Ein Reisebericht über ein gescheitertes Weihnachtspräsent.

Irgendwo in den unendlichen weiten jenes Pazifischen Ozeans, den man aus unerklärlichen Gründen auch den „stillen“ nennt, auf einer Insel namens Hawaii, gibt es ein Salz, das so lecker schmeckt, dass ich an einem Spätsommertag des Jahres 2023 beschloss, dorthin aufzubrechen, um es im Dezember als kleines Weihnachtspräsent einer erlesenen Handvoll wunderbarer Menschen zu überreichen. Falls Sie jetzt denken „Bisschen früh dafür“, kann ich Ihnen aus jammervoller Erfahrung nur sagen: Es ist für so etwas nie zu früh, aber oft zu spät.

Also bereitete ich eines Abends in meinem Büro in Düsseldorf-Oberkassel mein aufblasbares Faltboot vor und machte mich in der Dämmerung auf den Weg. Zunächst war ich recht faul und ließ mich einfach den Rhein hinunter treiben. In Holland kaufte ich mir eine große Portion Pommes mit Majo, an der ich bis in die Nordsee hinein zu knacken hatte. Zum Glück hatte ich auch einen Kasten Heineken und eine Flasche Bessen Genever gekauft, so dass ich mich gründlich therapieren konnte. Kurz vor Calais krempelte ich dann die Ärmel hoch und machte mich an die Überquerung des Atlantischen Ozeans. Doch dies war nicht so einfach, wie ich dachte.

Schon auf der Höhe von Cherbourg geriet ich in eine der berüchtigten Calvadosuntiefen, in die ich mit meinem Playmobil-Klappspaten große normannische Löcher schaufeln musste, um mein aufblasbares Faltboot wieder flott zu machen. Anschließend nahm ich erschöpft Kurs auf den Mont Saint-Michel, oder besser gesagt: Die aufkommende Flut trieb mich förmlich dorthin. Und das war ja auch mein Plan. Ich wollte mich von der Flut bis ans Ende der Bucht tragen lassen, dort ein Ründchen schlafen, um mich ein paar Stunden später von der Ebbe wieder aufs offene Meer schlürfen zu lassen. Wie jeder weiß, sind die Gezeiten am Mont Saint-Michel außergewöhnlich stark. Also machte ich mir meine ungeheuren physikalischen Kenntnisse aus meiner Zeit am Max-Planck-Institut zunutze und errechnete einfallswinkelausfallswinkelmäßig, dass mich das Meer, also die extreme Ebbe, mit ihrer ernormen Saugkraft sozusagen aus der Bucht heraus katapultieren und weit auf den Atlantik hinaus schleudern würde. Ist das nicht gefährlich? werden Sie jetzt denken, vor allem mit so einem kleinen Boot? Ich kann Sie beruhigen: Es ist überhaupt nicht gefährlich. Schon gar nicht mit einem aufblasbaren Faltboot. Diese Art Wasserfahrzeuge ist dafür geradezu prädestiniert. Gesagt, getan. Die Ebbe kam und erfasste mich und mein Geschwimms. Es gab ein fürchterliches, saugendes, schmatzendes Geräusch, als sich die Ebbe mit ihren nach vorn gestülpten, salzigen Lippen uns einverleibte. Mein aufblasbares Faltboot ächzte und zitterte, die Heineken-Flaschen flogen mir nur so um die Ohren, dann wurde alles zappenduster und plötzlich wieder hell.

Um mich herum sah ich nichts als die endlose Weite des Atlantiks, in dem ein paar holländische Bierflaschen dümpelten. Dann durchfuhr mich ein heißer Schreck, ich suchte das Boot verzweifelt ab, bis mir klar wurde: Ich hatte den Bessen Genever verloren. Und außerdem keine Ahnung, in welche Richtung ich fahren sollte. Aber wie so oft in meinem Leben halfen mir auch dieses Mal die Tiere des Ozeans. Myriaden wohlschmeckender Garnelen umklammerten die im Wasser treibenden Heineken-Bierflaschen und platzierten sie in einer langen Reihe über tausende von Seemeilen auf der Meeresoberfläche, so dass ich nur noch an ihnen entlang zu paddeln brauchte. Das Wunderbare dabei war: Jede Bierflasche, an der ich vorbei war, diente mir anschließend als erfrischendes Kaltgetränk.

