Ich habe so oft erlebt, dass Menschen,

die von Natur nicht schlecht, Verbrecher wurden;

so wirkt das Unglück oder auch der Zwang.

(Menander, 342/341 – 291/290 v.u.Z., griechischer Komödiendichter)

 

 

 

Don’t read my diary when I’m gone. OK, I’m going to work now. When you wake up this morning, please read my diary. Look through my things, and figure me out. (Kurt Cobain: Journals)
Lust auf regelmäßige Updates oder Infos? Dann bitte schriftliche Bestätigung per Mail an ke@kurteimers.de

 

 

So ein Käse

 

 

Hinweisschilder reloaded

 

 

Boletus Humanus 2: Rauchiger Dünstling (essbar, sehr bitter).

 

 

Neue Serie – für genau 1 Jahr:

Murmeleien eines bekennenden 68ers

KI – zwei Buchstaben, so viele Bedeutungen:  Koalierende Intelligenz, Kollabierende Intelligenz, Künstlerische Intelligenz, Kopulierende Intelligenz, Kapitulierende Intelligenz, Katholische Intelligenz (Scherz!), Keine Intellgenz…

 

 

KurtsWellen

 

im blick nach oben
die frage an die wolken
wohin will der wind

 

abend im juni
land in totaler stille
plötzlich ein aufschrei

 

ein mann im freibad
auf dem rücken vaterland
tatoo in fraktur

 

 

Der Fluss

ich fließe
seit tausenden jahren
meine quelle
sprudelt immer noch
ich fließe
zwischen bergen wäldern wiesen
ich grub mein bett
ich schuf mein tal
ich fließe
ich nährte mich
von flüssen und bächen
vom regen
ich fließe
ich sammelte wasser
ich gab es zurück
an pflanzen und tiere
ich fließe
ich wurde schmaler und breiter
im wechsel der jahreszeiten
meine ufer ließen mir raum zum leben

dann
eines tages
der mensch

ich fließe
immer noch

 

 

Die kleinen Mönche

Episode 2: Der Kampf ums Bachwäldchen

(Geschichten aus dem Reihenendhaus oder wie so was wie ein Märchen weitergeht)

Hinweis an die Leserschaft: Der jeweils neue Text, also die Fortsetzung, befindet sich immer unten am Ende des blauen Textes. Ich nenne das Erwartungsscrollen.

Was bisher geschah

Ein Mädchen namens Karoline hat im Alter von fünf Jahren eines Nachts eine merkwürdige Begegnung, an die sie sich am nächsten Morgen nicht mehr erinnern kann. Vier Jahre später – Karoline ist inzwischen neun und mit ihren Eltern gerade umgezogen – hat sie die gleiche Begegnung wieder. Und dieses Mal bleibt nicht nur die Erinnerung, dieses Mal treten fünf kleine Mönche in ihr Leben. Die Winzlinge kommen von ziemlich weit her, haben ihre Heimat Tibet verlassen müssen, leben in Deutschland jetzt sozusagen im Exil und haben auf dem Dach eines Straßenbahndepots ein neues Zuhause gefunden. So weit, so gut. Doch eines Tages fängt ein Trupp Elstern an, die kleinen Mönche erst zu bedrohen, dann zu verfolgen und immer wieder anzugreifen. Und obwohl die kleinen Mönche den einen oder anderen Zaubertrick drauf haben, schaffen sie es nicht, sich der Elstern zu erwehren. Die Elstern scheinen immun zu sein gegen die Zauberkünste der kleinen Mönche.
Also haben sich die kleinen Mönche in einen Umzugskarton geschlichen und sind mit Karoline und ihren Eltern umgezogen. Und in der ersten Nacht im neuen Zuhause nehmen sie wieder Kontakt auf zu Karoline. Sie soll ihnen helfen. Nachdem sich Karoline die Geschichte der kleinen Mönche angehört hat, willigt sie ein.
Nach und nach aktiviert Karoline ein paar Erwachsene, die ihr beim Helfen helfen: erst ihren Vater, dann einen Künstler, der im Straßenbahndepot Karnevalswagen baut, und schließlich ihre Mutter. Nach einigen Überlegungen, Nachforschungen und Aufregungen gelingt es, den Grund für das merkwürdige Verhalten der Elstern zu finden: Sie fressen seit einiger Zeit schon von einem Fischmehl, wie man es an Hühner verfüttert. Dieses lagert in einem vergessenen Raum im Straßenbahndepot, ist lange schon über die Mindesthaltbarkeit hinaus und deshalb – giftig. Nachdem sie den Raum entdeckt haben, sorgt der Künstler dafür, dass er verschlossen und das Hühnerfutter entsorgt wird. So können die Elstern, die schon eine Sucht nach dem Zeugs entwickelt haben, nicht mehr ran und müssen sich ihr Futter wieder anderweitig suchen. Dies führt dazu, dass sie sozusagen entgiftet und somit wieder ungefährlich werden. Weil dies aber eine ganze Weile dauern wird, bleiben die kleinen Mönche bis auf Weiteres bei Karoline und ihren Eltern in deren neuem Zuhause.

Und da sind sie nun – und mittendrin in einem neuen Abenteuer…

 

Vorwort

Morgen bin ich weg. Raus aus der kleineren Stadt neben der großen Stadt. Was nicht weiter tragisch ist. Raus aus meinem Zuhause, aus dem Reihenendhaus, aus meinem Zimmer. Das ist schon ein bisschen traurig. Und weg von Mama und Papa. Das ist schon ziemlich traurig. Andererseits: Ich will jetzt mein Leben so führen, wie ich es will. Wenn ich zu Hause bliebe, würden mein Leben und das von Mama und Papa regelmäßig auseinander laufen. Oder ineinander krachen. Beides blöd. Also ziehe ich morgen aus. Und mach mich auf in eine wirklich große Stadt: Berlin. Dort kann ich erst mal bei einer Freundin wohnen, ich habe eine Stelle für meinen Freiwilligendienst, und den Rest sehen wir dann. Aber vorher musste ich hier noch was erledigen. Und daran ist die dicke Kladde schuld, die gerade vor mir liegt. Denn:

Nachdem wir das Abenteuer mit den Elstern gut überstanden hatten, habe ich die Geschichte der kleinen Mönche regelmäßig weitergeschrieben. In vielen Episoden. Denn die Mönche waren ja mit ins neue Zuhause gezogen. Immer wenn wieder sowas Kleinemönchemäßiges passiert war in unserem Leben – zack, hat Karoline es aufgeschrieben. Und dabei ist einiges zusammengekommen. Die erste dieser Episoden, die erzählt, wie alles zu dem kam, wie es dann war und wurde, die habe ich ja damals direkt aufgeschrieben. Die anderen kamen über die Jahre nach und nach hinzu – und dann in die Kladde, zur „Akte kleine Mönche“. Und die wurde darüber immer fetter. Anderen habe ich natürlich nie was von unseren kleinen Mitbewohnern erzählt. Und wenn, dann konnten sich später nichts davon erzählen. So wie meine Eltern auch nichts erzählen konnten, wenn sie was gewusst haben, so zwischendurch. Warum doch und dann wieder nicht, erfahrt ihr noch. Und die Kleinen Mönche konnten aus verständlichen Gründen auch gut auf weitere Bekanntschaften verzichten. Wobei…

In den letzten Wochen habe ich alle Kleine-Mönche-Episoden aus all den Jahren noch einmal gesichtet und geordnet. Geordnet, ich! Jetzt sind sie präsentabel. Ich habe sie hier und da sogar ein bisschen überarbeitet. So eine Art Selbst-Lektorat.

Doch nun genug der schönen Vorworte. Jetzt lest mal diese zweite Episode, die erste echte Kleine-Mönche-Story aus dem Reihenendhaus. Viel Spaß wünscht euch eure Karoline.

 

Kapitel 1: Die Gemeinheit der kleinen Mönche

Willkommen in der neuen Wartezeit, dachte ich. Und dann: Verflixt, welchen Namen geb ich jetzt dieser Elster?

Diese erste der Kleine-Mönche-Geschichten aus dem Reihenendhaus beginnt nicht ohne Grund mit den beiden Sätzen, mit denen ich die Erzählung meiner Erlebnisse rund um die kleinen Mönche, die Elstern, das vergammelte Hühnerfutter und den ganzen daraus resultierenden Problemen beendet habe. Wobei das Problem mit dem Namen für die zahme Elster – meine Elster! – relativ schnell gelöst wurde. Und zwar durch einen genialen Einfall meines Vaters. Also noch mal von vorn:

Willkommen in der neuen Wartezeit, dachte ich. Und dann: Verflixt, welchen Namen geb ich jetzt dieser Elster? Diesmal hatte ich laut gedacht. Meine Eltern schwiegen. Vor unserer Garage hielt Papa an, Mama und ich und die Elster stiegen aus (okay, die Elster stieg nicht aus, die saß auf meiner Schulter), Papa fuhr das Auto in die Garage, stieg aus, macht das Tor zu und sagte, nachdem das Tor schön geknallt hatte:
– Finanzamt. Wir nennen die Elster natürlich Finanzamt.
Mama lachte und schüttelte den Kopf, als ich sie fragte, wieso Papa die Elster so nennen wollte:
– Das soll er dir mal schön selbst erklären.
Während wir zu unserem Reihenendhaus gingen, fasste Papa sich erstaunlich kurz:
– Ist doch klar, weil beide diebisch sind.
Das mochte Mama so nicht stehen lassen.
– Kind, sagte sie, dein Vater redet mal wieder Quatsch. Elster steht für Elektronische Steuererklärung. Das heißt, mit Elster können die Menschen in Deutschland ihr Steuergedöns fürs Finanzamt im Internet machen, also online, ohne Papier. Das ist praktisch.
Inzwischen waren wir vor der Haustür angekommen. Mein Vater schaute meine Mutter mit einem Gesichtsausdruck zwischen extrem beeindruckt und fassungslos an:
– Also manchmal erstaunst du mich wirklich, Frau.
Dann gingen wir rein.

In den folgenden Tagen waren die kleinen Mönche damit beschäftigt, sich auf unserem Speicher häuslich, also mönchisch, einzurichten. Dazu schickten sie zuerst die Elster los, um ihren Freund, den großen Hund, zu bitten, ihre Einrichtungsgegenstände und Habseligkeiten zu bringen. Ein echter Umzugshund, dachte ich. Ein paar Mal pendelte der Hund zwischen Straßenbahndepot und Reihenendhaus hin und her, dann war der Umzug erledigt. Da dies alles nachts geschah, bekamen wir davon nichts mit. Wir schliefen alle drei – Mama, Papa und ich – ein paar Nächte hintereinander tief und fest. Ungewöhnlich tief und fest, wenn ich’s mir recht überlege.
Eines Samstagmorgens dann, als wir gerade frühstückten, fanden wir uns plötzlich alle drei samt Tisch und Stühlen in einer großen Glitzerglocke wieder.
– Fertig! riefen die kleinen Mönche. Alle fünf hatten sich zwischen Tellern, Tassen, Marmeladen- und Honiggläsern versammelt und mit ihrem Zauberglitzer die Glitzerglocke geformt, damit wir die kleinen Kerle besser sehen und wir gut miteinander sprechen konnten.
– Wie, fertig? fragte Mama.
– Wir sind, verehrte Mutter der Karoline, mit dem Umzug fertig, erklärte Meister Alhasa.
– Klasse, rief ich, kann ich mal gucken kommen, wie das bei euch aussieht?
– Liebe Freundin Karoline, sagte der Abt, das möchten wir leider nicht. Vergiss nicht, dass alles sehr, sehr klein ist.
– Und sehr, sehr zerbrechlich, fügte Ilhasa hinzu.
– Und wenn ich mal was vom Speicher brauche?, frage Mama, schließlich habe ich da einiges gelagert.
– Ach, weißt du, ehrenwerte Karolinenmutter, sagte Ulhasa, da brauchst du dir keine Sorgen zu machen, du wirst gar nicht wissen, dass…
– Ulhasa, was redest du?, fiel ihm der Abt ins Wort, natürlich weiß die verehrungswürdige Mutter der Karoline, dass wir da sind. Wir alle, die wir die Elsterngeschichte bewältigt haben, sind jetzt Teil eines exklusiven Geheimbundes.
Alhasa wandte sich an uns drei:
– Ihr werdet es nur nicht merken.
– Wissen. Merken. Kann ich jetzt mal in Ruhe weiter frühstücken?, grummelte Papa.
– Ooooh, frühstücken, seufzte Olhasa, was für eine wunderbare, geradezu transzendentale Idee.
– Ich denke, wir gehen jetzt mal besser, sagte Alhasa und schnippte mit seinen Fingern die Glitzerkugel weg. Dann verschwanden unter fünffachem Nicken und Aufwiedersehenwinken die kleinen Mönche aus unserem Gesichtsfeld.

Der Rest des Samstags verlief ohne erwähnenswerte Ereignisse. Am Abend war ich ungewöhnlich aufgedreht. Ans Schlafen kein Gedanke. Ich hatte ja auch in den vorangegangenen Nächten lange und tief genug geschlafen. Mein Eltern schüttelten nur den Kopf, murmelten irgendwas mit „Geht jetzt die Pubertät schon los beim Kind?“ und gingen nach einer Doku auf Arte ins Bett. Ich lag in meinem Zimmer. Und lag dort lange wach. Irgendwann, es war kurz nach Mitternacht, schaute ich nach meinem Gang aufs Klo aus dem Fenster. Ein großer Schatten huschte durch den Garten, sprang über den Jägerzaun der Nachbarn und verschwand. Es war der große Hund der kleinen Mönche. Ob die noch immer beim Umzug waren? Oder machten sie schon ihre erste Erkundungsrunde in ihrem neuen Revier? Achselzuckend legte ich mich wieder ins Bett und schlief endlich ein.

Am nächsten Sonntagmorgen beim Frühstück fragte ich meine Eltern, wann wir denn mal Fred Fortein besuchen, um ihm zu erzählen, wie gut es den kleinen Mönchen geht bei uns.
– Fred Fortein? Kenn ich nicht. Sagte Papa.
– Was für Mönche? Fragte Mama.
– Wieso kennt ihr die nicht? Die wohnen doch bei uns. Und Fred ist unser Freund und hat uns geholfen, die kleinen Mönche vor den Elstern zu retten und die Elstern wieder gesund zu machen und…
– Kind, sagte Mama streng, jetzt ist es gut.
– Liest du gerade so was wie ’nen neuen Harry Potter?, fragte Papa. Und fügte hinzu: Erzähl so einen Kram bloß nicht deinen neuen Freundinnen in der Nachbarschaft, und schon gar nicht in deiner neuen Schule.
– Okay, okay, ist ja schon gut. Hab nur Spaß gemacht.
– Komischer Spaß, sagte Mama.
Ich sagte dann vorsichtshalber erst mal gar nichts mehr. Denn in mir keimte ein böser Verdacht. Ein ziemlich böser.

Irgendwann am Nachmittag fragte ich meine Eltern, ob ich mich in den nächsten Tagen mal nachmittags mit meiner Freundin Marie in Düsseldorf treffen dürfte. Ich hatte ja meine Monatskarte, mit der kam ich ziemlich weit mit dem ÖPNV.
– Wir wollen in den krassen Laden in der Altstadt, wo es diese tollen Klamotten gibt.
Meine Eltern blickten alarmiert.
– Nur zum Gucken. Und dann lecker Eis oder Pommes oder so.
– Gut, sagte Papa, aber zum Abendessen bist du zu Hause.

