finanzspekulant mit Hang zu riskanten Geschäften. Außerdem will er demnächst wiedergewählt werden und braucht dazu Erfolge. Aus irgendeinem Grund, den wir nicht kennen, also noch nicht kennen, zeigt er kein Interesse am Erhalt des Miraplaya. Im Gegenteil: Er will es verkaufen und verspricht der Gemeinde einen wahren Geldregen. Vor allem aber verspricht er sich dadurch eine sichere Wiederwahl zum Bürgermeister.
– Und an wen will er verkaufen?
– An Problem Nummer Zwei. Dabei handelt es sich um einen Investor namens Anselm Gierski und sein Projekt einer Residenz für wohlhabende Pensionäre, mit dem ziemlich phantasielosen Namen „Miraplaya 3000“.
– Ja, das haben Frank und Marion auch erzählt im Café. Und dass dieser Investor wohl Deutscher sei.
– Richtig. Gierski ist Deutscher. Für mehr Informationen fragst du bitte deinen werten Vater. Der kann dir einiges erzählen.
– Papa? Der hat auch mal kurz ganz komisch geguckt, als der Name fiel.
– Eben. Und nun mach dich hurtig davon, deine Eltern denken gerade, dass sie dich rufen wollen, weil das Essen fertig ist.
Bevor ich darüber grübeln konnte, woher Alhasa nun das schon wieder wusste, sah ich, dass Olhasa aufgetaucht war. Und da hörte ich auch schon Mama „Kihiiiiind!“ rufen.
– Komm nach dem Essen noch mal kurz rüber, liebe Freundin, rief ein fünfstimmiger Chor, wir müssen dir noch was erklären.

Papas „Menu des Vacances Numéro Un“ (Hacksteaks mit Ofenkartoffeln, davor Palmherzen in Vinaigrette, danach Käse und zum Schluss lecker Kuchen) war wie erwartet und trotz seiner, wie Papa sagte, Schlichtheit, ganz vorzüglich. Anschließend setzten sich meine Eltern zum Chillen auf die vordere Terrasse, tranken einen Kaffee und sahen, soweit nicht durch die Hecke behindert, den Leuten zu, wie sie auf der Straße entweder zum Strand gingen oder vom Strand kamen. Die Sonne würde jetzt im Hochsommer ja erst sehr spät untergehen.
– Ich schau noch mal nach Finanzamt.
Mit diesen Worten verkrümelte ich mich ins Gartenhäuschen. Wie erwartet wurde ich schon erwartet. Auch Finanzamt war da. Die Tür ließ sich übrigens nicht ganz schließen, so dass eine Elster leicht hineinschlüpfen konnte.
– Und, hat’s geschmeckt?, fragte Finanzamt.
– Joaa, nicht schlecht, meinte ich.
– Karoline, etwas mehr Respekt, bitte, erklang vorwurfsvoll Olhasas Stimme, dein Vater kocht wirklich sehr, sehr gut.
– Ja, ja, weiß ich doch. Aber ihr habt mich doch nicht deshalb noch mal kommen lassen.
– Nein, werte junge Freundin, sprach Alhasa, wir möchten dir gern noch für die nächsten Tage ein, wie nennt das dein ehrwürdiger Vater noch mal, ach ja, ein Briefing geben.
– Ähä…?
– Also, sprach der Abt, es wird so sein: In der nächsten Woche machen du und deine Eltern erst mal richtig schön Urlaub, ohne an irgendetwas Anderes zu denken. Das geht schon morgen los mit einem Marktbesuch hier in Gairemanville und danach Strand und Meer. Während ihr also urlaubt, werden sich Ulhasa und Elhasa im Ort und in seiner Umgebung und Olhasa in den Küchen umtun, Augen und Ohren weit geöffnet, und auch alle anderen Sinne werden zum Einsatz kommen. Danach, denke ich, werden wir umfassend informiert sein über die Hinter-, Vorder- und sonstigen Gründe für die hiesigen Ereignisse und Emotionen. Dann werden wir in Ruhe meditieren, und dann melden wir uns wieder bei dir. Und jetzt, liebe Karoline, solltest du mit deinen Eltern zum Strand gehen, um euren ersten Sonnenuntergang dieses Urlaubes zu begrüßen. Gleich rufen sie nach dir.