So gelangte ich schon nach wenigen Wochen an die Mündung des Panamakanals. Den wollte ich durchqueren, um dann ruckzuck durch den Pazifik Richtung Hawaii und schwarzes Meersalz zu düsen. Am Eingang zum Panamakanal, vor den riesigen Toren der Schleuse, zückte ich sozusagen als Eintrittskarte meine Tigerente und hielt sie in das helle Licht der aufgehenden Sonne. Das hätte ich nicht tun sollen. Denn statt der erwarteten Freude empfing mich Hohn: „Schaut mal, der in seinem blöden, aufblasbaren Faltboot. Mit alberner Tigerente. Oh wie schön ist Panama! Denkste, Alter, Panama ist nicht schön! Panama ist scheiße! Und jetzt verpiss dich, bevor wir das Feuer eröffnen!“ Und schon warfen die ersten panamesischen Schleusenwärter abwassergefüllte Brustkaramellentüten nach mir. Von Entsetzen erfüllt, paddelte ich zurück. (Zum Glück bekam ich nichts mit vom Shitstorm in den asozialen Hetzwerken, hatte ich doch auf Madeira mein Smartphone gegen eine alte Seekarte eingetauscht, welche mir noch gute Dienste leisten sollte.)

Vor Jamaika legte ich erst mal eine Zigarettenpause ein. Was nun? Wie kam ich jetzt nach Hawaii? Ich konnte mein aufblasbares Faltboot ja schließlich nicht quer durch Mexiko ziehen, so über Land. Das wäre kaputt gegangen. Während ich dem davon ziehenden Rauch hinterher starrte, kam mir eine Idee: Ich würde die Segnungen des Klimawandels ausnutzen und durch die Nord-West-Passage fahren. Ich würde der erste Mensch sein, der dies mit einem aufblasbaren Faltboot tut. Ich checkte kurz meine Vorräte: Luft fürs Faltboot, Paddel – alles da. Nur kein Bier mehr. Dafür entdeckte ich in einer eigens dazu geschaffenen Falte der Außenhaut meines Bootes ein volle Tüte Brustkaramellen. Das würde reichen.

Voller Zuversicht brach ich auf, richtete den Bug gen Norden und ließ die warme Karibik hinter mir. (Dass gerade tropische Wirbelsturm-Saison war, machte mir nichts aus: Ich bin prinzipiell immer im Auge des Hurricanes unterwegs.) Hinter Kuba nahm ich Kurs West Richtung Florida und fuhr ab da die gesamte Ostküste der Vereinigten Staaten von Amerika entlang, vorbei an den ganzen berühmten Städten, die in den Roland-Emmerich-Filmen immer so kaputt gemacht werden. Na ja, Emmerich hat im 2. Weltkrieg auch ganz schön gelitten. Und Rees erst. Und Wesel. Aber ich schwafel ab. Weiter im Norden war dann irgendwann endlich Schluss mit USA. Da fing dann Kanada an. Das ist noch größer. Mit noch mehr Küste. Und jeder Menge Inseln davor. „Kanada“, sagt mein Frau, „zipfelt sich doch da draußen so aus.“ Recht hat sie. Weiter nördlich kommen noch mal wieder die USA, als Alaska getarnt. Aber da musste ich jetzt durch.

Vorsichtshalber hielt ich mich immer nahe an der Küste. Dies führte zu wunderbaren Begegnungen mit den dort ansässigen Inuit, die sich vor allem von meinen Brustkaramellen begeistert zeigten und mich für eine einzige Brustkaramelle mit Eisbärfellen, Seehundspeck und getrocknetem Walrossdung überhäuften. Mein aufblasbares Faltboot lag entsprechend tief im Wasser, als ich kurz nach Mitternacht vom Atlantischen in den Pazifischen Ozean hinüberglitt, leise eine Mischung aus russischer und amerikanischer Nationalhymne pfeifend. Anschließend fuhr ich die Küste von erst Alaska und dann Kanada entlang nach Süden, bis Vancouver. Hier tauschte ich die Gaben der Inuit gegen einen leistungsfähigen Außenbordmotor und reichlich Benzin ein. Besonders der Walrossdung, den ich, dekorativ in meine alte Seekarte eingeschlagen, als Authentic-Inuit-Ganja präsentierte, erzielte in der Altstadt von Vancouver Höchstpreise. Am Morgen meiner Abfahrt Richtung Hawaii stand die halbe Stadt am Ufer und winkte mit Eishockeyschlägern hinter mir her. Kanadier können sich freuen wie Kinder.