Natürlich traf ich mich dann nicht mit Marie. Ich hatte einen ganz anderen Plan: Ich wollte zum Straßenbahndepot, zu Fred Fortein. Auf dem Weg zur Bushaltestelle rief ich aus einer Telefonzelle Marie an.
– Ich muss was erledigen, aber meine Eltern dürfen nichts wissen, deshalb hab ich ihnen gesagt, ich treffe mich mit dir. Nur damit du Bescheid weißt. Und bitte keine weiteren Fragen.
Kurzer Moment der Stille am anderen Ende. Dann:
– Okay.
Marie ist wirklich eine prima Freundin.

Eine gute Stunde später: Ausstieg an der Endstation, rüber zum Depot. Da war noch immer diese Art Pförtnerhaus. Und drinnen saß, leider auch noch immer, der Kotzbrocken in Uniform. Als er mich sah, öffnete er im großen Pförtnerhausfenster ein kleines Sprechfenster:
– Na, kleines Frollein (er sagte wirklich „Frollein“), wo wollen wir denn hin?
– Guten Tag, sagte ich betont freundlich, erinnern Sie sich noch an mich? Ich bin eine Freundin von Fred Fortein.
– Der Karnevalsspinner? Den kenn ich, aber dich, kleines Frollein, seh ich heut zum ersten Mal. Und du willst eine Freundin von dem sein? Glaub ich nicht.
Also auch bei dem null Erinnerung.
– Aber da kommt der Fortein ja grad, sagte der Pförtner, kannste ihn ja selber fragen, ob du seine Freundin bist, hahaha.
Tatsächlich kam Fred Fortein gerade über den riesigen Depothof geschlendert.
– Hallo Fred, wie geht’s? Schönen Gruß von den kleinen Freunden, du weißt schon.
Ein freundlich lächelnder Fred Fortein sah mich verdutzt und fragend an:
– Ja, guten Tag auch, kennen wir uns?
Oh nein, dachte ich, auch Fred erinnert sich nicht. Langsam wurde aus meinem bösen Verdacht Gewissheit. Aber vorher wagte ich noch einen letzten Versuch:
– Hat die Stadt schon etwas gegen das giftige Hühnerfutter hinten im Depot unternommen? Das, was die Elstern immer gefressen haben?
– Woher weiß das kleine Frollein denn von solchen städtischen Angelegenheiten, das sollte doch absolut geheim bleiben, fauchte der Pförtner Fred an. (Ich ging vorsichtig ein paar Schritte rückwärts.) Fred zuckte nur mit den Schultern:
– Weiß ich doch nicht. Was sind das denn für Angelegenheiten, dass die so geheim und wichtig sind?
Ich bewegte mich langsam auf die Ecke des Pförtnerhäuschens zu, hinter der die Straße lag. Zum Glück waren die beiden gerade sehr mit sich selbst beschäftigt.
– Keine Ahnung, schnauzte der Pförtner und machte ein ziemlich dummes Gesicht. Ich bekam vor ein paar Tagen Anweisungen, dass da was passiert hinten im Depot und dass ich nicht drüber reden soll. Dabei weiß ich doch gar nicht, was da abgeht. Aber wieso weiß dann das kleine Frollein Bescheid?
– Ja, sagte Fred, wieso… Er und der Pförtner drehten sich nach mir um – aber da war ich schon schwupp! um die Ecke. Die Sache war mir nämlich irgendwie zu heiß geworden. Zum Glück fuhr gerade eine Straßenbahn los Richtung Stadtmitte. Bevor der Pförtner oder Fred auch nur daran denken konnten, mir hinterher zu laufen, war ich auf den letzten Drücker rein in die Bahn und weg.

Nachdem ich mich vergewissert hatte, dass da niemand der Bahn hinterher lief, setzte ich mich und schnaufte erst einmal tief durch. Dann schnaufte ich weiter – aber vor Wut. Von wegen Geheimbund! Die kleinen Mönche hatten mich hintergangen. Hatten in einer einzigen Nacht-und-Nebel-Aktion sowohl Fred Fortein und den Pförtner als auch Mama und Papa ihren Glitzerstaub des Vergessens in die Nasen gepustet. Während die schliefen. Das fand ich so was von gemein! Jetzt war ich die einzige, die von den kleinen Mönchen wusste. Okay, Finanzamt, meine Elster, wusste es auch. Aber wie sollte ich mit der reden? Ich fühlte mich irgendwie allein gelassen. Und ich hatte verschärften Gesprächsbedarf.

Beim Abendessen, zu dem ich pünktlich wieder zu Hause war, stellten meine Eltern die üblichen Fragen nach Marie, was wir so gemacht hätten und so weiter. Ich gab die üblichen Antworten, mit denen man Eltern beruhigen kann. Nach dem Abendessen murmelte ich was von „Puh, Stadt macht müde, gute Nacht“ und verschwand in meinem Zimmer. Dort wartete ich, dass es dunkel wurde und meine Eltern zu Bett gegangen waren. Wie gesagt hatte ich verschärften Gesprächsbedarf, und ich war mir ziemlich sicher, die kleinen Mönche wussten das.

Es war kurz nach Mitternacht, als es vertraut zwitscherte. Ich hatte kurz vorher erst das Licht aus- und meine Tür einen kleinen Spalt aufgemacht, war also noch wach. Am Fußende meines Bettes saßen die fünf kleinen Mönche wie immer aufgereiht nebeneinander auf dem Holzrahmen und schauten mich lächelnd an. Dann schwebten sie alle gleichzeitig auf die Bettdecke, genau unter meine Nase. Dann schnipps! die Glocke aus Zauberglitzer, damit wir uns in Ruhe unterhalten konnten, ohne dass außerhalb der Glitzerglocke davon etwas zu hören war. Und das war auch dringend nötig.

– Sagt mal, ihr kleinen Racker, schimpfte ich los, was fällt euch eigentlich ein, meinen Eltern, Fred und sogar dem Pförtner mit eurem Glitzerstaub die ganze Erinnerung an alles wegzunehmen? Einfach alles so löschen, das geht doch gar nicht. Und wieso der Pförtner? Der hatte doch eh keine Ahnung von nix und…
– Da, unterbrach mich der Abt, da war Elhasa, den ich mit der ganzen Mission beauftragt hatte, in der Tat ein wenig zu eifrig. Aber irgendwie verändert hat es den Pförtner nicht.
Stimmt, dachte ich, der ist immer noch so blöd.
– Also, liebe Karoline, fuhr der weise Abt fort, bitte beruhige dich. Wir können deine Empörung gut verstehen, jedoch, das Risiko war uns zu groß, dass sich irgendjemand mal verplappert. Bedenke bitte, mit wie vielen Menschen deine Mutter und dein Vater Kontakt haben. Und Fred Fortein erstmal.
– Und außerdem, fügte der gebildete Ilhasa hinzu, außerdem sind sie ja nicht komplett gelöscht. Das Wissen ist nicht weg, es ist nur woanders. Und wenn es nötig ist, dann kommt das Wissen zu deinen Eltern und zu Fred Fortein zurück.
– Okay, Jungs, rief ich, eure Gründe akzeptiere ich schon. Aber dass ich jetzt die einzige bin, die Bescheid weiß, dass finde ich ziemlich doof. Das macht mich irgendwie einsam, denn außer mit euch kann ich mit keinem Menschen über euch und das ganze Drumherum reden.
Sprach’s und machte mein Karoline-ganz-traurig-und-allein-Gesicht. Ob es dann dessen Wirkung war oder ob die Mönche alles schon vorher geplant hatten, weiß ich nicht, jedenfalls flüsterte Alhasa dem jungen Ulhasa etwas ins Ohr, worauf dieser durch eine plötzliche Öffnung die Glitzerglocke verließ und durch den Spalt meiner Zimmertür verschwand.
– Wo geht Ulhasa denn hin?, fragte ich.
– Geduld, liebe Freundin Karoline, antwortete Alhasa, er ist gleich wieder da.
Und da öffnete sich auch schon wieder kurz die Glitzerglocke, es kam was herein gehuscht, das ging alles so schnell, ich kam gar nicht mehr mit, doch dann, doch dann, dann sah ich neben Ulhasa – eine Elster. Aber nicht irgendeine Elster. Nein, es war meine Elster, es war Finanzamt. In meine erste Begeisterung mischte sich langsam Ratlosigkeit:
– Aha, und jetzt soll ich mich wohl mit Finanzamt unterhalten, auf Elsterisch, rätsch rätsch oder was?
– Karoline, hörte ich da eine angenehme, weibliche Stimme, Karoline, entspann dich.
– Wer war das?, rief ich. Mönche, habt ihr gesprochen?
Ich sah mir jeden von ihnen von ganz nah und ganz genau an, mit dem Karoline-super-böse-Blick.
– Wer von euch hat das gerade gesagt?
Die fünf kleinen Mönche grinsten mich an und schwiegen. Dann legten sie alle eine Hand vor den Mund.
– Die waren das nicht, Karoline, ich bin es, die mit dir spricht.
Ich wirbelte herum und starrte nun die Elster an:
– Was hast du da gerade gesagt?
Die Elster sah mich mit schräg gelegtem Kopf an. Und wieder hörte ich diese tolle Stimme, ohne dass die Elster ihren Schnabel bewegte:
– Ich sagte, du kannst dich entspannen, tönte es erneut sanft in meinen Ohren, oder genauer: in meinem Kopf. Wir werden ab jetzt viel miteinander sprechen.
– Ja, aber, ich schaute verwirrt von der Elster zu den grinsenden Mönchen und zurück, ich hör die Elster sprechen, aber ich seh sie nicht sprechen, was… wie…
– Telepathie, Karoline, sagte Alhasa. Bei Bedarf können wir dafür sorgen, dass sich Lebewesen gedanklich so austauschen, als würden sie miteinander sprechen.
– Das geht aber nicht bei allen Lebewesen, ergänzte Ilhasa.
– Manche sind einfach zu doof dazu, fügte Ulhasa hinzu, was ihm einen strafenden Blick seines Abtes einbrachte. Anschließend ermahnte mich Alhasa eindringlich, nur dann mit Finanzamt zusprechen, wenn wir allein waren bzw. mit den kleinen Mönchen zusammen.
– Du musst selbst auch nicht sprechen, es reicht, wenn du denkst. Aber das ist nicht so einfach, das musst du üben, also sprich erst mal ruhig ganz normal mit ihr, nur, pass auf, dass es niemand mitkriegt. Das gilt übrigens ab jetzt auch für deine Unterhaltungen mit uns.
Ich nickte und versuchte, meine turbulenten Gedanken zu ordnen.
– Ooooh, aber wiesooo heißt die Elster jetzt Finanzamt?, grätschte mir plötzlich Olhasa dazwischen.
Der Rest der Nacht verging unter langen Erklärungen durch Ilhasa, unterbrochen von vielen klugen (und auch ein paar nicht so klugen) Fragen und endete in einem langen, gemeinsamen Erinnern an die bestandenen Abenteuer. Dann graute der Morgen und wir gingen alle ins Bett auf eine dringend benötigte Mütze Schlaf.

 

Kapitel 2: Das Ende der Ereignislosigkeit

Die nächsten Wochen verliefen in ereignisloser Harmonie. Mein Eltern waren wieder ganz normale Eltern, also liebevoll, fürsorglich und ahnungslos. Finanzamt und ich verstanden uns super und hatten eine Menge Spaß miteinander. Es war wie mit Flipper und Lassie und Fury auf einmal. Und ich lernte eine ganze Menge von Finanzamt über alle möglichen Tiere und was die so denken und einander erzählen. Das sollte mir noch sehr von Nutzen sein.

Wie gesagt: Die Zeit ging dahin in ereignisloser Harmonie. Ich ging in meine neue Schule, also in das, was Papa ein „bildungsbürgerliches Upgrade“ nannte, also ein Gymnasium. Ich machte neue Bekanntschaften, und aus der einen oder anderen wurde Freundschaft. Auch in der kleinen Siedlung aus Reihenhäusern und Doppelhaushälften, von meinen Eltern „Dörfchen“ genannt, schloss ich Freundschaft mit drei Mädchen. Wir vier wurden schnell eine richtige kleine Mädchenbande. Toll.

Und dann stand eines Tages, genauer an einem Samstagnachmittag, dieses nette, adrette ältere Paar – Mann und Frau – vor unserer Haustür und klingelte. Papa war in der Küche und hatte „Stadion“, das heißt, er arbeitete schon am Abendessen und hörte dabei Fußball im Radio. Ziemlich laut. Mama hasste es. Mich störte es nicht so sehr, ich machte mir grad ein Butterbrot.
– Mann, es hat geklingelt!, rief Mama von irgendwo her.
Papa ging und öffnete die Haustür. Ich hinterher. Aus der Küche und dem offenen Küchenfenster – es war ein schöner, sonniger Spätsommertag – plärrte es fußballerisch.
Papa musterte die beiden. Älteres, freundliches Ehepaar in gepflegter Freizeitkleidung. Die Frau hielt einen Mappe in der einen und einen Stift in der anderen Hand. Der Mann hatte eine Leine in der Hand, an deren unterem Ende sich eine Art Tier befand, in das man aber noch ein anderes Tier hineingezüchtet haben musste. Ein Dackel? Ein Dachs?
– Jaaa, bitte?, fragte Papa.
– Schönen guten Tag, sagte der Mann, dürfen wir Sie kurz stören? Es ist wichtig. Es geht um die Zukunft unseres Bachwäldchens. Das betrifft auch – er zeigt plötzlich auf mich – die Zukunft ihrer süßen Tochter.
Ich: Würg.