Fünf Minuten später marschierte ich mit meinen Eltern die Straße runter zum Strand. Mann, war das schön in Gairemanville. An der Ecke, wo „unsere“ Straße auf den Boulevard de l’Océan traf, warf ich einen kurzen Blick aufs Miraplaya. Viele Fenster erleuchtet, Fußball im Hof, junge Menschen diesseits und jenseits der Straße, vor dem Haus, bei den Bänken auf der Düne entlang dem Boulevard. Oben auf der kleinen Düne verharrten wir erst mal. Die Flut vom Nachmittag war zur Ebbe geworden, aber noch nicht komplett, und das Meer war ruhig. Weit ging der Blick hinaus, bis hinüber nach Jersey. Von dort blinkten lockend ein paar englische Lichter. Dann… Moment, ich glaube, hier muss ich kurz was erklären:

Zu England bzw. Großbritannien gehören ein paar größere und kleinere Inseln, die der Westküste des Cotentin vorgelagert sind. Also wo wir drauf gucken konnten vom Strand aus. Die, die uns am nächsten lag, heißt Jersey. Weiß ich alles von Papa. Die Namen der anderen Inseln hab ich vergessen. Und das Meer heißt da auch nicht Atlantik, obwohl es der Atlantik ist, sondern Ärmelkanal. Die Franzosen sagen nur „manche“ dazu, das heißt Ärmel. Papa sagt, Kanäle hätten die Franzosen genug. Na dann…

Ja, dann liefen wir die Treppe runter zum Strand. Auf dem nun doch schon beachtlich breiten Sandstreifen spazierten wir Richtung Cale. Dort angekommen gingen wir nun ganz bequem die Rampe hinauf und dann oben auf der Düne wieder zurück. Dabei nahm ich mir vor, mir vom allwissenden Ilhasa diese ganze Ebbe-Flut-Sache mal gründlich erklären zu lassen. Als wir an der Ecke ankamen, an der es von der Düne weg Richtung Ferienhaus ging, sagte Mama:
– Es ist gerade so schön Ebbe. Da geh ich doch mal nach diesen poches gucken, die da so rumliegen sollen. Ich hab da nämlich so eine Ahnung, dass ich aus den Dingern was machen kann.
Papa warf mir einen vielsagenden Blick zu. Ich verstand. Wenn Mama denkt, dass sie „was machen kann“ mit irgendwas, das andere Leute nur einfach wegschmeißen würden, dann macht sie meistens auch was draus. Und meistens was Gutes.
– Okay, meinte Papa, Karoline und ich gehen dann schon mal nach Hause.
Im Ferienhaus angekommen, fiel ich todmüde ins Bett und schlief mit viel Vorfreude auf Markt und Strand und Meer sehr schnell ein.

 

Skandal auf dem Markt.

Am nächsten Morgen wurde ich entsprechend spät wach, genauer gesagt, als Mama mich sanft rüttelte:
– Tochter, möchtest du mit zum Markt? Dann musst du jetzt aufstehen.
Ich sah kurz aus dem Fenster in den Garten. Drei schwarze, leere Austernsäcke lagen da. Aha, dachte ich, es hat angefangen. Dann ging ich duschen.

Als ich in die Küche kam, saß Papa schon marktfertig am Tisch und schrieb an seiner Einkaufsliste. Papa schreibt im Urlaub (und auch zu Hause) permanent an zwei Listen: der Einkaufsliste und der Kochliste. Beide haben natürlich miteinander zu tun. Letztere wird, besonders im Urlaub, kontinuierlich geändert. „Optimiert“, meint Papa.