Der Pazifische Ozean. Der Stille Ozean. Der Blaue Riese. Das Über-Meer. Die Große Pfütze. Fröhlich knatterte der Außenborder, und ich freute mich irgendwie auf Südseemädchen. Die Zeit verging wie im Flug, obwohl ich mich ausschließlich auf dem Wasser fortbewegte. Unterwegs erblickte ich durch mein Fernglas eine Flotte merkwürdiger Schiffe voller merkwürdiger kleiner Flugzeuge und noch merkwürdiger aussehender Japaner, aber vielleicht war es auch nur eine Luftspiegelung auf der Meeresoberfläche. Es blieb ja auch alles ruhig.

Woran erkennt man, dass man sich Hawaii nähert? Treiben Blütenkränze auf den Wellen? Brausen unglaublich gut gebaute und unglaublich schöne Surferinnen und Surfer heran? Stimmen die fliegenden Fische plötzlich tropische Weisen an, so herzergreifend, so verlockend? Oder sieht man am Horizont einfach nur die größten Vulkane der Erde auftauchen? Ich will es hier verraten: Alles ist richtig. Hawaii besitzt sogar den eigentlich höchsten Berg der Erde. Weil die Hawaiianer aber so bescheiden sind, haben sie die Hälfte des Berges im Meer versteckt. Während ich also so vor den Inseln auf- und abkreuzte zwischen Blütenkränzen und Wellenreiterinnen und -reitern, umtost vom Gesang der fliegenden Fische, beschäftigte mich nur ein Gedanke: Wie kam ich jetzt an das schwarze Meersalz? Ich wusste, dass es auf der Insel Molokai hergestellt wird. Die liegt genau in der Mitte der Inselkette. Ich hatte aber auch gehört, dass die Hawaiianer in Sachen Salz keinen Spaß verstanden und vor allem das schwarze Meersalz scharf bewachen ließen. Und zwar von keinem Geringeren als von Tom Seleck.

Mir war klar: Wenn der mich sieht, dann ruft der sofort bei der Küstenwache oder, noch
schlimmer, bei diesem Typen mit den Dobermännern an. Was also tun? Da kam mir das fest in
mein aufblasbares Faltboot eingebaute, große Eisfach zu Hilfe. Dessen Tür ging urplötzlich auf,
das Innenlicht an und ich sah: 20 Großpackungen Magnum in unterschiedlichen
Geschmacksrichtungen. Der Rest war dann nur noch Routine: Alle Magnums rein in ein Paket und
ab die Post damit an Tom Selleck. Während der sich dann ein Magnum nach dem anderen
reinschob, darüber seine Aufgaben, seine Wachsamkeit und sein Telefon vergaß, drang ich im
nebelverhangenen Morgengrauen ins Salzlager ein und entwendete mir nichts dir nichts 56.000
Reagenzgläser mit jeweils 50 Gramm herrlichen Hawaiianischen schwarzen Meersalzes.

Als Tom Selleck schließlich nach dem letzten Magnum merkte, wie geschickt ich ihn herein gelegt hatte, war ich längst schon wieder draußen auf dem Meer, unterwegs Richtung Süden. Wieso Süden? Ganz einfach: Richtung Norden kannte ich ja schon. Mir stand wie so oft der Sinn nach Neuem. Panamakanal war ausgeschlossen, denn ich nahm an, dass an der Pazifikschleuse ähnlich unfreundliches Volk versammelt war. Daher hatte ich beschlossen, es den wirklich großen Seefahrern nachzutun und um Kap Hoorn herum zu fahren. Ich hatte noch Benzin, mein Paddel und meinen Playmobil-Klappspaten. Leider waren die Brustkaramellen aufgebraucht – ich hatte mit ihnen eine atemberaubend attraktive junge Surferin bestochen, die mich bei meiner Landung auf Molokai erwischt hatte. Dennoch würde ich weder Durst noch Hunger erleiden müssen. Denn ich hatte auf Höhe der Galapagos-Inseln eine wunderbare Entdeckung gemacht: Mein aufblasbares Faltboot verfügte über einen doppelten Boden! Darin verborgen: 487 Dosen original Arabisches Reiterfleisch mit extra viel Soße, nach einem Rezept von Clemens Wilmenrod, die erst seit knapp 28 Jahren abgelaufen waren. Also voll essbar, wenn auch ein wenig fad. Aber ich hatte ja das tolle Salz!