Das Bachwäldchen war eine Art breiter Grünstreifen, dicht mit Bäumen und Sträuchern bestanden, der sich hinter dem „Dörfchen“ nach rechts und links ausdehnte. Auf den beiden Seiten jenseits des Wäldchens befanden sich weitere Straßen und Häuser, dazwischen Gärten. Bachwäldchen hieß der Grünstreifen, weil da wohl früher mal so was wie ein kleiner Bach floss. Jetzt war es so eine Art verwilderter Park, in dem sich bei Schützenfest gerne auch mal Männer erleichterten. Es führte ein Weg hindurch, den sich Spaziergänger, Jogger, Radfahrer und sehr, sehr viele Hunde teilten. Das war unser Wissensstand bis zu diesem Tag. Aber nun wurden wir eines Besseren belehrt:
– Unser Bachwäldchen, sagte der Mann, und der Dackeldachs wedelte dazu mit dem Schwanz, unser Bachwäldchen ist bedroht. Es soll abgeholzt werden, damit man dort einen Regenwassersammelkanal bauen kann. Man will uns unter fadenscheinigen Begründungen unsere grüne Lunge wegnehmen. Und vielen Tieren, auch vielen bedrohten Tierarten, den Lebensraum rauben.
– Ach so, das, sagte Papa, ja, da habe ich drüber gelesen im Internet und dann hab ich auch gleich mal da angerufen bei der Stadt, und dort…
Papa erstaunte mich ja doch immer wieder.
– … hat man mir erklärt, dass das erstens notwendig ist, weil es in Zukunft immer öfter sehr stark regnen wird, Sie wissen schon, die Klimakrise, zweitens der alte Kanal total im Arsch ist und seinen Job nicht mehr machen kann, und drittens holzen die auch nicht das ganze Bachwäldchen ab, sondern nur rechts und links für eine Baustraße, also so insgesamt ein zehn Meter breiter Streifen, der danach wieder renaturiert wird.
In diesem Moment griff die Frau ins Gespräch ein:
– Das stimmt doch alles gar nicht. Alles gelogen. Glauben Sie das bloß nicht! Hier (sie hielt uns Mappe und Stift entgegen), Sie müssen denen zeigen, dass das nicht geht. Wir alle müssen das. Jede Unterschrift zählt!
– Sagen Sie mal, wer sind Sie denn eigentlich? Die Stimme aus dem Hintergrund gehörte Mama, die, neugierig wie sie nun mal ist, dazugekommen war.
– Oh, Entschuldigung, ich vergaß, uns vorzustellen: Mein Name ist Hans-Adolf Pafdautschik, und dies ist meine Frau Magdalene. Wir wohnen da drüben in den Häusern, da haben wir eine schöne Wohnung, mit herrlichem Blick aufs Bachwäldchen. Wir sind hier, um zu verhindern, dass man diese schöne Natur zerstört.
– Diesen seelenlosen Technokraten sind wir und unsere Natur nämlich scheißegal, ergänzte seine Frau, nun mit leichter Zornesröte im Gesicht.
– Also, ich kann Sie ja schon verstehen, sagte Mama, aber auch ich habe das ganze Projekt so verstanden, dass die Stadt verhindern will, dass uns hier bei Starkregen die Keller voll laufen.
– Und das, ergänzte Papa, ist uns, ehrlich gesagt, ebenfalls so gar nicht scheißegal.
– Das sind doch alles nur Vorwände, es hat hier doch noch nie Starkregen gegeben!, rief der Mann mit dem komischen Namen. Seine Frau nickte heftig.
– Okay, meinte Papa, dann geh ich auch nicht zur Krebsvorsorgeuntersuchung, ich hab ja noch nie Krebs gehabt.
Mama gluckste im Hintergrund. In diesem Augenblick begann der Dackeldachs wie wild zu bellen.
– Komm, wir gehen, das ist zwecklos hier, sagte der Mann zu seiner Frau, die immer noch da stand mit Mappe und Stift am Ende ihrer ausgestreckten Arme. Der Dackeldachs bellte noch wilder.
– Schönen Tag noch, sagten meine Eltern und Papa fügte hinzu:
– Und beruhigen Sie mal Ihren Amokdackel.
Dann war die Türe wieder zu und das Ehepaar Pafdautschik samt Amokdackel (Papa hatte da wirklich die passende Bezeichnung gefunden) abgezogen. Ich konnte noch gerade so sehen, dass sie bei den Nachbarn nebenan klingelten. Die hatten mehr Glück als wir: Sie waren nicht da.
– Und wegen so was verpasse ich fast die Konferenzschaltung, nörgelte Papa noch, bevor er in der Küche verschwand.
Mama und ich schauten uns grinsend an, zuckten die Schultern und wollten gerade ins Atelier bzw. Jugendzimmer zurück, da klingelte es schon wieder an der Tür. Alle drei wieder hin. Dieses Mal stand eine junge, blonde Frau vor der Tür.
– Jaaa, bitte?, fragte Papa wieder.
­– Schönen guten Tag, sagte die junge Frau, ich bin die Melanie, ich bin Ihre Nachbarin, gleich hier, zwei Türen, ich meine, Häuser weiter, Melanie Mauerbaum, um komplett zu sein.
– Na, sagte Mama, dann wollen wir auch mal komplett sein. Und stellte uns drei vor. Dann fragte sie:
– Aber wir sind uns, glaube ich, hier noch nicht über den Weg gelaufen.
– Das ist gut möglich, ich wohne erst seit kurzem hier.
– So wie wir?, rief ich dazwischen.
– Ja, nein, also, eigentlich wohne ich wieder hier. Das Haus gehörte meinen Eltern. Ich habe hier meine Kindheit und Jugendzeit verbracht. Und viele, viele Stunden davon im Bachwäldchen. Nach dem Abitur bin ich zum Studieren weg und habe anschließend in einer anderen Stadt gearbeitet. Und dann sind meine Eltern vor einiger Zeit bei einem Autounfall ums Leben gekommen waren. Ich bin das einzige Kind. Und hatte jetzt das Haus hier geerbt. Erst dachte ich, es zu verkaufen. Aber dann habe ich beschlossen, zurück zu kommen. Ich hab hier in der Stadt einen prima Job und lebe nun allein in meinem Elternhaus.
– Das mit Ihren Eltern muss vor unserer Zeit hier passiert sein, sagte Papa, da haben wir nichts von mitbekommen. Und Haus und Garten sahen zwar unbewohnt, aber trotzdem gepflegt aus.
– Da hat sich ein Nachbar drum gekümmert.
– Ganz schön traurige Geschichte, sagte Mama mitfühlend. Dennoch freuen wir uns auf eine gute Nachbarschaft mit Ihnen.
Melanie nickte.
– Gerade deshalb bin ich hier. Ich war vorhin in der Küche, das Fenster war auf und ich habe Ihr Gespräch mit den Pafdautschiks teilweise mitbekommen und gesehen, wie die beiden ziemlich sauer weg sind. Haben Sie die etwa abgewiesen?
– Hm, meinte Papa, die kamen uns ein bisschen komisch vor mit ihrem Amokdackel. Kennen Sie die etwa?
– Natürlich kenne ich die, und die sind überhaupt nicht komisch, das sind gute Menschen, die wie viele andere hier in der Nachbarschaft das Bachwäldchen retten wollen. Und dafür engagieren sich die beiden ganz besonders.
– Was sollen wir uns unter besonderem Engagement vorstellen, und was haben Sie damit zu tun?, fragte Mama.
– Also, Melanie holte kurz Luft, dann legte sie los:

Die alte Frau Madaschinski, die gleich um die Ecke ein Haus bewohnte, und die damals, als Melanie noch ein Kind war, oft auf sie aufgepasst hatte und die darüber zu einer Art Oma für sie geworden war, also die Frau Madaschinski hatte Melanie vor ein paar Tagen als erste von den schlimmen Aussichten fürs Bachwäldchen erzählt. Melanie wusste noch von nichts, weil sie drei Wochen in Urlaub gewesen war. Melanie war sofort sehr aufgeregt, weil ihr das Bachwäldchen so am Herzen lag, und hatte daraufhin auf nebenan.de die Frage gepostet, ob jemand wisse, was da los sei. Es kamen reichlich Antworten, die Leute waren beunruhigt, die verschiedensten Versionen kursierten. Und dann meldete sich bei Melanie das Ehepaar Hans-Adolf und Magdalene Pafdautschik und schlug vor, sich doch mal „auf ein Käffchen“ in einer nahen Kneipe zu treffen, die den bemerkenswerten Namen „Zur Beruhigung“ trug. Sie würden nämlich gern ganz konkret Widerstand leisten gegen die Pläne der Stadt. Gesagt, getan. Nach dem „Käffchen“ war Melanie dann von den beiden äußerst angetan und beschloss, sich ihnen anzuschließen.
– Es tut so weh, endete sie schließlich ihren Vortrag, wenn ich daran denke, dass so viele schöne Bäume sterben müssen. Ich habe da als Kind so viele wunderbare Stunden verbracht. Ich muss da einfach was machen. Und so wie ich denken die Pafdautschiks und viele, viele andere Menschen, die rund ums Bachwäldchen wohnen. Demnächst startet da was, und ich würde mich sehr freuen, wenn Sie (Melanie schaute mich ganz lieb an), wenn ihr dabei seid. (Kurzes Zögern) Aber Sie können ja noch unsere Petition im Internet unterschreiben.
– Ihre oder die der Pafdautschiks?
Jetzt wurde Papa ein bisschen gemein, fand ich. Fand auch Melanie. Die schaltete von Ganzliebgucken auf Ganzbösegucken. Zum Glück griff Mama ein:
– Wie auch immer, liebe Melanie, seien Sie gewiss, wir denken auf jeden Fall noch mal gründlich über alles nach.
– Denn eigentlich sind wir ja auch pro natura, ergänzte Papa, der merkte, dass da Wogen zu glätten waren.
– Vor allem aber, fügte Mama hinzu, hoffen wir, dass Sie und wir, liebe Melanie, richtig gute Nachbarn werden. Und wenn wir gemeinsam bewirken können, dass uns allen das Bachwäldchen möglichst unversehrt erhalten bleibt – um so besser.
– Ja, ja, rief ich, das muss unbedingt so!

Da lächelte Melanie erst meinen Eltern und dann mir wieder sehr lieb zu, wobei sich ihre und meine Augen irgendwie trafen, also ihre braunen und meine grau-grünen, so ganz kurz, und das gab mir ein irgendwie gutes Gefühl von aufkeimender Freundschaft. Dann nickte sie ein „Schönes Wochenende dann euch allen“ und ging nach Hause.
Und ich dachte: Jetzt werde ich aber mal wirklich zügig Finanzamt fragen, was sie dazu meint.

 

Kapitel 3: Nicht verzagen, Finanzamt fragen

– Ihr Menschen habt manchmal echt einen Sparren, schallte es mir entgegen, als ich mein Zimmer betrat. Rasch schloss ich die Tür hinter mir.
– Wie bist denn du hier rein gekommen?
– Fenster auf kipp, Elster rein, antwortete Finanzamt, und außerdem hast du ja ein Problem, bei dem ich dir helfen soll.
Finanzamt legte den Kopf schief:
– Stimmt’s?
Ich nickte stumm, schloss erst mal das Fenster und drehte auch noch den Schlüssel im Türschloss. Vorsichtshalber. Dann setzte ich mich an meinen Schreibtisch, und Finanzamt setzte sich wie immer oben auf den Rand des Bildschirms meines Computers.
– Was weißt du über diese Geschichte?, fragte ich. Also das mit der Zerstörung des Bachwäldchens, damit wir gegen Regen geschützt sind, und dass da Leute sind, die das nicht wollen, weil das alles Quatsch ist und gelogen und deshalb protestieren die jetzt und…
– Gaaaaanz ruhig, Karoline, unterbrach mich Finanzamt, wir finden das zusammen heraus. Aber zuerst erzähle ich dir, was der Buschfunk so sagt.
Karoline-Fragezeichen-Gesicht. Könnten Elstern grinsen, Finanzamt hätte es jetzt getan.
– Buschfunk nennen wir Tiere alles, was wir uns innerhalb eines Waldes, eines Parks, eines Gartens an Informationen so zukommen lassen. Um ehrlich zu sein: Das Meiste ist Klatsch und Tratsch. Da sind wir nicht anders als ihr Menschen.
– Und hier bei uns, Pardon, bei euch im Bachwäldchen gibt es auch so einen Buschfunk?
– Aber hallo, sagte Finanzamt, und bisschen Stolz schwang in ihrer Stimme.
– Und was sagt der Buschfunk so?, fragte ich.
Finanzamt wurde ernst:
– Der Buschfunk sagt: Das kommt was auf uns zu. Wir wissen nicht genau, was es ist, aber es ist sehr, sehr groß.
Das war dann wieder einer der Momente, an dem ich dachte: Diese Elster hat definitiv zu viele Star-Trek-Filme gesehen.
Finanzamt vor fort:
– Eine Meise, die im Baumaschinenlager der Stadt nach einem Nistplatz suchte, bekam mit, dass die Menschen irgendetwas vorhaben. Sie liefen überall hin und her, quatschten aufgeregt miteinander und in ihre Mobiltelefone. Außerdem kletterten sie auf einigen dieser sehr, sehr großen Geräte und Maschinen herum und schrieben komische Zeichen auf ein paar von ihnen. Ganz so, als wollten sie die demnächst benutzen.
– Und was sind das für Maschinen?, fragte ich.
– Das habe ich die Meise auch gefragt, antwortete Finanzamt, aber die Meise meinte, sie sei eine Meise und habe keine Ahnung von Menschenmaschinen. Also bin ich selbst hingeflogen.
– Und?
– Es sind Baumaschinen. Bagger, Bulldozer, Kipplaster – alles Zeugs, um Erde zu bewegen. Sehr viel Erde. Aber was ich besonders interessant finde…
– Ja?, ich wurde langsam ungeduldig.
– Was ich besonders interessant finde, fuhr Finanzamt unbeirrt fort, ist die Tatsache, dass sich zwei Männer direkt unter der Dachrinne, in der ich lauschte, über Forstmaschinen unterhielten.
– Forstmaschinen? Schon wieder das Karoline-Fragezeichen-Gesicht.
– Forstmaschinen, ertönte plötzlich dozierend die Stimme von Ilhasa in meinem Kopf, Forstmaschinen nennt man alle Maschinen, die beim Ausheben, Ernten und Veredeln eines Waldgebiets helfen. Diese drei Phasen erfordern sehr unterschiedliche Arten von Forstausrüstungswerkzeugen, aber alle arbeiten zusammen, um sicherzustellen, dass die Arbeit gut erledigt wird.
– Ja, aber, was…, stotterte ich.
– Aushubmaschinen sind z.B. die Sägen, mit denen ein Baum gefällt wird. Die sogenannte Ernteausrüstung umfasst Buncher, Lader und Erntemaschinen. Finishing-Maschinen sind alles, was hilft, den Wald zu roden, um entweder Bäume neu zu pflanzen oder, wie bei diesem Projekt, mit dem Bau zu beginnen. Sie sind wie eine Art Bulldozer.
Verdutzt schaute ich Finanzamt an. Die Elster nickte:
– Unser Ilhasa, der weiß aber auch alles.
– Ja, aber, wie kommt gerade jetzt Ilhasa in meinen Kopf?
– Das erkläre ich dir später mal, hörte ich die Stimme des gebildetsten aller kleinen Mönche. Aber jetzt muss ich wieder an meine Forschungen. Bis bald, kleine Karoline.
Sprach’s und war wieder raus aus meinem Kopf.
Ich schüttelte mein armes Haupt zwei, drei Mal, dann sah ich ernst die Elster an:
– Jetzt will ich alles wissen über dieses Vorhaben im Bachwäldchen.
– Kein Ding, antwortete Finanzamt, hast du Gummibärchen?

 

Kapitel 4: Surfen mit Gummibärchen

Zehn Minuten später saß ich mit einem Haufen Gummibärchen vor dem Computer. Papa hatte davon immer welche in Reserve – Gummibärchen, nicht Computer –, in einer kleinen, rosa Holzkiste, die meine Eltern die „Beziehungskiste“ getauft hatten, keine Ahnung, warum. Papa nannte die bunten Bärchen seinen „Thomas-Gottschalk-Vorrat“.