Ein schnelles Frühstück später bogen wir drei am Parkplatz bei der Lebensretterstation neben der Cale um die Ecke und blieben erst mal stehen: Fast die gesamte Rue de la Mer, die vom Strand durch den Ort bis an dessen Eingang führte, war gesperrt. Statt Autos jede Menge Marktstände. Obst, Gemüse, Fisch, Austern, Meeresfrüchte, Käse, Würste – alles in schöner Vielfalt. Und alles sah so lecker aus. Vor allem auch das Grillgut, die Pommes Frites, die Paella und die Crêpes an den verschiedenen Fressständen. Dann gab es noch Stände mit Kleidung, mit Schuhen und allem möglichen anderem Klamottenzeugs, und welche mit allem möglichen Touristenzeugs. Und schließlich noch ein paar alte Leute, so opa-omi-mäßig, die auf ganz winzigen Ständen ihre eigenen Erzeugnisse darboten: Honig, Eier, Hühner, Marmeladen, Säfte und so. Manchmal alles auch durcheinander. Ich wusste gar nicht, wohin ich zuerst schauen sollte.
– Schau mal, Karoline, da ist ja Marion, sagte Mama.
Tatsächlich, nur ein paar Meter entfernt, saß unsere Marion an einem kleinen Campingtisch, der unter Kartoffeln, Tomaten, Zucchini, Salaten und anderem Gemüse fast zusammenbrach.
– Salut, Marion, rief ich, ganz stolz auf mein Französisch. Aber Marion antwortete nicht. Marion guckte noch nicht einmal. Marion schaute in die entgegengesetzte Richtung. Weiter hinten auf der Marktstraße hatte sich eine Menschentraube gebildet, die ständig größer wurde. Man hörte lautes Rufen, Schreien, Schimpfen.
– Wassen da los?, fragend sah ich meine Eltern an. Gleichzeitiges elterliches Schulterzucken – keine Ahnung, Kind.
– Jschiärrskiii. Marion guckte unfassbar böse. Ihre Lippen und Hände zitterten richtig. Eine Manif für die Miraplaya. Und, sie wurde richtig laut, gegön Jschiärrskiii!
– Klingt interessant, meinte Papa.
– Ist es aber nicht, antwortete Mama.
Das war ein Running Gag meiner Eltern aus einem Lied von Herbert Grönemeyer und den Fantastischen Vier. Leider hatten (und haben) sie nicht nur den einen.
– Am besten, wir schauen uns die ganze Sache mal näher an, beschloss Papa, ich bin jetzt wirklich richtig neugierig auf Jschiärrskiii.
Also schauten wir uns die ganze Sache mal näher an. Und das sahen und hörten wir:

Erstens einen kleinen Tisch, einen Sonnenschirm und ein Gestell mit einem Plakat. Auf dem Plakat war ein Foto des Miraplaya und darauf in riesigen Großbuchstaben: SOS MIRAPLAYA. Darunter dann in etwas kleiner und etwas wild platziert in Französisch und Englisch: SAUVONS LE MIRAPLAYA! TOUS ENSEMBLE POUR PROTÉGER NOTRE PATRIMOINE! GAIREMANVILLE EST À NOUS! SAVE THE MIRAPLAYA! NO SPECULATION IN GAIREMANVILLE! FCK INVESTORS! Auf dem Tisch lagen haufenweise Flugblätter. Ich konnte so gerade erkennen, dass auf ihnen neben den Sätzen vom Plakat noch jede Menge weiterer Sätze standen. Die meisten mit Ausrufezeichen.
Zweitens ein paar junge Leute, die rund um den Tisch standen und alle ein T-Shirt trugen mit der Aufschrift SOS MIRAPLAYA. Sie verteilten Flugblätter und diskutierten mit den Frauen und Männern, die um sie herum standen.
Drittens ein echt hübsche junge Frau in Bluejeans und weißem Aktions-T-Shirt, die sehr aufgeregt und heftig gestikulierend mit einem älteren Mann in Anzug und Krawatte schimpfte, der seinerseits sehr aufgeregt und heftig gestikulierend mit der echt hübschen jungen Frau schimpfte. Was sie sprachen, verstand ich nicht. Viel zu viel viel zu schnelles Französisch. Daneben stand ein zweiter Mann in typischer Touristenkluft und sah und hörte scheinbar interessiert zu: mittelgroß, Basecap, riesige Sonnenbrille, die ein feistes, ziemlich knallrotes Gesicht nur halb verbarg, T-Shirt mit irgendeinem Schwachsinnsaufdruck, das über dem Wohlstandsbäuchlein spannte, Shorts, weiße Beine, Sandalen. Über der feisten Brust baumelte ein pechschwarzes Mobiltelefon Marke SuperWichtIch. Aber was mir echt den Atem verschlug: Der Typ trug quietsche-entchen-gelbe Söckchen mit Smileys drauf in seinen verdächtig homöopathischen Sandalen! Quietsche-entchen-gelbe Söckchen!
Dann nahm er blöd grinsend die Sonnenbrille ab.
– Ich fasse es nicht. Dieses Arschloch kenne ich! Ich drehte mich um. Papa starrte gebannt auf die Touritype. Was zum Teufel treibt Anselm Gierski hier?, fragte er mich. Als wenn ich das wüsste. Mein Blick fiel auf ein Schild, das einer der jungen Leute vom Stand in genau diesem Moment hoch hielt. „Gierski go home!“ stand da drauf.
– Besonders beliebt ist er jedenfalls nicht. Ich zeigte auf das Schild. Und woher kennst du den, Papa?
– Erzähl ich dir später, jetzt lass mal sehen, was da abgeht.
– Da streiten sich zwei, als wären sie Vater und Tochter. Mama hatte für Familienzwiste echt einen Blick. Und sie hatte wohl Recht.
Der ältere Mann, sehr gepflegt in Anzug und Krawatte, mit kleinem französischen Fähnchen am Revers, und die echt hübsche junge Frau warfen sich bei ihrem Miteinanderschimpfen immer mal wieder die Worte „fille“, „père“ und „maire“ an den Kopf. Das verstand sogar ich. Den Rest würde ich mir später von Papa erzählen lassen. Inzwischen eskalierte der Streit zwischen Vater und Tochter. Und wenn ich „maire“ richtig deutete, schließlich las man ja in jedem Kaff den Schriftzug „Mairie“ auf irgendeinem mehr oder weniger repräsentativen Gebäude, dann war der „père“ wohl auch der „maire“. Und dann wohl der von Gairemanville. Der mit den blöden Plänen fürs Miraplaya. Der mit diesem Gierski unter einer Decke steckte. Und der hatte gerade ein richtig fettes Problem mit seiner Tochter. Weil die da am Proteststand war mit den anderen jungen Leuten und gegen… Oha, so langsam erkannte ich die Zusammenhänge.