So zog ich schmausend und schmatzend Richtung Kap Hoorn, entlang der langen langen südamerikanischen Küste, die Kordilleren immer im Blick. Einmal schwebte von rechts, also von Westen, über die Wellen eine Art ätherischer Gesang zu mir. Dieser kam von den Galapagosinseln, und was ich hörte, waren die Paarungschöre der dort ansässigen, riesigen Landschildkröten. Es singen übrigens nur die Weibchen, die alle mit Vornamen Sirene heißen. Doch nun genug der Ornithologie und zurück zum „Remero más solitario al oeste de Lima“, wie die peruanischen Zeitungen mich nannten.

Kurz vor der Magellanstraße war das Benzin alle. Ich musste Kap Hoorn also umpaddeln. Wie immer war viel los an der Südspitze Amerikas: Weltumsegler, Einhandsegler, Einbeinsegler, vier zweijährige Windelsegler, ein 91 Jahre alter Seniorensegler sowie drei Deutschland-Achter. Wie immer war das Wetter entsetzlich: Sturm, Regen, Kälte, riesige Wellenberge. Wer sich ein Bild davon machen will, was ich durchgemacht habe, dem empfehle ich die Kap-Hoorn-Szene aus dem Film „Master and Commander“.

Irgendwann war es dann vorbei. Ich wachte auf, um mich herum war Stille. Ich wusste nicht, wo
ich war, welcher Tag war oder wohin ich trieb. Ich war wohl ohnmächtig geworden. Schwer
angeschlagen kränkte mein aufblasbares Faltboot im Wasser. Es hatte sehr viel Luft verloren.
Das konnte gefährlich werden. Zumal plötzlich an der Wasseroberfläche jene dreieckigen Flossen
auftauchten, die in der Regel nichts Gutes verheißen. Shark Attack! fuhr es mir durch den Kopf.
Ich ging in den Angriffsmodus. Wo waren meine Konservendosen mit arabischem Reiterfleisch?
Dem ersten Hai eine rein ins weit aufgerissene, gierige Maul. Zack dem nächsten! Und dem
nächsten! Plötzlich gab es einen Knall. Einer der Haie hatte seine Dose zerbissen und ihren Inhalt
verschluckt. Schon explodierte der zweite, dritte, vierte Hai. Die restlichen 87 fielen über die
Fetzen ihrer Artgenossen her. Das Wasser war dermaßen mit Blut getränkt, das ich beschloss,
diesen Teil des Atlantiks in einem feierlichen Akt „Das rote Meer“ zu taufen. Anschließend zog
ich mich diskret zurück und betrachte seit diesem Tag arabisches Reiterfleisch mit anderen
Augen.

Die Haie hatte ich also überstanden. Aber mein Boot sank. Ich brauchte Luft! Und dieses Mal schickte mir der Atlantische Ozean in seiner unendlichen Güte wahre, selbstlose Hilfe: Ein Wal tauchte neben mir aus der Tiefe, erkannte meine Not, legte sich auf die Seite und blies mein Faltboot wieder auf. Wal, da bläst er – nie waren mir diese Worte so lieb wie an diesem Tag.