Vor mir auf dem Tisch hatte sich Finanzamt platziert und surfte durchs Internet. Mit ihrem Schnabel hackte sie sich in einem Affentempo durch die Tastatur. Damit die unter den harten Schnabelhieben keinen Schaden litt, spießte Finanzamt regelmäßig ein Gummibärchen auf ihre Schnabelspitze. So ein Gummibärchen ist eigentlich nicht als Stoßdämpfer für tastaturbehackende Elstern gedacht. Also musste in schnellem Rhythmus immer wieder ein neues Gummibärchen auf die Schnabelspitze, wobei sein Vorgänger im Schnabel verschwand.
– Die grünen esse ich am liebsten, meinte Finanzamt, während sie fleißig durchs Internet recherchierte. So, da haben wir’s ja.
Gespannt schaute ich auf die sich öffnende Webseite. Ja, das war der offizielle Internetauftritt der Abteilung der Stadtverwaltung, die diese Arbeiten im Bachwäldchen plante. Irgendwas mit Infrastruktur, den Rest des Namens hab ich vergessen.
Finanzamt schaute mich von der Seite an:
– Soll ich mal zusammenfassen?
– Äh, ja, bitte.
– Also: Es geht grundsätzlich um den Schutz vor Überschwemmungen nach starken Regenfällen. Da gab es ja schon reichlich von, und in Zukunft wird es noch mehr geben.
Ich nickte:
– Die Klimakrise, haben wir auch schon in der Schule gehabt.
Finanzamt fuhr fort:
– Im Bachwäldchen verläuft unter der Erde ein Kanal, in dem sich das Regenwasser sammelt und durch den es dann kontrolliert abfließt. Dieser Kanal ist uralt und komplett frott. Deshalb muss ein neuer her, der das viele Wasser in Zukunft besser aufnimmt und wegleitet.
– Was heißt frott?, unterbrach ich.
– Frott heißt: Risse ohne Ende, Wurzeln in der Wand, Einsturzgefahr und so. Kaputt.
– Und jetzt?
– Jetzt muss ein neuer her. Und den wollen sie genau unter den Spazierweg bauen, der der Länge nach durchs ganze Bachwäldchen führt.
– So wie die Kanäle unter den Straßen?
– Genau so.
– Ist doch prima.
– Nicht ganz, denn für die Chose muss der Weg verbreitert werden, das heißt, es muss gerodet werden, kurz: Jede Menge Bäume und Sträucher werden platt gemacht.
– Nicht so prima. Deshalb also war das Pärchen an der Haustür vorhin auch so empört. Sag mal, Finanzamt, will die Stadt wirklich das ganze Bachwäldchen zerstören, wie die beiden behaupten?
– Das weiß ich auch nicht so genau, antwortete die Elster. Was hier im Netz steht, klingt etwas vage. Sie sagen, dass umfangreiche Rodungsarbeiten erforderlich sind, dass aber alles nicht so schlimm wird und dass sie danach alles wieder schön machen, mit neuen Bepflanzungen, Sträuchern und Bäumen. Schau, da steht „ökologisch hochwertig“.
– Kann man das glauben? Die zwei von vorhin glauben das nicht. Auch Melanie bezweifelt das. Und außerdem: Gibt es keinen anderen Weg?
Finanzamt spießte sich ein neues Gummibärchen – schon wieder ein grünes, passend zum Thema – auf den Schnabel und behackte kurz die Tastatur:
– Soooo, hier steht was dazu: „Die unter verschiedenen Möglichkeiten ausgewählte Sanierungsmaßnahme hat den geringsten Eingriff in die Ökologie und den Baumbestand zur Folge und ist daher als alternativlos zu bezeichnen“.
– Glaubst du das?
– Glauben hilft da nicht. Wir müssen wissen, mehr wissen. Am besten, wir sprechen mal mit den Betroffenen.
– Du willst mit Mama und Papa darüber sprechen?
Finanzamt seufzte, ließ das letzte Gummibärchen im Schnabel verschwinden und schaute kurz an die Decke.
– Nein, Karoline, wir sprechen mit den Tieren, die im Bachwäldchen leben.
– Krass, konnte ich noch sagen. Dann blieb mir die Spucke weg.

Die Spucke war zum Glück wieder da, als ich am darauf folgenden Sonntag eine Textmitteilung der kleinen Mönche aufs Smartphone bekam, als ich gerade mein Bett machte: „Liebe kluge Karoline, hiermit laden wir dich für die Nacht vom kommenden Mittwoch auf den darauf folgenden Donnerstag sehr herzlich ein, an einer Zusammenkunft aller im Bachwäldchen beheimateten Tiere teilzunehmen, welche in dem kleinen, eingefriedeten Bereich stattfindet, den die Menschen „Bolzplatz“ nennen, und die wir uns zur Betonung des lokalen Bezugs und zur Motivation aller Beteiligten Bolzplatzkonferenz zu nennen erlauben, womit wir mit meditativen Grüßen verbleiben als deine Freunde aus dem Hochgebirge.“

Ich musste das drei Mal lesen, um zu kapieren: Das war tatsächlich ein einziger Satz. (Papa würde wahnsinnig, wenn er das läse. Wird er aber nicht, denn das geht ihn gar nichts an.) Nach dem vierten Mal lesen hatte ich dann auch verstanden, worum es ging. Und dann das mit dem Hochgebirge. Mönche mögen’s lustig, dachte ich, nun ja, warum nicht?
– Sag mal, Finanzamt, sprach ich zur Elster, die gerade durchs offene Fenster hereinlugte. Bolzplatzkonferenz, sagt dir das was?
Des Vogels Blick sagte mehr als tausend Worte.
– Okay, seufzte ich, dann erklär mir mal bitte, was da läuft.
Mehr mochte ich nicht fragen, obwohl ich hundert Fragen hatte. Aber dafür reichte die zurück gekommene Spucke dann doch noch nicht. Also legte ich mich aufs gemachte Bett und hörte lieb Finanzamt zu:
– Die Zusammenkunft startet um genau 1 Uhr nachts. Dann ist die Geisterstunde zu Ende und wir haben nichts mehr zu befürchten…
– Was redest du da?, entfuhr es mir, so einen Quatsch kannst du…
– Schäherz!, rief Finanzamt und rätschte belustigt, war nur ein Witz.
– 1 Uhr nachts, maulte ich, super Idee, wie soll ich denn um diese Zeit aus dem Haus kommen, dann zum Bolzplatz, durch die Dunkelheit, mitten in der Nacht?
– Zerbrich dir nicht den Kopf wegen dieser Bagatellen. Die Mönche werden für alles gesorgt haben. Und außerdem werde ich an deiner Seite sein beziehungsweise auf deiner Schulter. Und jetzt Ende der Diskussion, deine Eltern rufen nach dir. Ihr wolltet doch einen Ausflug machen, oder?
Das stimmte. Also sperrte ich die ganze Bolzplatzgeschichte in die sicherste Schublade meines Hirns und begab mich relativ unbeschwert in die sonntäglichen Aktivitäten. Auch am Montag und am Dienstag hielt die Schublade dicht. Am Mittwoch hatte ich sogar fast das Gefühl, dies alles nur geträumt zu haben.
In der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag schlief ich also tief und fest, als ich plötzlich eine vertraute elsterliche Stimme hörte:
– Karoline, aufwachen, it’s Bolzplatz-Time. Wir müssen ins Meeting.
Ich fuhr hoch, sofort hellwach. Um mich herum eine Glitzerglocke, vor mir Finanzamt und zwei kleine Mönche: Schlaukopf Ilhasa und der junge Ulhasa.
– Hallo Jungs, entfuhr es mir etwas despektierlich. Was macht ihr denn hier?
– Wir, edle junge Karoline, antwortete Ilhasa, wir kommen mit zur Bolzplatzkonferenz, denn dies ist ein sehr bedeutsames Ereignis im Bachwäldchen, und es stehen weitere bedeutsame Ereignisse bevor, also betrachten wir es als unerlässlich, heute Nacht präsent zu sein und allen mit Rat und gegebenenfalls auch mit Tat zur Seite zu stehen.
– Sag mal, Ilhasa, fragte ich, während ich mich rasch anzog und wäldchenfertig machte, hast du zufällig diese Textmitteilung von Sonntag an mich verbrochen?
Darauf Ilhasa etwas verwirrt:
– Äh, ja, warum?
– Ach, nichts. Und du, wandte ich mich an Ulhasa, was ist deine Rolle heute Nacht?
– Security. Trocken kam die Antwort, dazu unbeweglich die Gesichtszüge des hübschen kleinen Kerls. (Wieso ich das erwähne, mit dem hübsch? Lest ihr gleich.)
– Und daher diese Klamotten, die du da trägst?
Ulhasa nickte. Er hatte sein Mönchsgewand gegen ein etwas zusammengewürfeltes Outfit aus Jogginghose, T-Shirt, Chucks und Lederjacke eingetauscht. Auf dem Kopf eine schwarzgelbe Basecap mit BVB-Logo. Eigentlich, dachte ich, kann Ulhasa alles tragen, hübsch wie der ist. Aber als er die Lederjacke aufmachte, konnte ich lesen, was auf seinem T-Shirt stand: I shaved my balls for this. Ob ihm wohl klar war, dass bei seiner Winzigkeit das niemand lesen konnte. Es sei denn, er war genauso winzig:
– Ulhasa, sagte Ilhasa sanft, ich glaube, du schließt besser deine Jacke angesichts der zu erwartenden nächtlichen Kühle. Sehr gut, danke. Und nun los.
– Und meine Eltern?, wagte ich zu fragen.
– Die schlafen tief und fest und werden von all dem nichts mitbekommen.
Ulhasa machte ein kurze Bewegung mit der linken Hand – und mein Zimmer war leer.

 

Kapitel 5: Die Bolzplatzkonferenz

Um ein Uhr nachts kann so eine städtische Grünanlage, und eigentlich war das Bachwäldchen nichts anderes, ganz schön unheimlich sein. Denn für eine Grünanlage war das Wäldchen ziemlich verwildert. Und was schon bei Tag an manchen Stellen recht undurchdringlich aussah, war es bei Nacht umso mehr. Hinzu kam ein nächtlicher Soundtrack, den ich so noch nicht kannte: Es wisperte und knisterte, rauschte leise und knackte bedrohlich, während wir drei, für sonst niemanden wahrnehmbar, weil in unserer Glitzerglocke, den Weg entlang Richtung Bolzplatz gingen. Also gehen tat eigentlich nur ich, denn die beiden kleinen Mönche saßen rechts und links auf meinen Schultern. Finanzamt flog vor mir her. Als wir ankamen, lag der Bolzplatz in komplettem Dunkel. Der Eingang stand offen, klar, die Tür war schon vor langer Zeit gewaltsam entfernt worden. Als wir die Mitte des Platzes erreicht hatten und inne hielten, machte es plötzlich „Paff“ und der Bolzplatz lag in einem nicht zu hellen, milden Licht. Also, „Paff“ hat es natürlich nur in meinem Kopf gemacht, so ein Überraschungspaff. Ich sah mich um. Wir waren nicht allein. Um uns herum, über alle vier Seiten des Bolzplatzes am Zaun entlang verteilt, saßen Tiere. Sehr, sehr viele Tiere. Je nach ihren Möglichkeiten hatten sie es sich auf dem Boden, im Gitter des Zauns sowie oben auf dessen Oberkante gemütlich gemacht. Einige saßen auf den beiden Querlatten der beiden Eisentore. Wie gesagt: Bolzplatz. Promiplätze, dachte ich und begann, mir die Versammlung genauer anzuschauen. Ich schildere das jetzt mal in alphabetischer Reihenfolge, wobei möglich ist, dass ich das eine oder andere Viech vergessen habe. Hier also die Liste der erlauchten Teilnehmer der berühmten Bolzplatzkonferenz:

5 Amseln
4 Buchfinken
2 Bussarde, vermutlich ein Pärchen
10 Erdkröten
2 Eichelhäher
Elstern, ein ganzer Trupp, der wuselte immer dermaßen durcheinander, dass ich nicht genau zählen konnten, 8 vielleicht.
30 Eichhörnchen

1 Fasan
1 Fuchs
1 Graureiher
Glühwürmchen – unfassbar viele, da wurde mir plötzlich mir klar, woher die Beleuchtung kam
6 Grünspechte
Sehr, sehr viele Kaninchen
2 Krähen
2 Marder
19 Mauersegler – eher aus Neugierde, da nicht im Bachwäldchen wohnend und sowieso immer in der Luft
Mehr Mäuse als Kaninchen, also viele
3 bis 4 Meisenbanden
6 Ringeltauben
9 Rotkehlchen
ein kleiner Trupp Stare
2 Türkentauben
1 Waldkauz
2 Zwergfledermäuse

Dazu sehr, sehr viele Repräsentanten der sogenannten kleinen Bevölkerung: von A wie Ameise über M wie Motte bis zu S wie Spinne, W wie Wurm und Z wie Zecke.

Ich schaute durch den Gitterzaun in die Nacht hinaus. Alles dunkel, alles friedlich, kein Mensch zu sehen. Fragend sah ich Ilhasa an.
– Beruhige dich, liebste Karoline, niemand kann uns sehen, dann von außen betrachtet liegt der Bolzplatz in nächtlicher Dunkelheit, ganz normal, wie immer.
– Und wenn jetzt jemand kommt, um, was weiß ich, seinen Hund hier kacken zu lassen?
– Dies, meine kleine Freundin, werden unsere beiden Wächter dort (Ilhasa zeigte zum Eingang) zu verhindern wissen.
Mein Blick folgte dem Finger Ilhasas. Am Eingang sah ich einen Ulhasa in normal menschlicher Größe, und neben ihm den ja schon einschlägig bekannten großen Hund. Wobei, der Hund saß. Und Ulhasa lehnte betont lässig von außen am Gitterzaun.
– An denen kommt keiner vorbei, sagte Ilhasa.
– Auch nicht Stan Libuda?
– Wer? Selten, dass ich Ilhasa mal verdutzt sah, weil er was nicht kannte.
– Vergiss es, ist ein Witz von Papa.
Aber Ilhasa wischte und tippte schon wie wild auf seinem Smartphone herum. (Ja, die Burschis aus dem Kloster hatten sich inzwischen technologisch bestens akklimatisiert.)
– Reinhard Libuda, genannt Stan, hob er nach ein paar Sekunden an, war…
– Ilhasa, wir sind im Meeting! Finanzamt fuhr zum Glück dazwischen. Wir haben hier was ziemlich Wichtiges zu besprechen. Also, keine Referate bitte über verstorbene Fußballer.
– Und wie, fragte ich weiter, sollen wir uns jetzt mit all den Tieren unterhalten? Und wie unterhalten die sich jetzt untereinander?
Ilhasa zuckte kurz mit den Schultern:
– Na, wie immer. Wir sind im Glitzer, Karoline.

Dann wandten wir uns alle drei den versammelten Tieren zu.
– Liebe Tiere, begann Ilhasa, wir haben uns heute Nacht hier versammelt, weil es beunruhigende Nachrichten über das Bachwäldchen gibt. Einige Menschen planen irgendetwas, das möglicherweise schlimme Auswirkungen aufs Bachwäldchen und seine Bewohner hat. Andere Menschen verstehen weder Sinn und Zweck dieser Planungen und haben schon begonnen, dagegen zu protestieren. Wie immer haben die Menschen vergessen, euch, die direkt Betroffenen, zu fragen. Deshalb sind wir heute Nacht hier. Mich und meine Mitbrüder kennt ihr ja schon, und die werte Elster hier an meiner Seite auch. Der kleine weibliche Mensch hier neben mir ist Karoline, eine äußerst gute Freundin. Sie hat uns schon oft geholfen in so manchen Situationen.

Tausende Augenpaare und reichlich Facettenaugen richteten sich auf mich. Na warte, Ilhasa, dachte ich, über den kleinen weiblichen Menschen wird noch zu reden sein. Dabei lächelte ich freundlich, verbeugte mich mehrmals und sagte schließlich ganz lieb:
– Schönen guten Abend zusammen.
Wie Ilhasa angekündigt hatte, konnten wir uns tatsächlich wie selbstverständlich mit all diesen Tieren unterhalten. Viele Tiere grüßten zurück, andere winkten mit den entsprechenden Gliedmaßen, ein paar wedelten mit dem Schwanz. Kurz: Die Stimmung war entspannt.