Eine plötzliche Veränderung riss mich aus meinen Gedanken. Ein älterer Mann – wettergegerbtes, sonnengebräuntes Gesicht, grauer Dreitagebart, graue kurze Haare, kompakte muskulöse Figur in blauem Fischer-Overall, hohe Fischergummistiefel – war aufgetaucht, schnappte sich das Mädchen und zog es sanft aber bestimmt weg, also raus aus dem Streit, während er gleichzeitig beruhigend auf es einsprach. Dasselbe machte der Tourityp mit dem Père-Maire, dem Bürgermeistervater. Die beiden Streithähne wurden in verschiedene Richtungen von ihren jeweiligen Begleitern hinweg geführt. Die Menge verlief sich. Die jungen Leute am Stand ordneten ihre Flugblätter, die der Wind etwas auseinander geweht hatte und fingen dann wieder an, sie mit einem Lächeln an die vorbei kommenden Menschen zu verteilen. Die meisten nahmen eins. Wir auch. Papa gab uns eine schnelle Übersetzung der fett gedruckten Sätze:
– Gegen die Pläne des Bürgermeisters. Gegen Investoren. Gegen die Vernichtung des Miraplaya. Keine Spekulation in Gairemanville. Das Miraplaya muss leben. Wir fordern eine Lösung zum Nutzen aller Menschen in Gairemanville.
– Okay, sagte Mama, das haben uns Frank und Marion ja schon alles erzählt. Aber was wäre denn die Lösung?
Papa zuckte mit den Schultern:
– Keine Ahnung. Dazu steht hier nichts. (Er faltete das Flugblatt und steckte es in die Hosentasche.) Wisst ihr was? Meinetwegen können die Franzosen hier so viele Probleme haben wie sie wollen – wir haben Urlaub. So! Und deshalb genießen wir jetzt den Markt.
Na, dachte ich, wenn du dich da mal nicht täuschst. Als wir zu Marion an ihr Ständchen zurückkehrten, schüttelte sie mit einem ungläubigen Lächeln den Kopf.
– Mika mischt sisch ein, das at er noch nie gemacht, sagte sie.
– Und warum macht er das gerade jetzt?
Marion hob die Schultern:
– Qui sait? Wer weiß? (Dann wieder wütend werdend.) Abt ihr die Arschelok Jschiärrskiii gäsähön? Jetzt wisst ihr, wie die Feind aussieht. (Dann wieder lächelnd.) Aber jetzt macht erst mal ööre Einkeuf. Isch abe ganz frische Salade. Und sähr köstlische Paradeisör.
– Hallo Wien, unterbrach sie Papa lachend. Marion lachte auch:
– Das ist die Inflüanz von Fronk, der sagt immör Paradeisör zu Tomat. Und schaut hier: süper schöne haricots verts, grüne Bohnän.
– Aaaaaah, Bohnen! Das war Mama.
– Ich geh mal zu den Austern! Das war Papa.
Ich seufzte. Das waren meine Eltern…

 

Der Überraschungsvater.