– Wo sind denn die Maulwürfe?, fragte Ilhasa.
Allgemeines Gekicher:
– Die sind noch unterwegs!
– Stimmt, die suchen noch den Weg,.
– Vielleicht haben sie sich auch verlaufen.
– Die blinden Hühner, die.
– Nichts gegen Hühner, bitte!, rief der Fasan.
– Kann mal jemand schauen, wo die bleiben?, fragte ich. Allgemeine Verdutztheit. Da waren die Herrschaften noch gar nicht drauf gekommen.
– Ich flieg mal los und schau, wo sie bleiben, sagte der Waldkauz, ich kann von uns allen ja nachts am besten sehen.
– Okay, sprach Ilhasa, aber nicht gleich welche fressen, ja?
Ein paar Flügelschläge später war der Waldkauz lautlos in der Nacht verschwunden.
– Sag mal, Ilhasa, fragte ich, könnte ihr Superzaubermönche nicht dafür sorgen, dass die Maulwürfe anständig gucken können?
– Nein! Ilhasa schaute mich streng an. Wir helfen, wo nötig, aber wir spielen nicht an der Natur herum.
– Also auch keine Brillen?
Ilhasa schaute mich noch strenger an.
– Okay, meinte ich, war ja auch nur mal so ne Frage. Bin ja schon still.
Ilhasa seufzte kurz, und schritt die große Runde der Anwesenden ab.
– Werte Anwesende, wie vereinbart moderiere ich das jetzt mal, wobei ich darauf achten werde, dass alle, die etwas sagen wollen, auch zu Wort kommen. Vorab jedoch meine Frage an unsere Freunde, die Mäuse: Warum seid ihr denn gleich alle gekommen?
– Sind wir doch gar nicht, fiepte es im Chor zurück, wir sind doch nur je zwei Abgeordnete pro Mäuseclan.
– Seid fruchtbar und mehret euch, sprach der Herr zu den kleinen Nagern, raunte mir Finanzamt zu.
– Musst du gerade sagen, raunte ich zurück.
Bevor Finanzamt antworten konnte, erhob sich ein ohrenbetäubendes, zeterndes Gekreische: Ein Schwarm Halsbandsittiche jagte im Tiefflug über die Versammlung und ließ sich in den Ästen eines Baumes jenseits des Gitterzaunes nieder. (Für Tiere war die Versammlung sichtbar, schließlich sollten sie ja teilnehmen.)
– Hey Leute, schrien die grünen Krachmacher, was issen hier los? Was geht ab? Gibt es was umsonst? Wir wollen auch mitspielen!
Ilhasa schilderte in für ihn ganz ungewöhnlich knappen Worten, worum es ging. Er war sichtlich angenervt.
– Bääh, kreischten die Sittiche, wie langweilig. Interessiert uns nicht die Bohne. Was wohnt ihr auch in so einem ungepflegten Gelände. Wir haben unsere Nester im Stadtpark, allerbeste Lage, nicht son‘ Slum wie hier bei euch.
Und mit einem lauten „Ätsch! Ätsch! Ätsch!“ flog der ganze Schwarm von dannen. In die himmlische Ruhe hinein sagte eine der Erdkröten:
– Hirnlose Bande arroganter Arschlöcher.

Erdkröten, habe ich in dieser Nacht gelernt, können die Dinge manchmal äußerst drastisch auf den Punkt bringen.

Und das war nicht die einzige Erkenntnis, die ich nach Ende der Bolzplatzkonferenz mit nach Hause nahm. Doch soweit war es noch nicht. Denn jetzt begann sie endlich, die berühmte Bolzplatzkonferenz der Tiere des Bachwäldchens. Und sie verlief, das kann ich nicht anders bezeichnen, absolut vorbildlich.

Zuerst beschrieben Ilhasa und Finanzamt ausführlich die Pläne der Stadt: Ein neuer Kanal sollte gebaut werden, damit die Menschen vor künftigem Starkregen geschützt sind, also von der selbstgemachten Klimakrise nicht zu sehr behelligt würden. Dazu wiederum seien umfangreiche Rodungsarbeiten notwendig. Danach würde dann renaturiert. Die Anwesenden waren not amused und beschrieben nacheinander und äußerst diszipliniert ihre Sorgen und Ängste. Dann aber kochte doch der Zorn hoch:
– Alles machen diese Menschen kaputt.
– Wann haben wir von denen eigentlich mal was Gutes erfahren? Nie!
– Bisschen Alibi-Vögelfüttern im Winter mit diesem billigen Dreckszeug aus dem Discounter! Das waren die Meisen, die kannten sich aus.
– Aber es gibt ja auch Menschen, die wollen das alles verhindern, gab Ilhasa zu bedenken.
– Die denken doch auch nur an sich und ans Gassigehen mit ihren Kötern, riefen wütend die Kaninchen, und dann jagen uns diese besten Freunde des Menschen durchs Wäldchen.
– Und wenn sie uns nicht jagen, dann scheißen sie uns zu, sprach da der Fuchs, ich mach euch mal ne Rechung auf: Ein durchschnittlicher Hund kackt pro Woche zwei Kilo Scheiße, dann sind das im Jahr 104 Kilo. Hier im Bachwäldchen sind so an die 30 Hunde täglich unterwegs. 104 mal 30, das macht 3120. Im Klartext: Pro Jahr bekommt das Bachwäldchen über drei Tonnen Hundescheiße ab. Da weiß ich schon gar nicht mehr, wo ich noch hinkacken kann.
Ganz schön schlau, so ein Fuchs, dachte ich. Dann fiel mir Melanie ein und ich rief:
– Ja, aber es gibt auch ganz viele Menschen ohne Hunde, die das Bachwäldchen retten wollen. Richtig gute, nette Menschen sind das.
Allgemeines Gemurmel unter den Tieren. Dann meinte der Waldkauz, der inzwischen mit einem Trupp Maulwürfe zurückgekehrt war:
– Dann lasst uns mit den Menschen, die gegen diese Kanalsache sind, zusammenarbeiten. Wir können Verbündete gut gebrauchen.
– Ja, gute Idee! So machen wir das! Die sollen uns mal kennenlernen. Sollen sie ihren blöden Kanal doch woanders bauen. Power to the Bachwäldchen!
Alle schrieen wild durcheinander, so langsam kam revolutionäre Stimmung auf.
– Niemand braucht den scheiß Kanal! Niemand braucht den scheiß Kanal!, skandierten erst die Ameisen, und dann alle.

Ich sah Ilhasa an. Der zuckte mit den Schultern und sah dann Finanzamt an. Finanzamt sah zum Eingang. Dort war ein neuer Teilnehmer erschienen. Ulhasa und der große Hund hatten ihn hereingelassen, das zumindest war schon mal beruhigend. Dann sahen auch alle anderen zum Eingang, und es wurde von einer Sekunde auf die andere mucksmäuschenstill. Im Eingang stand eine Ratte. Ziemlich groß, grauschwarz, mit langem, nacktem Schwanz. In ihren Augen war etwas, eine Art Glanz, der mich komplett daran hinderte, diese Ratte eklig zu finden, was Menschen ja bekanntlich bei Ratten gerne tun, allem Ratatouille zum Trotz.
– Doch, sprach die Ratte, wir brauchen den neuen Kanal.
– Hallo Seneca, sagte Finanzamt.

Noch immer schwieg die Konferenz. Schließlich piepste ein Eichhörnchen die Frage in die Stille, die sich grad wohl alle stellten (bis auf Ilhasa und Finanzamt vielleicht):
– Was will die denn hier?
– Ganz einfach, sagt die Ratte (die eine männliche war), ich bin Delegierter aller Kanalratten der umliegenden Straßen und Wohngebiete. Ich bin gekommen, um euch zu erklären, was passiert, wenn der alte Regenwasserkanal des Bachwäldchens tilt geht und warum wir Kanalratten daher den Bau eines neuen unterstützen. Und keine Angst, fuhr Seneca fort, ich fasse mich kurz: Wenn der neue Regenwasserkanal nicht gebaut wird, werden bei den nächsten starken Regenfällen nicht nur die Keller der Menschen hier in der Gegend absaufen. Sondern auch wir Kanalratten. Und bei den folgenden starken Regenfällen wieder. Denn es werden in Zukunft viele starke Regen kommen, immer und immer wieder. Und immer mehr.
– Na, dann zieht doch einfach woanders hin, riefen ein paar Kaninchen.
– Wohin denn?, erwiderte Seneca. Etwa zu euch ins Bachwäldchen? Eure Erdbauten und Höhlen, eure Mauselöcher und Ameisenhügel werden irgendwann auch absaufen. Aber vielleicht ist ja noch Platz in den Nestern von Amsel, Drossel, Fink und Star…

Große Unruhe bei den Angesprochenen. Schließlich redeten und jammerten und schrieen alle durcheinander. Die Stimmung drohte zu kippen. Da ergriff Ilhasa wieder das Wort:
– Verehrte Freundinnen und Freunde, bitte, beruhigt euch.
Ilhasa machte eine weit ausholende, beruhigende Handbewegung. Das Streiten erstarb, alle Augen richteten sich auf den Mönch. Ilhasa fuhr fort:
– Ihr alle habt irgendwie Recht. Ihr, die Bewohner des Bachwäldchens, wollt nicht, dass euer Zuhause zerstört oder beschädigt wird. Seneca und die seinen wollen für sich dasselbe. Das Problem ist jetzt, dass der Nutzen der einen anscheinend zum Schaden der anderen wird. Ein zutiefst philosophisches Problem, das wir…
– Was ist ein Fisolofisch?, unterbrach ihn eine Ringeltaube.
– Kann man den essen?, fragte der Reiher.
– Haltet den Schnabel, giftete sie ein Marder an.
– Ein philosophisches Problem, Ilhasa ließ sich nicht beirren, ist ein Problem, dessen Lösung beim Erfassen der Wirklichkeit beginnt, dann kommt Nachdenken, aus dem dann gegebenenfalls ein sinnvolles, zielgerichtetes Handeln entstehen kann. Und genau dies werden meine Mitbrüder und ich als nächstes tun. Das Ziel dabei heißt: Möglichst viel Nutzen für möglichst viele. Karoline wird uns dabei unterstützen, vor allem, was die Beobachtung der weiteren Aktivitäten und Proteste der Menschen betrifft. Und Finanzamt wird euch über alles auf dem Laufenden halten.
Er schaute in die Runde.
– Lasst uns also mit dem Erfassen der Wirklichkeit beginnen, hier und jetzt. Sagt uns eure Ängste, Bedenken, Ideen – wir hören zu. Aber bitte bleibt entspannt und diszipliniert.

Und so geschah es. Eine Abordnung nach der anderen brachte ihr Anliegen vor. Ideen waren wenige darunter, dafür viele Ängste und Sätze wie „Ich will hier nicht weg!“ und „Wo sollen wir denn hin?“. Anfangs dauerte das noch, doch bald stellte sich eine gewisse Routine ein, es ging auch schneller, weil die Anliegen sich doch sehr stark ähnelten, so dass manche Tiere nur „Dasselbe wie mein Vorgänger“ oder etwas Ähnliches sagten. Dann waren wir durch.
– Hat jemand noch Fragen? Ilhasa schaute in die Runde. Ansonsten schlage ich vor, dass wir uns nun zu dem Rest Nachtruhe zurückziehen, der uns noch bleibt.

Dieser Vorschlag fand allgemeine Zustimmung. Im Osten wurde der Himmel langsam hell. Immer mehr Tiere hatten, je länger die Konferenz dauerte, ein Gähnen nicht mehr unterdrücken können. Nun waren alle froh, dass sie heim konnten in ihre Bauten, Höhlen, Nester, Hügel und anderen tierischen Unterkünfte.

Als alle fort waren, schnippste Ilhasa mit den Fingern. Der Glitzer verschwand, öd und leer und dunkel lag der Bolzplatz. Ulhasa und der große Hund hatten ihren Wachposten am Eingang verlassen, wünschten uns eine gute Nacht und waren, schwupp, weg.
– Schlaf schön, Karoline, sagte Finanzamt.
– Und träum was Schönes, fügte Ilhasa hinzu und schnippte noch mal mit den Fingern.
Dann stand ich wieder vor meinem Bett, zu Hause, in meinem Zimmer. Allein. Mit einem Seufzer machte ich mich bettfertig und schlüpfte unter die Decke.
– Manchmal gehen mir diese Ortswechsel dann doch ein bisschen zu schnell, dachte ich noch, und gut, dass ich morgen erst zur dritten Stunde in die Schule muss.
Dann war ich eingeschlafen.

 

Kapitel 6: Die Ruhe vor dem Sturm

„Während du schliefst“ war eine Zeitlang einer meiner Lieblingsfilme. Weil so schön romantisch. Und weil da eine Menge passierte, während jemand schlief. Warum ich das hier erzähle? Nun ja, weil während ich schlief, auch einiges passierte: Pafdautschiks hatten mobil gemacht.

Am folgenden Wochenende war der Weg durchs Bachwäldchen voll mit kleinen Plakaten und Flugblättern. Gedichte, mehr oder weniger gut und bekannt. Zitate von Leuten, mehr oder weniger berühmt. Dazu anklagende Sätze wie „Stoppt das Töten!“ oder „Erst sterben die Bäume, dann sterben die Tiere, dann sterben die Menschen.“ Papa, Mama und ich spazierten einmal rauf und runter, wobei Papa die seiner Meinung nach „schönsten“ Texte laut deklamierte. Mama war das ein bisschen peinlich. Mir auch.

Am Samstagmorgen fanden wir außerdem in unserem Briefkasten ein Flugblatt: „Rettet das Bachwäldchen! Auf zum Marsch gegen die Vernichtung! Kommt alle zur großen Demo am kommenden Sonntag!“ So die Überschriften im Text. Konkretes Datum war auch dabei. Absender war eine „BBW – Bürgerbewegung Bachwäldchen“, namentlich das Ehepaar Pafdautschik. Als Mitorganisatoren der Demo präsentierte das Flugblatt neben der Bürgerbewegung eine erstaunliche Mischung: zum einen Engelbert Blieb, Pfarrer der katholischen Kirchengemeinde Sankt Pankratius; zum anderen Leonard Beinreich, Pastor der evangelischen Kirchengemeinde Auferstehung; und als dritten im frommen Bunde Imam Mahmud al Tudis, Vorsteher der muslimischen Gemeinde. Starten sollte der „Marsch gegen die Vernichtung“ um 15 Uhr am westlichen Eingang zum Bachwäldchen, da, wo der Spazier- und Radweg begann. Dann wollte man den ganzen Weg lang laufen bis zu seinem östlichen Ende, an dem sich jener Bolzplatz befand, den wir ja schon von einer gewissen nächtlichen Konferenz her kennen. Hier sollte die, wie es hieß, zentrale Kundgebung stattfinden. Danach war ein Marsch zum Gemeindesaal von Sankt Pankratius geplant, in dem um 18 Uhr eine offizielle Informationsveranstaltung stattfinden würde. Dazu erwartete man Vertreter der Stadt, die sich bereit erklärt hatten, dem Volke Rede und Antwort zu stehen. Im Text standen drei Namen: Giselher Nibel, Ingenieur, Dezernent im Stadtbauamt; Rebekka Lichen-Stelzer, Ratsfrau; Rosemarie Stiepelhörn, stellvertretende Bürgermeisterin.

Das ganze Flugblatt war mit verschiedenen Buchstabengrößen, Textfarben und Symbolen versehen, dazu eine Art Gebietsplan mit dem Verlauf der Demo als rote Linie sowie, ebenfalls in Rot, einer Kennzeichnung des Weges zum Gemeindesaal. Dazu sehr, sehr viele Ausrufezeichen.
– Da war ein starker Gestaltungswille am Werk, stellte Mama trocken fest.
– Pafdautschiks machen echt mobil, meinte Papa.
– Und wen die alles mobilisieren, staunte Mama, die Katholiken, die Protestanten und sogar die Muslime. Das hab ich ja noch nie erlebt. Richtig schöne bunte Mischung wird das.
– Und, fragte ich aufgeregt, gehen wir da hin, zu der Veranstaltung? Ich war noch nie in so einem Gemeindesaal. Kommt auch das Fernsehen?
– 18 Uhr, brummte Papa, da muss ich in die Küche.
– Mann, sei flexibel, sagte Mama, wir gehen danach einfach zum Italiener im Kleingartengelände, lecker Pizza essen.
Ich klatschte begeistert in die Hände. Mama hatte immer wieder richtig super gute Ideen. Papa zuckte mit den Schultern, was bei ihm so viel hieß wie „Okay“.

Ich flitzte hinauf in mein Zimmer, setzte mich aufs Bett und konzentrierte mich auf die folgende Botschaft:
– Karoline an alle. Karoline an alle. Es tut sich was. Wir müssen reden.
Dann wartete ich. Seit dem Abenteuer mit den Elstern im Straßenbahndepot hatten die kleinen Mönche ihr Kommunikationssystem ständig optimiert. Inzwischen konnten wir uns über größere Distanzen telepathisch Botschaften schicken. Außerdem hatten sie die Fortbewegung innerhalb der Glitzerkugel perfektioniert, wie ich selbst erleben konnte vor und nach der Bolzplatzkonferenz. Allerdings waren hier die Distanzen, die zurückgelegt werden konnten, noch relativ kurz. Aber die kleinen Mönche wohnten ja bei uns im Haus. Da glitten sie auch oft und gern zu Fuß.

Es wisperte leise. Gleichzeitig klopfte Finanzamt an die Fensterscheibe. Während ich die Elster rein ließ, ging meine Zimmertür auf und die Mönche huschten ins Zimmer. Sie bildeten eine Glitzerglocke, die mich und Finanzamt auf- und mitnahm aufs Bett. Ich setzte mich, Finanzamt auf der Schulter:
– Hallo Männer, die gesamte Crew, wie komm‘ ich denn zu dieser Ehre?
Tatsächlich waren sie alle erschienen. Alle kleinen Mönche: Alhasa der weise Abt. Der stille Elhasa, der „Außenbeauftragte“. Der lange, hagere Ilhasa, der Gebildetste der fünf, heimlich auch „Klugscheißer“ geheißen. Dann der kleine, dicke Olhasa, mit dem Beinamen „Licht der geistigen Bescheidenheit“ versehen, dessen Fähigkeiten als exzellenter Koch noch eine kleine Rolle spielen sollten. Und natürlich Ulhasa, der coole, der wieder seine ganz normale Kutte trug.

– Ey Ulhasa, fragte ich, keine hippen Klamotten heute?
– Keine Ahnung, was du meinst, Karoline. Die Antwort kam knapp und schnell und ich merkte, dass ich mich verplappert hatte.
– Ooooh, was denn für hippe Klamotten? fragte denn auch prompt Olhasa.
– Äh, nichts, issen Insider, weißt du, Scherz zwischen Ulhasa und mir, stammelte ich, während ich den prüfenden Blick des mild lächelnden Alhasa auf mir ruhen fühlte.
Dann zauberte der Abt wie aus dem Nichts das Flugblatt unter seiner Kutte hervor:
– Ich denke, unsere liebe Freundin Karoline möchte mit uns über dieses Werk und wie wir damit umgehen sprechen.
Ich nickte heftig. Woher wusste Alhasa das denn auch schon wieder? Aber zum Wundern bliebt mir keine Zeit, denn plötzlich redeten alle Mönche durcheinander:
­– Sollen wir auch teilnehmen? Heimlich und klein oder etwa in Originalgröße? Treten wir als Religionsgemeinschaft auf? Oder als Kloster? Darf ich mich verkleiden?
Als letzter meldete sich Olhasa zu Wort:
– Ooooh, die Leute werden eine Zeitlang an der frischen Luft sein. Das macht Appetit. Soll ich ein kleines Büfett im Gemeindesaal vorbereiten?
Alhasa seufzte leise. Das genügte. Alles verstummte und hörte zu:
– Ja, wir werden teilnehmen an der Menschen Auflauf. Heimlich und klein und nicht in unserer wirklichen Größe. Und schon gar nicht verkleidet. (Kurzer Blick zu Ulhasa.) Ich erinnere daran, dass wir den Glitzerstaub tranken, damals im Kloster, um klein zu werden und gewisse Fähigkeiten zu erlangen. Und dass wir erst wieder groß werden können, wenn wir wieder solchen Glitzerstaub trinken. Nicht irgendwo, sondern in unserem Kloster.
– Aber Ulhasa war doch bei der Bolzplatzkonferenz normal groß, um mit dem großen Hund Wache zu halten, wagte ich zu bemerken.
– Das war eine der Ausnahmen, die wir uns erlauben dürfen, aber wir dürfen es damit nicht übertreiben, sonst setzen wir die Existenz des gesamten Zaubers und letztendlich des Klosters aufs Spiel.
– Wenn es unser Kloster überhaupt noch gibt, seufzte Elhasa.
Alhasa schaute ihn streng an:
– Das Kloster wird sein, immerdar. Und, fuhr er fort, vergesst auch nicht, dass wir unsere Fähigkeiten verlieren, sobald wir zu lange oder auf immer wieder groß sind. So ist das nun mal: Man kann nicht das eine bekommen, ohne auf etwas anderes zu verzichten. Die Welt des Beides ist eine Welt, die sich so lange selbst verzehrt, bis es sie nicht mehr gibt.
Irgendwie wurde mir mulmig bei diesen Sätzen. Lebte ich, lebten wir, Mama, Papa, Karoline nicht in einer solchen Beides-Welt? Alhasa Stimme riss mich aus meinen Gedanken:
– Und daher treten wir auch weder als Religionsgemeinschaft noch als Kloster auf. Und was das Buffet betrifft, der Abt wandte sich nun direkt an Olhasa, der sichtlich kleiner wurde (also noch kleiner): Da hast du freie Hand. Aber lass dich ja nicht erwischen!
– Was genau ist dein Plan, edler Abt?, fragte Ilhasa.
– Wir werden uns verteilen. Über das gesamte Bachwäldchen. Jeder bekommt einen Beobachtungsposten zugeteilt. Von dem aus heißt es dann horchen, schauen und sich alles merken. Karoline wird am Protestmarsch teilnehmen und uns ihre Gedanken mitteilen, was sie hört und sieht und sonst so mitbekommt. (Lächelnd wandte sich Alhasa mir zu). Wie nennt ihr modernen Menschen das noch mal? Live-Übertragung?
Ich nickte nur. Bei Alhasa wusste ich manchmal nicht, ob er sich nun lustig machte über mich oder einfach nur auf eine unfassbar weise Art sehr schnell lernte.
– In diesem Falle von jedem ein bisschen, liebe Karoline, was aber nicht heißt: beides. Verflixt, meine Gedanken. Die waren ja wie sprechen, wenn ich mit den kleinen Mönchen oder Finanzamt zusammen war. Überhaupt, wo war die Elster? Grad war sie noch auf meiner Schulter. Ich schaute zum Fenster: offen.
– Freundin Finanzamt ist los, um die Tiere des Bachwäldchens über den geplanten menschlichen Aufmarsch zu informieren, beantwortete Alhasa meine Frage. (Um dann fortzufahren:) Und nun wird uns Elhasa über die Inhalte und Ziele der Demonstration und der anschließenden Versammlung informieren sowie uns die wichtigsten Protagonisten vorstellen. Denn wie heißt es doch so schön: Was du vorher weißt, musst du nachher nicht lernen. Elhasa, du hast das Wort.

Vier Mönche und Karoline bildeten nun einen kleinen Kreis, in den ein sich räuspernder Elhasa trat. Er war halt etwas schüchtern.
– Nun denn, hob er an, nun denn. (Räuspern.) Beginnen wir mit den Protagonisten.
– Prota was?, unterbrach ich.
– Zentrale, aktive Gestalt einer Erzählung, eines Filmes oder, wie in unserem Fall, eines Ereignisses, erklärte Ilhasa für seine Verhältnisse ungewöhnlich kurz und knapp.
– Also, fuhr Elhasa unbeirrt fort, die Protagonisten. Wo da sind zu allererst ein gewisser Hans-Adolf Pafdautschik und seine Gattin Magdalene.
– Echt voll die schrägen Namen, entfuhr es mir.
– Die Eheleute Pafdautschik, Elhasa blieb unbeirrt, zeichnen sich aus durch eine explosive Mischung aus Engagement, Leidenschaft und dem Gefühl großer Bedeutsamkeit. Sie schimpfen gern und oft über etwas, das sie „das System“ nennen, womit sie die bestehenden gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse meinen, die zugegebenermaßen tatsächlich in vielen Punkten verbesserungswürdig sind. Die Eheleute Pafdautschik, die seit kurzem hier wohnen, engagieren sich an der Seite von Melanie Mauerbaum und vielen weiteren Anwohnern im, wie sie es nennen, „Kampf um das Bachwäldchen“. Dabei nehmen sie ganz eindeutig eine Führungsrolle ein, was die anderen ganz angenehm finden, weil sie dann nicht so viel selbst machen müssen. Frau Mauerbaum hat ihre Kindheit hier verbracht und pflegt seit ihrer Rückkehr wieder eine intensive Beziehung zum Bachwäldchen und seiner, wie sie sagt, „schützenswerten bedrohten Natur“. Sie ist bei einigen Menschen hier noch von früher her bekannt und beliebt, sehr intelligent – sie hat Tiermedizin studiert – und ist, wenn ich mir die Bemerkung gestatten darf, sehr hübsch.
– Das erinnert mich, bemerkte Ilhasa, an den griechischen Begriff der Kalogathia, das Ideal der Verbindung von körperlicher Schönheit und geistigen Vorzügen zu einer ganzheitlichen Vortrefflichkeit, Arete genannt…
– Ilhasa!, mahnte Ulhasa ungeduldig.
– …Man kann darüber nachlesen, z.B. bei Platon und Seneca und…
– Ey, rief ich, ich kenne einen Seneca!
– Ilhasa, bitte!, Ulhasa wurde lauter.
– Ein großer deutscher Dichter der Romantik, Friedrich Hölder…
Ilhasa brach ab. Abt Alhasa hatte mit seinem kleinen Finger der linken Hand ein Zeichen gemacht. Das reichte. Elhasa fuhr fort:
– Man kann also sagen: Hans-Adolf und Magdalene Pafdautschik sind die Initiatoren der Bürgerbewegung. Melanie Mauerbaum hat die Verbindungen in die Nachbarschaft und Umgebung sowie die Macht der Gefühle. Werfen wir nun einen Blick auf die weiteren Protagonisten. Da wäre zum Ersten: Pfarrer Engelbert Blieb, Kopf der lokalen katholischen Kirchengemeinde Sankt Pankratius. Ihm zur Seite Schwester Apollinia, von der Jugend despektierlich „Schwester Eiskaltes Händchen“ genannt, was weniger auf ihr hohes Alter – sie ist sehr rüstig – als mehr auf ihren niedrigen Blutdruck zurückzuführen ist. Da wäre zum Zweiten Pastor Leonard Beinreich, Kopf der lokalen evangelischen Kirchengemeinde Auferstehung. Die Ehe ist kinderlos. Beide Gemeindechefs, Pfarrer Blieb wie auch Pastor Beinreich, kämpfen seit Jahren gegen die schwindende Zahl der Gemeindemitglieder, manchmal auch gegeneinander um neue. Kurz: Beide Kirchen wieder etwas zu füllen ist oberstes Gebot der beiden Herren, sozusagen das elfte. Da kommt ihnen der Kampf ums Bachwäldchens gerade recht. Hier wollen sie Flagge, Pardon, Kruzifix zeigen.
– Kruzifix, klingt irgendwie nach einem gallischen Krieger. Das dachte ich, ganz ehrlich, ganz vorsichtig nur für mich. Doch was geschah? Elhasa hielt kurz inne, damit alle zu Ende schmunzeln konnten. Dann fuhr er fort:
– Der dritte im religiösen Bunde hat diese Probleme nicht. Imam Mahmud al Tudis, Vorsteher der lokalen muslimischen Gemeinde, ist zurzeit auf der Suche nach einem Grundstück für eine zu bauende Moschee, die aktuell als Provisorium in einem ehemaligen Autohaus installiert ist. Und da ist, so drückt er sich aus, die Bude jeden Freitag voll. Sein Ziel ist Akzeptanz im deutschen Umfeld, genauer gesagt: Jemand, der ihm ein Grundstück für die Moschee verkauft. Das Bauen, so Mahmud al Tudis, geschieht dann durch Gottes Hand.
– Welchen Gott meint der denn?, fragte Ulhasa. Anscheinend sind da drei am Start.
– Zwei, mein lieber Bruder, korrigierte ihn der gebildete Ilhasa, es handelt sich zum einen um den Gott der Religion namens Islam, also den Gott der Muslime, den diese auf Arabisch Allah nennen, was übersetzt Gott bedeutet. Und dann ist da der Gott der Christen, über dessen Deutung, Anbetung und Interpretation Katholiken und Protestanten unterschiedlicher Meinungen sind, was in der Vergangenheit oft zu sehr blutigen Auseinandersetzungen geführt hat, zum Beispiel im Dreißigjährigen Krieg. Und bei den Muslimen gibt es übrigens etwas Ähnliches, da liegen sich bis heute Sunniten und Schiiten immer mal wieder gern in den Haaren bzw. den Bärten, zum Beispiel aktuell…
– Danke, Bruder, das reicht mir so, unterbrach in Ulhasa etwas barsch, was ihm auch gleich einen missbilligenden Blick des Abtes einbrachte.
– Dreißigjähriger Krieg, staunte ich mit leichtem Gruseln, heißt das, die haben 30 Jahre lang Krieg geführt? Wo denn? Und wann?
– Von 1618 bis 1648, in Deutschland, oder besser, auf dem Gebiet, das heute Deutschland ist. Ilhasa war immer noch im Historiker-Modus. Den Rest erzähle ich dir später, einverstanden, liebe Karoline?
Ich nickte. Elhasa schaute in die Runde und machte dabei ein Kann-ich-jetzt-endlich-weitermachen-Gesicht. Jetzt nickten alle.
– Nun denn, wie dem Flugblatt zu entnehmen ist, startet die Demonstration um 15 Uhr. Dann soll es rauf und runter gehen durchs Bachwäldchen und anliegende Straßen. Zwischendurch noch eine Kundgebung auf dem Bolzplatz. Zum Schluss ziehen alle zur Bürgerinformationsveranstaltung der Stadt im Gemeindesaal von Sankt Pankratius. Dort können dann unter Umständen Getümmel und Getobe nicht ausgeschlossen werden.
– Das werden wir ja dann erleben, sagte Alhasa.
– Erleben?, fragte ich, wollt ihr da etwa auch dabei sein? Wie soll das denn gehen? Steck ich euch dann alle Fünfe in meine Jackentasche oder was?
– Das, meine ungeduldige Freundin, wirst du noch beizeiten erfahren.
Und damit beendete der alte Abt das Treffen. Die fünf Mönchlein verbeugten sich wie immer förmlich und feierlich. Bevor sie alle weg waren, sagte Elhasa noch etwas:
– Ach ja, eh ich’s vergesse: Die Pafdautschiks sind nicht immer sehr nett zu Melanie Mauerbaum. Anscheinend stellt sie zu viele Fragen.
– Klingt interessant, meine Ulhasa.
Dann erlosch der Glitzerdom, die kleinen Mönche zischten davon und ich war wieder allein.

Das restliche Wochenende sowie die darauf folgende Woche verliefen ereignislos und ruhig. „Das ist die Ruhe vor dem Sturm…“, sang Papa grinsend, während er des Abends in der Küche stand und kochte.