Schwer bepackt marschierten Mutter, Vater, Kind gegen Mittag vom Markt zurück zum Ferienhaus. Zum Glück war es ja nicht weit. Weil Mama „Meer sehen“ wollte, nahmen wir die Strecke über den Boulevard de l’Océan, der an der kleinen Düne entlang parallel zum Strand verläuft. Übrigens nicht zu verwechseln mit der Rue de la Mer, der „Hauptstraße“ von Gairemanville Plage. Die führt vom Ortseingang schnurstracks zum Strand.
– Papa, woher kennst du diesen wie heißt er noch? Gierig?
Mein Vater lachte:
– Gierski heißt der, aber Gierig ist viel passender.
– Ach ja, fügte ich hinzu, und wenn du schon mal dabei bist, kannst du mir bitte auch das mit der Ebbe und der Flut hier erklären, warum das Meer manchmal ganz nah an der Düne hier ist und manchmal total weit weg. Du hast uns doch schon so schön das mit dem Kanal und den Inseln erzählt.
– Gut, dann setzen wir beide uns jetzt mal dort auf die Bank auf der Düne. Mama geht derweil schon mal weiter zum Haus mit den Sachen, die in den Kühlschrank müssen. Wir kommen gleich nach mit dem Rest der Einkäufe. Okay, Frau?
Mama seufzte und nickte und murmelte irgendwas von „Bin mal gespannt, wie lange das wieder dauert bis ihr da seid“ und machte sich dann mit ganz klar leichterem Gepäck wieder auf den Weg.
Vater und Tochter nahmen derweil auf der Dünenbank Platz.
– Also, sprach Papa, Gierski. Anselm Gierski ist ein sogenannter Investor. Ich nenne ihn lieber einen Spekulanten. Rücksichtslos und gerissen. In unserer alten Heimatstadt hat er vor gar nicht langer Zeit einen Immobilienskandal ausgelöst, als er versuchte, ein denkmalgeschütztes altes Schulgebäude, das er günstig von der Stadt erworben hatte mit dem Versprechen, es pfleglich umzuwidmen in eine Privatschule, abzureißen, um auf dem Grundstück teure Eigentumswohnungen zu errichten. Dazu hatte er dafür gesorgt, dass sämtliche Unterlagen, die den Denkmalschutz garantierten, urplötzlich nicht mehr aufzufinden waren. Nachdem ein subalterner städtischer Angestellter in einer übel beleumundeten Kneipe in der Nähe des Hauptbahnhofs sturzbetrunken und wichtigtuerisch ein bisschen zu laut zu viel erzählt hatte, flog das Ganze auf– und Anselm Gierski verließ über Nacht Hals über Kopf die Stadt. Der subalterne städtische Angestellte flog übrigens hinterher. Der Stadtverwaltung war das Ganze dermaßen peinlich – die halbe Stadt lachte, die andere Hälfte schimpfte –, dass sie auf eine strafrechtliche Verfolgung verzichtete. Glück gehabt, das Arschloch. Und anscheinend hat sich Anselm Gierski anschließend neuen Herausforderungen zugewandt. Am besten ganz weit weg, hat er sich wohl gesagt, irgendwo, wo mich keiner kennt. Wie er konkret auf Gairemanville gekommen ist und diesen Plan fürs Miraplaya entwickelt hat, weiß ich allerdings nicht. Reicht das als Information?
Ich nickte. Das reichte. Aber mein Wissensdurst war noch nicht vollständig gelöscht:
– Und was ist jetzt mit Ebbe und Flut?
– Ach, hat dir das Ilhasa noch nicht erklärt?
Rumms! Es tat einen Knall in meinem Kopf. Was hatte Papa da gesagt? Hatte ich überhaupt richtig gehört? Das konnte doch gar nicht sein! Meine Eltern hatten die Existenz der kleinen Mönche vergessen, dafür hatten die Jungs selbst gesorgt. Die konnten solche Erinnerungen in den Leuten ein- und ausschalten. Hatten sie Papas Erinnerungen wieder aktiviert? Wenn ja, wozu? Und wie sollte ich jetzt reagieren? Ich beschloss, es erst einmal zu ignorieren.
– Papa, bitte.
Mein Vater tat so, als sei gar nichts passiert und hob an:
– Jeden Tag ändert sich hier wie an der gesamten französischen Atlantikküste der Meeresspiegel aufgrund des universellen Phänomens der Gezeiten. Je nachdem, wo der Mond und die Sonne in Bezug zur Erde stehen, sind die Gezeiten stärker oder schwächer. Bei Vollmond ist es besonders heftig, da entsteht das Phänomen der großen Gezeiten, die man in Frankreich Grandes Marées nennt. Von großen Gezeiten spricht man, wenn der Koeffizient über 90 liegt.
Papa sah das Fragezeichen in meinem Gesicht.
– Nein, was ein Koeffizient ist, weiß ich grad nicht. Also weiter. Während der großen Gezeiten kann der Tidenhub, das ist der Höhenunterschied zwischen Ebbe und Flut, in der Bucht vom Mont-Saint-Michel zum Beispiel bis zu 13 Meter betragen! Dies ist der höchste Tidenhub in Europa. Du musst dir vorstellen, du stehst bei tiefster Ebbe da draußen auf dem wasserfreien Meeresgrund, und ein paar Stunden später ist die Wasseroberfläche mehrere Meter über dir. Pass also immer gut auf bei Ebbe, dass dich das Wasser nicht überrascht. Übrigens sind auch hier in Gairemanville die Grandes Marées ein sehr beeindruckendes Naturschauspiel. Wir schauen nachher mal in den Gezeitenkalender, den ich in der Touristeninfo abgegriffen habe, wann es die nächste Grande Marée gibt. So, reicht das als Information?
Ich nickte.*
– Dann lass uns heimwärts ziehn, ma fille.
Papa erhob sich, packte seine zwei Einkaufskörbe und deutete mit dem Kinn auf den dritten, kleinsten:
– Der ist für dich.
Die verbleibenden paar hundert Meter bis zum Ferienhaus herrschte Stille zwischen uns – auch als wir am Miraplaya vorbei kamen. War mir ganz recht, so konnte ich in Ruhe über diese Überraschung grübeln, die mir mein Vater bereitet hatte: „Hat dir das Ilhasa noch nicht erklärt?“

Die kleinen Mönche konnten sich jedenfalls auf was gefasst machen, wenn sie von ihrem Meditieren zurück sein würden.