 

7. Prozession im Bachwäldchen

Am folgenden Sonntag war es dann soweit: Demo-Time. Vorher brachte mir Finanzamt einen kleinen Glitzerstern. Den sollte ich mir in die Ohrmuschel kleben, was ich auch tat. Er haftete von selbst. Als ich Finanzamt fragte, wozu das gut sein, wo wir doch so prima telepathisch miteinander sprachen, meinte sie, das sei so eine Art Konferenzglitzer, extra für solche Anlässe wie diesen. Wie so eine Art Video-Konferenz, nur ohne Video. Auch Finanzamt trug an diesem Tag so einen kleinen Glitzerstern. Dann ging ich mit meinen Eltern zum Bachwäldchen, um uns den „Marsch gegen die Vernichtung“ anzuschauen. Die Sonne schien und es war lecker warm. Also, wie Papa sagt, ideales Demo-Wetter.

Am Kopf des Demonstrationszuges: zwei Polizisten zu Pferd, einer weiblich, einer männlich.
– Schau an, schau an, murmelte Papa, Bullerei goes öko, und das auch noch schön geschlechtsparitätisch.
– Schschscht, machte Mama.
In gehörigem Sicherheitsabstand dahinter, und somit prozessionstechnisch ganz weit vorn: die Pafdautschiks mit Melanie. Zusammen mit sechs Frauen aus der Nachbarschaft trugen sie ein Banner mit einer Aufschrift, die sie auch immer wieder skandierten: „Bachwäldchen darf nicht sterben!“ Mit dabei: Der Amokdackel, der allerdings meist mit den beiden Pferden beschäftigt war, was weder den Pferden noch den Polizisten besonders gefiel.
– Holen Sie Ihre Hund zurück, rief schließlich die junge Polizisten, worauf Frau Pafdautschiks mit einen „Der tut doch gar nichts!“ den Amokdackel über die Langlaufleine zu sich heraunzog.

Hinter dieser also schon recht unterhaltsamen Spitze des Demonstrationszuges ging es unterhaltsam weiter. Da marschierte der Pfarrer der katholischen Kirchengemeinde Sankt Pankratius, Engelbert Blieb. An seiner Seite zwei Messdiener, der eine trug ein großes Kreuz, der andere einen dampfenden Weihrauchkessel. Wenn die Pafdautschiks, Melanie und die sechs Frauen mal Pause machten mit dem Geschrei, blieb der Pfarrer stehen und sprach schöne Sätze über die Natur, den lieben Gott und die Menschen, die an ihn glauben und die Natur schützen müssen. Dann segnete er Fauna und Flora des Bachwäldchens, indem er seine Hände erst ausbreitete und dann das Kreuzzeichen machte. Schwester Apollinia, von der Jugend despektierlich „Schwester Eiskaltes Händchen“ genannt, gab dann dem Messdiener jedes Mal ein Zeichen, worauf dieser den Weihrauchkessel kreisen ließ. Das dampfte ganz schön und roch ein wenig betäubend. Begleitet wurde Schwester Apollinia von den recht betagten, aber rüstigen männlichen und weiblichen Mitgliedern des Gemeinderates. Alle sehr ernst.

Nach jedem Halt bzw. jeder Segnung und Beweihräucherung erarbeiteten sich Pafdautschiks und Kompanie einen kleinen Vorsprung, was sie in ihrem Eifer immer etwas spät bemerkten. Dann aber hielten sie inne, und insbesondere die Frauen schienen darüber sichtlich erleichtert zu sein. Sie ließen das Banner sinken und verschnauften, während Hans-Adolf Pafdautschik ungeduldig von einem Fuß auf den anderen trat. Dann ruckelte der Demonstrationszug wieder an.

An uns vorbei zogen nun Pastor Leonard Beinreich von evangelischen Kirchengemeinde Auferstehung nebst Frau und den ebenfalls nicht mehr ganz jungen Damen und Herren seines Gemeinderates. Sie schauten alle sehr betroffen drein und sangen hin und wieder ein besinnliches Lied über Bäume, Natur, Liebe und Leben, wobei sie sich von einer hübschen jungen blonden Frau auf der Gitarre begleiten ließen.

Nach einer kleinen Lücke folgten die Mitglieder der muslimischen Gemeinde. Erst die Männer, dann die Frauen und Kinder. Niemand sang. Niemand sprach. Niemand segnete. Immerhin: Imam Mahmud al Tudis und einige der Männer trugen Schilder, auf denen stand „Rettet unsere Oase“.
Nun folgten eine Gruppe Jungschützen, eine Gruppe Altschützen und eine Gruppe sehr alter Schützen. Alle in vollem Ornat. Bei dem einen oder anderen lugte eine Flasche aus der Jackentasche. „Energydrinks, flüsterte Papa.

Mit ein wenig Abstand dann eine bunte Mischung aus der Nachbarschaft. Die vereinigten Gassigeher, das war klar. Aber auch so manche Nachbarin, so mancher Nachbar, von dem wir das nicht erwartet hätten: der nette KFZ-Schrauber, ausnahmsweise ohne Auto; die coolen Söhne der Familie gegenüber, mit Freundinnen; natürlich auch meine Freundinnen aus der Schule und dem „Dörfchen“, die mir begeistert zuwinkten: „Komm mit, Karoline, ist lustig!“

Den Abschluss der Demo bildeten die Eltern, Erzieherinnen und Erzieher sowie ein lärmender, lustiger Haufen von Kindern aus den drei Kitas „Bachwäldchenland“, „Waldpiraten“ und „Kleine Strauchdiebe“. Hier hatten sich auch ein paar Bewohner des Seniorenheimes der evangelischen Gemeinde mit ihren Rollatoren in die Demo verirrt, als sie ihren üblichen Sonntagsnachmittagsspaziergang machten. Diese blieben aber im Verlauf des Marsches immer weiter zurück und begnügten sich schließlich damit, von einer Bank aus das Ganze mehr oder weniger wohlwollend zu kommentieren.

Hinter dem Ende der Prozession ging dann noch ein schon etwas älterer, mürrisch dreinschauender Polizist. Ui, dachte ich, der Dorfsheriff. Wir Kinder nannten diesen Ordnungshüter so, weil er es mit der Ordnung ganz, ganz aber auch ganz genau nahm und uns bei jeder passenden Gelegenheit anschnauzte und belehrte. Um ehrlich zu sein: Er flößte uns Angst ein, und deshalb machten wir wann immer möglich einen großen Bogen um ihn.

Mama, Papa und ich latschten dann in einigem Abstand hinter dem Demonstrationszug her, der schließlich auf dem Bolzplatz einen Kreis bildete, in dessen Mitte die Pafdautschiks, Melanie, die sechs Damen sowie die drei Repräsentanten der drei Gemeinden standen.

– Alhasa an alle, tönte es mir im Kopf (oder im Ohr?), „keine besonderen Vorkommnisse bis jetzt. Karoline und Finanzamt mögen der Versammlung und den Reden beiwohnen. Wir Mönche begeben uns derweil schon mal in den Gemeindesaal. Bis später. Roger und Ende.“
Dieser Alhasa. „Roger und Ende“. Wo hatte er das nun schon wieder her? Ich blieb so abrupt stehen, dass Mama fast in mich hinein gelaufen wäre.
– Roger und Ende, sagte ich laut und dachte dann: Ups!
– Kind, mit wem sprichst du?, fragte da auch schon Mama.
– Och, das issen Insider aus der Schule, meinte ich und fügte grinsend hinzu: Nichts für Erwachsene.
– Mädels, kommt ihr?, rief Papa, der schon weitergegangen war.

Als wir den Bolzplatz erreichten, war der inzwischen rappelvoll. Also gesellten wir uns zu den Leuten, die sich rund um den Platz am Zaun entlang aufgereiht hatten. Wir bekamen so gerade noch das Ende der Rede von Pfarrer Blieb mit:
–…. und somit beten wir zum Herrn, dass er schütze das Bachwäldchen und alle seine Be- und Anwohner: Vater unser…
Sein protestantischer Kollege zupfte ihn am Gewand:
– Lieber Kollege, ich glaube, das muss hier und jetzt nicht sein.
Pfarrer Blieb hielt inne, schaute sich um und in viele fragende Gesichter.
– Ach so, ja, richtig, ist vielleicht tatsächlich, also, bitte, Herr Kollege, wenn Sie jetzt, oder vielleicht der Herr Paf…wie war noch mal der werte Name?
Der Träger des werten Namens schien darauf nur gewartet zu haben. Wie aus dem Nichts zauberte er ein Megafon hervor und wetterte los:
– Liebe Anwohnerinnen und Anwohner des Bachwäldchens. Liebe Mitmenschen! Wir haben uns heute hier versammelt, um zu verhindern, was in Deutschland viel zu oft, ja, praktisch jeden Tag geschieht: die Vernichtung von Natur.
Allgemeines, zustimmendes Gebrummel. Vereinzelte Rufe wie „Genau!“, „Richtig!“ oder „Geht ja gar nicht!“. Pafdautschik fuhr fort:
– Diesem System, nach dem diese Stadt regiert wird, ist es egal, ob hier Natur und Kreatur leiden und vernichtet werden. Das sind doch alles seelenlose Bürokraten und Technokraten, denen es am Arsch vorbei geht, ob wir hier noch frische Luft zum Atmen haben oder nicht. Ob wir, ob unsere Kinder noch eine gesunde, lebenswerte Zukunft haben…

Und so ging das noch eine gefühlte Ewigkeit weiter. Ich hatte den Eindruck, Pafdautschik machte die ganze Welt irgendwie für alles Schlechte in eben dieser Welt verantwortlich. Sich natürlich ausgenommen. Und alle, die gerade um ihn herum standen und immer wieder klatschten oder Zustimmendes riefen. Ich hatte längst auf Durchzug geschaltet, und wie Mama und Papa dreinschauten, sie auch. Aus dem Glitzer hörte ich ab und zu Seufzen und Stöhnen und ein „Ist der bald fertig?“, das ziemlich nach Ulhasa klang.
– Und jetzt, Pafdautschik riss mich aus meinem Dösen, und jetzt wollen wir mal hören, was die Herrschaften von der Stadt uns zu sagen haben. Lassen wir die Mörder des Bachwäldchens uns ihre ach so hehren und wichtigen Gründe fürs Töten sagen – und sie ihnen dann in ihr verlogenes Maul zurück stopfen. Auf geht’s!

Im allgemeinen Durcheinander des Aufbruchs verlor ich kurz meine Eltern aus den Augen. Während ich noch Ausschau nach ihnen hielt, fand ich mich plötzlich hinter den Pafdautschiks und ihrem Amokdackel wieder, der mich zum Glück nicht bemerkte, weil er dauern an einer ziemlich aufgeregten Melanie hochsprang. Die ging neben den Pafdautschiks und sprach auf sie ein. Und was sie sagte, hatte es in sich:
– Lieber Herr Pafdautschik, war das nicht ein bisschen übertrieben?, fragte sie.
– Wieso?, gab Pafdautschik unwirsch zurück.
– Na, Ihre ganze Ausdrucksweise, so brutal, so irgendwie menschenverachtend, ich mein…
– Sie meinen, Sie meinen, ätzte da Pafdautschik los, was Sie meinen, interessiert keine Sau. Mit dem System musst du gnadenlosen Klartext reden, sonst passiert da gar nichts.
– Kindchen, sagte Frau Pafdautschik, das ist genau die Sprache, die die da oben verstehen.
– Frau Pafdautschik, Herr Pafdautschik, bitte…
Aber da stand Melanie schon allein inmitten der ganzen Leute, die sich an ihr vorbei Richtung Gemeindesaal aufgemacht hatten.
– Wenn er mit der Sau sich gemeint hat, liegt er vielleicht nicht ganz falsch. Ups, das war mir einfach so raus gerutscht.
Die junge Frau drehte sich um. Braune Melanieaugen in graugrüne Karolinenaugen.
– Tschuldigung, aber ich fand die beiden grad wirklich nicht nett.
– Weißt du, sagte sie, ich auch nicht. Gehst du auch zur Infoveranstaltung?
Ich nickte.
– Eigentlich bin ich mit meinen Eltern hier, aber die sind wohl schon unterwegs.
– Würde es dir was ausmachen, mit mir zu gehen?
Wieder braune Melanieaugen in graugrüne Karolinenaugen.
– Geh mit ihr! Das war Alhasa. Und versuche, ihr ein paar Dinge klar zu machen. Erzähl ihr von Seneca.
– Ich soll ihr von Seneca erzählen? Wie wär’s, wenn ich gleich noch Finanzamt mit einbaue? Erschreckt hielt ich mir die Hand vor den Mund. Hatte ich etwa wieder laut gedacht?
– Okay, dann lassen Sie uns gehen, sagte ich zu Melanie.
– Kannst ruhig du zu mir sagen. Ich heiße Melanie.
– Ich weiß. Ich bin Karoline.
– Ich weiß.
Dann mussten wir beide lachen und gingen los.
– Wer ist denn dieser Seneca? Arbeitet der beim Finanzamt?

 

Kapitel 8: Melanie wird eingeweiht

Ich hielt Melanie am Arm fest.
– Lass uns bitte warten, bis die ganzen Leute weg sind, sagte ich. Melanie sah mich fragend an.
– Komm, fuhr ich fort, lass uns da auf der Bank ein wenig quatschen.
Wir hatten uns kaum gesetzt, da tauchte Finanzamt auf, setzte sich flugs auf Melanies Schulter und machte kurz mit dem Schnabel an ihrem Ohr rum. Etwas sehr Kleines glitzerte kurz auf, dann fuchtelte Melanie schon wie wild um ihren Kopf herum.
– Huch, was war das? War das ein Vogel? Was will der von mir? Warum macht der das? Und was hat der mit meinem Ohr gema….
– Hoch ehrwürdige Melanie, bitte beruhige dich, ertönte da Alhasa Stimme in meinem Kopf. (Wir erinnern uns: die Glitzer-Live-Schalte.) Und so, wie Melanie jetzt guckte, hörte sie Alhasas Stimme ebenfalls. Ich ergriff ihre Hände und drückte sie fest.
– Keine Panik, Melanie, ich höre auch die Stimme in meinem Kopf. Du musst keine Angst haben. Wir sind hier bei den Guten. Es ist wie immer: Du sprichst deine Gedanken aus, ganz normal mit dem Mund. Und gleichzeitig können ein paar Leutchen in ihrem Kopf hören, was du sagst. Also ich, aber auch einige, die gar nicht hier sind.
– Du meinst…, Melanie fasste sich erstaunlich schnell wieder, obwohl ihr noch hörbar die Worte fehlte.
– Ja, sagte ich, ich meine Telepathie. Und zu deiner Beruhigung: Ich war anfangs genauso baff. Aber man gewöhnt sich dran. Und nun lehn dich einfach ganz entspannt zurück, halt den Kopf in die Sonne und hör gut zu. Es wird dir jetzt alles erklärt. Papa nennt so was Briefing.
Ab dann saß ich nur noch wie träumend auf der Bank neben Melanie. Ich hatte Alhasa vorher schnell gebeten, mich aus dem Gespräch mit Melanie rauszunehmen, da ich das alles ja schon kannte und außerdem so besser auf uns beide aufpassen konnte. Also saß ich da, baumelte ein wenig mit den Beinen, schaute in der Gegend rum und ab und zu auf meine neue große Freundin, die da ganz still neben mit saß. Manchmal nickte sie, manchmal lächelte sie. Als sie einmal laut lachte, tippe ich sie an:
– Pokerface, Melanie, Pokerface. Zum Glück waren wir inzwischen ganz allein. Hoppla, dachte ich, alle weg. Die Versammlung! Wie spät haben wir?
– Ich hör nichts mehr. Das was Melanie.
– Was war denn das Letzte?
– Wir sehen uns bestimmt noch, hochverehrte Melanie, bis bald. Ab dann war’s still.
– Tja, dann hatte Alhasa auch nichts mehr zu sagen. Die Konferenz ist beendet. Und du solltest jetzt Bescheid wissen.
Melanie nickte ernst.
– Das kann man so sagen, allerdings. Und wie geht’s jetzt weiter?
– Wie spät ist es?
– Oh, gleich sieben.
– Dann müssen wir jetzt ganz schnell zur Versammlung. Die läuft schon seit einer Stunde.

Und während wir strammen Sturmschrittes zur Versammlung eilten, bemerkte ich aus dem Augenwinkel, wie der kleine Glitzerstern aus Melanies Ohr fiel und sich – plupp – in nichts auflöste. Jetzt war sie wirklich off, während ich plötzlich ein „Oooh, das scheint denen ja geschmeckt zu haben“ hörte, und so zwar nicht verstand, wovon Olhasa da sprach, aber wusste, dass ich wieder online war. Als wir den Eingang des Gemeindesaales erreichten, hielt ich Melanie kurz zurück.
– Was ich dir noch sagen wollte: Unter den Leuten, die eure Petition im Internet unterstützen, sind ganz viele, die wohnen gar nicht hier, sondern irgendwo in Deutschland, die können gar nicht wissen, was hier läuft. Das haben die kleinen Mönche rausgefunden.
Melanie seufzte nur. Doch ich war noch nicht fertig.
– Aber das Wichtigste, das Allerwichtigste ist, dass du über alles, was du jetzt weißt, mit niemandem, der das alles nicht weiß, sprechen darfst. Mit niemandem. Niemals.
– Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst, hoch verehrte Karoline, grinste Melanie.
Schau an, dachte ich, so kann sie also auch sein.
– Na, dann ist ja gut. Und nun nix wie rein

 

Kapitel 9: Die Zusammenbrauung

Kaum hatten wir die Außentür geöffnet, schallte es uns schon mächtig entgegen: laute Stimmen, Rufen, Schimpfen. Als wir dann den Saal betraten, trauten wir weder unseren Augen noch Ohren: Es herrschte Aufruhr, aber übelst. Allen voran: Pafdautschiks. Melanie und ich wechselten kurz einen Blick und ich sah: Etwas hatte sich in ihr verändert. Sie sah die Welt, und vor allem ihre merkwürdigen Verbündeten, die Pafdautschiks, mit anderen Augen.

Vorsichtig tasteten wir uns an der Wand entlang bis zu einem Punkt, von dem aus wir alles recht gut überblicken konnten.
– Siehst du meine Eltern?, fragte ich Melanie. Die schüttelte den Kopf.
– Deine Eltern stehen hinten am Notausgang, die sind schlau.
Das war Ulhasa in meinem Kopf. Die kleinen Mönche waren also auch da, irgendwo, gut getarnt. Das gab mir plötzlich ein wohltuendes Gefühl der Sicherheit, und so ließ ich meinen Blick durch den Saal schweifen:
– Und wo sind die Chefs von den Religionen?
Ulhasa-Kichern:
– Die haben sich diskret zurückgezogen. Eine solch weltliche Veranstaltung sei nichts für sie, haben sie gesagt.
Ich schaute mich weiter um. Rechts sah ich einen großen, mit wenigen Speiseresten und vielen leeren Platten und Tellern, benutzten Gläsern und schmutzigem Besteck übersäten Tisch. Das musste das Büfett gewesen sein. Und anscheinend hatte es allen geschmeckt. Das war Olhasas Werk. Der kleine dicke Kulinariker hatte sich wie versprochen ein wenig ums Catering gekümmert. Wir erinnern uns: „Soll ich ein kleines Büfett im Gemeindesaal vorbereiten?“ hatte Olhasa gefragt. Und der alte Abt hatte ihm „freie Hand“ gelassen, er solle sich nur nicht erwischen lassen. Also hatte Olhasa, wie er sich später ausdrückte, am Büffet eine „kleine Verschönerungsoooperation“ durchgeführt.

Im Saal wogte eine tumultige Menge, wild gestikulierend. Am anderen Ende sah ich ein Podium. Auf dem saßen hinter ein paar zusammengeschobenen Tischen völlig verschüchtert und ängstlich die Leute von der Stadt. Direkt vor dem Podium standen die Pafdautschiks mit ihrem Amokdackel, sozusagen als Hauptprotestler und Einpeitscher. Melanie, die sich im Vorfeld schlau gemacht hatte, erklärte:
– Die Dame in der Mitte ist Rosemarie Stiepelhörn, die stellvertretende Bürgermeisterin. Links von ihr, das ist Rebekka Lichen-Stelzer, die ist Ratsfrau hier aus dem Stadtteil. Und rechts, der junge Typ, das ist Giselher Nibel. Denn kannte ich vorher gar nicht. Der ist Ingenieur und Dezernent im Stadtbauamt. Also zuständig für die Planung und Umsetzung des Projekts.
– Der sieht nett aus, meinte ich.
– Findest du?

An der Rückwand des Podiums hatte man einen riesengroßen Bildschirm aufgehängt. Auf dem war eine junge Frau mit blau-orange gefärbtem Kurzhaarschnitt zugeschaltet. Der Ingenieur stellte sie gerade als Diplom-Biologin und Landschaftsschutzexpertin vor. Die junge Frau war sichtlich unbeeindruckt von den vielen empörten Menschen da unten im Saal.
– Ich glaub’s nicht, flüsterte Melanie mir ins Ohr, das ist Anna-Lena, eine gute Freundin von mir, schon seit unserer Kindheit. Das die hier auftaucht, das ist ja echt ein Ding.
Gerade versuchte die junge Frau auf dem Monitor die Fakten sachlich zu erklären:
– Wir machen nur eine Schneise von rund 10 Metern Breite, da wo jetzt der Weg ist, und danach wird schön wieder aufgeforstet. Hochwertig, sagte sie.
Und Giselher ergänzte:
– Der Weg ist ja jetzt auch schon 3 Meter breit, dazu der Streifen rechts und links, der unbewachsen ist, noch mal je 1 Meter, macht zusammen 5 Meter, und dann kommen noch mal 5 Meter neu dazu, also je 2,50 Meter rechts und links, so viel ist das doch gar nicht.

Keine Chance. Die Pafdautschiks empörten sich, der Amokdackel kläffte wie blöd (Frau Pafdautschik ließ im so viel Leine, dass er immer wieder am Podium hochspringen konnte, das er schon ziemlich zugesabbert hatte) und zum Schluss tobte fast der ganze Saal. Und über allem dann die Stimme des Herrn Pafdautschik:
– Das ist also eure Methode! Lecker Essen und Trinken auftischen, die Leute einlullen nach dem Motto „Wes Fraß ich fresse, des Lied ich singe“. Magen voll, Hirn leer. Nein, so läuft das nicht! Und dann diese pseudo-ökologische sogenannte Fachfrau. Hey, Sie da auffem Schirm, wieso haben Sie sich nicht hierher getraut? Lieber auf Nummer Sicher gehen beim Lügen, was?
Tobender Applaus. Buhrufe. Herkommen sollse, jawoll!
– Oh Gott, dachte ich, die Arme.
Doch die junge Frau hielt kühl und abgeklärt dagegen:
– Wollen oder können Sie nicht verstehen, dass wir alles tun, um die Natur zu schonen? Wir warten zum Beispiel noch zwei Wochen mit dem Beginn der Arbeiten, bis dass die Vögel definitiv nicht mehr nisten und brüten.
– Hört, hört, rief Pafdautschik, die Dame kennt sich tatsächlich mit Vögeln aus.
Brüllendes Gelächter. Die Diplom-Biologin auf dem Bildschirm runzelte kurz verächtlich die Stirn – dann war der Bildschirm schwarz. Die beiden Damen auf dem Podium schauten fassungslos, nur Giselher versuchte, etwas zu sagen, aber zu spät: Es tobte der ganze Saal sein Nein zur Maßnahme. Erste Haut-ab-Rufe ertönten. Ich drehte mich um nach Melanie. Sie stand nur da, die Hände vors Gesicht geschlagen und schüttelt langsam den Kopf. Inzwischen hatten die zwei Vertreterinnen der Stadt das Podium und den Saal unter lauten Buhrufen und schrillem Pfeifen fluchtartig verlassen. Pafdautschik schrie ihnen hinterher:
– Ja, haut nur ab, aber seid sicher: Wir werden da sein!

Während das Volk nun ebenfalls den Saal verließ, hochzufrieden und begeistert ob seines Erfolges, mit roten Köpfen und breitem Grinsen, kämpften Melanie und ich uns zu meinen Eltern durch.
– Krasse Aktion, meinte Papa.
– Da haben Sie sich ja feine Verbündete ausgesucht, sagte Mama zu Melanie. Hätte sie nicht sagen sollen. Melanie, die sich bis dahin anscheinend noch irgendwie beherrscht hatte, brach nun in Tränen aus. Mama ging schnurstracks in den Wiedergutmachmodus und nahm Melanie in beide Arme:
– Ist ja nicht Ihre Schuld, sagte sie, konnten Sie ja nicht ahnen, dass die so sind.
Melanie löste sich langsam aus Mamas Umarmung.
– Danke, flüsterte sie, ich muss mal ganz schnell wohin.
– Das Klo ist dahinten, sagte Papa. Aber Melanie verschwand durch die Eingangstür. Wir drei folgten langsam. Draußen standen Melanie und die Pafdautschiks und unterhielten sich, umtost vom Amokdackel, ich sag mal, ziemlich intensiv. Dann schrie Pafdautschik:
– Stellen Sie nicht so an, verdammt noch mal, das sind doch alles nur Funktionaten. Die haben es nicht anders verdient. Mit denen könntest du auch ein KZ betreiben. Und außerdem müssen wir jetzt los, wir haben einiges zu organisieren. Und dabei können wir Weicheier wie Sie nicht gebrauchen.

Und zack, ließen sie Melanie einfach stehen, stiegen in ihr Auto und fuhren davon – und zwar dermaßen heftig, dass der kläffende und geifernde Amokdackel hinten an der ohnehin schon vollgeschmierten Heckscheibe klebte. Das war das Letzte, was wir von den Pafdautschkis an diesem Abend zu sehen bekamen.
– Das arme Tier. (Das war Alhasa in einem Kopf.) Es wird sehr schlecht ernährt, das spüre ich, und deshalb hat es auch dieses furchtbare Karma.
Ich nickte und sah mich um: Wo war Melanie?
– Geh mal rechts um die Ecke. (Schon wieder Alhasa.) Aber diskret, bitte.
Ich natürlich losgepirscht, um die Ecke und in wen laufe ich da rein? In Melanie und diesen Ingenieur. Also, eigentlich in den Ingenieur. Rumms, volles Produkt. Und gleich dann die Frage:
– Oh, kleine Dame, hast du dir weh getan? Entschuldige bitte, ich habe dich nicht gesehen.
– Das ist Karoline, sagte Melanie, wir sind seit Kurzem Freundinnen.
– Ziemlich beste Freundinnen, ergänzte ich stolz.
– Ich habe Herrn Nibel gefragt, ob er mir noch mal erklären möchte, wozu da ein neuer Kanal gebaut werden soll.
– Muss, Pardon, muss. Aber ja, mache ich gern. Haben Sie noch Zeit dabei? Dann machen wir es jetzt sofort. Steht ja noch alles betriebsbereit im Saal, die Unterlagen sind da, und ich würde mich so sehr freuen, wenn mir heute Abend noch irgendjemand zuhört.

Inzwischen waren wir drei bei meinen Eltern angelangt. Als die vernahmen, was wir vorhatten, meinte beide „Pizza kann warten“ und kamen mit. Wir setzten uns alle aufs Podium, der Ingenieur schaltete seinen Computer ein, dann den großen Bildschirm, die erste Grafik erschien und er legte los. Hier die karolinische Zusammenfassung seiner sehr ausgedehnten Argumente und Ausführungen:

„Gemäß Wasserhaushaltsgesetz sind Kommunen abwasserbeseitigungspflichtig. Die Abwasserbeseitigung ist ein wesentlicher Teil der Daseinsvorsorge und dient daneben auch dem Schutz vor Überflutungen und der Umwelt.“ (Das ist nicht von mir, das ist Behördendeutsch.) Da Starkregen immer öfter auftrat, und Überflutungen immer wahrscheinlich wurden, und da der Regenwasserkanal schon 60 Jahre alt war, hatte der Ingenieur sich gedacht: Schau ich doch mal nach. Dann schilderte der Ingenieur – ab jetzt nenne ich ihn Giselher, das macht die Sache, auch im Verlauf diese Geschichte, einfacher – die Ergebnisse einer von ihm und seinen Mitarbeitern durchgeführten TV-Inspektion, also mit Kamera. Sie hatten dies gesehen: Ganz viele Risse, dazu ganz viele Wurzeln, die von allen Seiten in die Kanalröhre reinwuchsen. Die könnte jederzeit einstürzen. Und dann würde das Wasser nicht mehr gezielt abgeleitet und es würde irgendwo auftauchen, wo es nicht auftauchen sollte. Also müsste schnell was Neues her. Sie hätten auch alle möglichen Alternativen geprüft und wären zu dem Ergebnis gekommen, dass es so am besten sei für Natur und Menschen. Aber, und hier zuckte er resignierend mit den Schultern und schüttelte gleichzeitig traurig den Kopf (probiert das mal, ist gar nicht so einfach), das alles wollte ja niemand hören.
– Dann wissen wir ja jetzt Bescheid und können heute Abend nichts mehr tun. Papa klatschte in die Hände und schaute Mama und mich auffordernd an: Gehen wir dann jetzt Pizza essen?
– Ich muss noch abbauen, sagte Giselher. Schönen Abend noch.
– Und ich sammel mir noch ein paar Info-Unterlagen zusammen, sagte Melanie. Und zu mir: Lasst es euch schmecken.
Draußen sagte ich zu Mama und Papa:
– Geht schon mal vor, ich muss noch schnell aufs Klo.
– Kannste doch auch in der Pizzeria, meinte Papa.
– Nee, nee, viel zu weit!, rief ich über die Schulter und war schon durch die Tür rein. Als ich aus dem WC wieder raus wollte, merkte ich, dass Melanie mit Giselher vor der Tür stand. Da ich diese schon einen Spalt geöffnete hatte, bekam ich mit, was sie erzählten:
– Also, ähem, ich würde das gern mal sehen, also den Kanal, die Röhre und so. Und zwar in echt.
– Wirklich, ja, das ist, das finde ich, also, das finde ich total schön, also, nein, nicht schön, nein nein, sondern dass das Sie so interessiert, also wirklich, gern, warum nicht? Wissen Sie was? Ich muss da sowieso noch mal hin und ein paar weitere Aufnahmen machen. In drei Tagen, um 13 Uhr, wäre Ihnen das recht? Dann ist nicht viel los im Bachwäldchen, wir wären ziemlich ungestört. (Hustenanfall, Räuspern) Nein, nein, Pardon, ich meine, dass wir dann keine Protestler am Hals haben. Und die Gassigeher sind alle beim Mittagessen.
– Giselher, hörte ich Melanie sanft antworten, das passt schon. Ich verstehe das ganz richtig. Machen Sie sich keine Sorgen. Bis in drei Tagen dann. Machen Sie’s gut bis dahin.
– Äh, danke, ja, Sie auch, äh…
Durch den Türschlitz sah ich, wie sich Melanie am Ausgang noch mal umdrehte. Sie lächelte.
– Ich heiße übrigens Melanie.

(Fortsetzung folgt Juli 24)