*Anmerkung für Digital Natives: Natürlich hätte ich das alles auch im Internet recherchieren können, schließlich hatten wir alle ein Smartphone und Mama zusätzlich ihren Laptop dabei. (Das Ferienhaus hatte WLAN, auf Französisch WIFI. Mama sagte immer „WIFI muss mit.“) Und Papas Erklärungen waren meist auch nicht so ausführlich, aber dafür konnte ich sie gut verstehen, und außerdem waren sie irgendwie unterhaltsamer, so dass ich mir das alles auch viel besser merken konnte. Vielleicht kommen auch deshalb Smartphones in meinen Geschichten mit den kleinen Mönchen so relativ selten vor. Meine Eltern waren zwar einerseits, allein schon beruflich bedingt, gut digitalisiert (und ich seit ich zwölf bin zunehmend auch), aber sie waren andererseits auch auf eine gewisse entspannt-altmodische Weise analog (und ob ihr’s nun glaubt oder nicht: ich auch, wobei, nun ja…). Jedenfalls: Mit den „Wischköpfen“, wie Papa gern sagte, hatten wir alle drei nichts am Hut. Die kleinen Mönche sahen das übrigens ähnlich. Meister Alhasa sagte mal: „Mit dem Internet ist es wie mit dem Buchdruck. Bei beiden gibt es gute und schlechte Erzeugnisse. Und wie bei den Büchern haben auch im Internet viele Menschen noch nicht die Fähigkeit erworben, Qualität und Mist auseinander zu halten. Was im Internet schlimmere Folgen nach sich zieht als in der Buchhandlung.“ Papa formulierte es drastischer: „Das Smartphone ist die schlimmste Droge unserer Zeit. Und die Dealer sind börsennotiert.“

Urlaub, nichts als Urlaub.

Die folgende erste Woche unseres Urlaubs wurde dann, allen Markterlebnissen zum Trotz, genau so, wie Alhasa es vorausgesagt hatte: Urlaub und nichts als Urlaub. Kein Miraplaya, keine Krise, keine Proteste. Stattdessen „eroberten“ wir, wie Mama sagte, die „Welt“.

Zuerst fuhren wir die Küste entlang nach Süden. Pirou bzw. Pirou Plage mit seinem Meeresschwimmbad unter freiem Himmel am Strand und seinen vielen alten, gut gekleideten Menschen, die alle topfit aussahen und anscheinend auch nicht arm waren. Pirou Plage ist auch so ein Schachbrettort wie Gairemanville Plage, nur, wie Mama es ausdrückte, einen Tucken feiner. Zweimal die Woche war Markt. Und natürlich besitzt auch Pirou Plage sein Pirou Bourg, wie fast alle Plages in der Gegend. Apropos: Diverse Plages ziehen sich die ganze Küste entlang nach Süden. Und zwar sowohl Ferienorte als auch Strände.
Richtig chic, Papa sagte „mondän-bourgeois“, ist Agon-Coutainville. Ganz lange Promenade mit vielen schönen, alten Häusern, vielen Geschäften, Cafés und Restaurants, sehr vielen Touristen und Sommerfrischlern, und dahinter, also vom Strand aus gesehen, ein einziges, riesiges Villenviertel. Jedenfalls kam es mir so vor.
Noch ein Stück südlicher liegt, ein bisschen im Landesinnern, Coutances. Das ist schon eine richtige kleine Stadt.
Wenn wir gewollt hätten, hätten wir die ganze Küste Richtung Süden weiter fahren können, vorbei an mondänen und weniger mondänen Städtchen und „stations balnéaires“. Bis zum Mont-Saint-Michel. Das ist eine Art Klosterburg mitten im Meer. Bei Ebbe kann man hin, bei Flut kommt man nicht mehr zurück. Die Klosterburg wird das ganze Jahr über von Touristen belagert. Ich hab das mal gegoogelt: Laut Wikipedia wird der Ort „jährlich von etwa 2,3 Millionen Menschen besucht“. Wir haben dankend verzichtet.

Einen anderen Tag ging es die Küste hinauf nach Norden. Auch dort immer wieder die Kombination aus Bourg und Plage und einem Namen davor. Die Orte mal mit vielen, mal mit weniger französischen Sommerfrischlern (schönes altes Wort, das) und Touristen. Barneville-Carteret ist ein bisschen wie Agon-Coutainville, aber mit mehr Remmidemmi. Und einem schönen Leuchtturm auf einer sensationellen Klippe. Von dort oben gibt es einen wirklich atemberaubenden Blick aufs Meer und auf einen endlosen, nach Norden verlaufenden Strand. Dahinter dräuen ein Atomkraftwerk und eine riesige Wiederaufbereitungsanlage.
– Tja, sagte Papa, so ist Frankreich leider auch.
– Mann, grätschte Mama vorsichtshalber dazwischen, werd jetzt nicht wieder apokalyptisch, wir haben Ferien.
Genau, dachte ich, wir haben Ferien und denken an nichts anderes. Na, wenn ich mich da mal nicht täuschte…

Natürlich erkundeten wir auch die Gegend direkt um Gairemanville. Zuerst natürlich Gairemanville Bourg. Da entdeckten wir diese total süße, kleine Metzgerei – die Empfehlung von Frank und Marion – mit einer supernetten Metzgersfrau, die beim Bedienen immer, wenn sie etwas eingepackt hatte, „Et avec ceci?“ („Und sonst noch was?“) fragte, mit einer etwas hohen, leicht piepsigen Stimme. Wir haben sie gleich nach dem ersten Einkauf Avec-Ceci getauft. Des weiteren sind da die Orte Créances (mega leckere Bäckerei-Konditorei, genau wie Frank und Marion gesagt hatten), Lessay (zwei Supermärkte, eine Camembert-Käserei), La Haye (drei Supermärkte, ein großer Wochenmarkt, viele Geschäfte, sogar eine Buchhandlung).
Auf der anderen, östlichen Seite der großen Halbinsel Cotentin gibt es vor allem die berühmten sogenannten Landungsstrände, wo 1944 die Soldaten aus Amerika, England, Kanada und so ankamen, um Europa von den Nazis zu befreien. Viele Soldatenfriedhöfe, und an manchem Ortseingang wird man von einem alten Panzer empfangen. Der steht dann da so rum. Es gibt dort jede Menge kleiner und großer Orte, aber die habe ich mir nun wirklich nicht alle merken können. In einer Stadt gibt es einen riesigen, uralten Teppich, der an der Wand hängt, und ganz viele Leute kommen da hin, um sich den anzusehen. Wir zum Glück nicht.

So kullerten die Tage unserer ersten Urlaubswoche dahin. Unaufgeregt, entspannt, mit viel Entdeckerfreude und zunehmend Strandsand im Auto. Vor allem hinten, wo ich saß. Apropos zunehmend: Auch der Haufen Austernsäcke hinterm Ferienhaus wuchs – auch unter den fragenden Blicken von Frank und Marion. Von den kleinen Mönchen keine Spur, auch nicht von Finanzamt. Meine Eltern meinten schon, die Elster habe sich selbst in Frankreich ausgewildert. Doch dann, am zweiten Urlaubssonntag, saß Finanzamt schon sehr früh vor meinem Fenster zum Terrain und schnäbelte vorsichtig, aber hörbar gegen die Scheibe. Ich öffnete.

 

(Fortsetzung folgt August 2025.)

(Anmerkung des Systemadministrators: Sehr, sehr geiler Cliffhanger.)