Inzwischen hatte ich den Äquator überquert. Ich kam gut voran, weil der Wal mein Faltboot so
stramm aufgeblasen hatte, dass es trotz seiner gewaltigen Salz- und abnehmenden
Reiterfleischladung ungemein stromlinienförmig über die Wellen glitt. Bald schon grüßten
rechter Hand die Kanaren, und in der Luft lag ein Duft von Sahara und Afrika. Es muss in diesem
Augenblick gewesen sein, dass ich beschloss, nicht außen um Europa herum zu fahren, sondern
durchs Mittelmeer bis nach Marseille und dann zur Rhonemündung und die Rhone hoch, durch die
französischen Kanäle zum Rhein und den dann runter bis nach Hause. Also rein in die Straße von
Gibraltar, schön rechts halten und schön aufpassen, denn da ist immer viel Verkehr. Hat auch
alles gut geklappt. Aber dann muss ich wohl einen Moment nicht aufgepasst haben, hatte
vielleicht auch grad zu viel Kraft in den Armen, weil zwei Dosen arabisches Reiterfleisch intus –
jedenfalls gab es plötzlich einen gewaltigen Knall, Wasser spritzte hoch auf vor dem Bug meines
Bootes und als ich mich umsah, kam ein Kanonenboot volles Rohr auf mich zugebraust. An Bord
lauter kleinwüchsige, ältere Männer mit extrem straffen Gesichtszügen, die alle eng anliegende
grün-weiß-rote Matrosenanzüge trugen, durcheinander eine Art Vulgärlatein sprachen, mit
angespitzten Maccharoni drohten und alle aussahen wie Silvio Berlusconi. Ich war in meinem Elan
in italienischen Hoheitsgewässern gelandet, genauer gesagt: vor der Küste Sardiniens. Und die
berlusconische Privatküstenwache hielt mich doch glatt für eine Art Selbstmordattentäter,
bereit, mit seinem mit Unmengen Sprengstoff gefüllten Boot in die an der Küste gelegene
Residenz des Silvio Berlusconi zu rauschen. Kurze Zeit später stand ich mit meinem Faltboot, den
restlichen 36 Dosen arabischen Reiterfleisches sowie 56.000 Reagenzgläsern mit Hawaiianischem
schwarzen Meersalz vor einem weiteren, sehr gestrafften Silvio Berlusconi. Dieses Mal, das
merkte ich schon am Palast, in dem das Ganze stattfand, sowie an den zahlreichen, leicht
bekleideten jungen Damen, handelte es sich um das Original. Berlusconi war nicht so blöd, wie
seine Doppelgänger aussahen, und hatte schnell erkannt, was er da für einen Fang gemacht
hatte. Mit seinem fröhlichen, aber leider ständigen Grinsen im Gesicht erzählte er mir von
seinem lieben, leider viel zu früh verstorbenen Freund Muammar Abu Minyar al-Gaddafi, der
eine ganz besondere Form der Gastfreundschaft pflegte: Kam ein Ausländer nach Libyen zu
Besuch, aus einem, sagen wir mal: wohlhabenden Land, dann durfte er so lange die
Gastfreundschaft Libyens genießen, bis dass jemand die leider ziemlich teure Ausreise bezahlt
hatte. Das, so Berlusconi, sei doch wirklich ein gute Idee, und er werde gleich mal die Anna-Lena
anrufen.

(Exkurs: Nun werden Sie denken, was auch ich dachte: Moment, der Berlusconi, der ist doch vor
Kurzem erst gestorben. Wieso… Ein dröhnendes Gelächter – Teuflisch? Infernalisch? Dämonisch? –
unterbrach mein Grübeln, und ich beschloss, vorsichtshalber nicht weiter drüber nachzudenken.
Und nun zurück zur Erzählung.)

Ich ahnte, dass sich das alles ab jetzt arg in die Länge ziehen konnte und meinen gesamten Zeitplan – der Advent kam schließlich immer näher – über den Haufen werfen würde. Also beschloss ich, meine Ausreise selbst zu bezahlen und bot Berlusconi für meine sofortige Freilassung sämtliche 36 Konserven arabischen Reiterfleisches und ein Reagenzglas schwarzes Salz an. Als Berlusconi das hörte, wurde er fuchsteufelswild: Fleisch von arabischen Reitern, das sei ja wohl die Höhe, das könne er den Schwestern und Brüdern Italiens nicht zumuten. Zornig rief er immer wieder einen komischen Namen mit M oder so. Da wusste ich, es wurde ernst. Also habe ich schnell einen alternativen Vorschlag gemacht: Alle Reagenzgläser mit Salz und nur eine Dose Reiterfleisch. Berlusconi kostete das Salz und war einverstanden. Er war sogar so begeistert vom Geschmack des Salzes, dass er mir ein Reagenzglas mit Salz schenkte und ich auch das Reiterfleisch behalten durfte. Danach machte ich mich schnell übers Mittelmeer davon. Mein aufblasbares Faltboot war ja jetzt wieder ganz leicht: nur noch ich, mein Paddel, mein Playmobil-Klappspaten und ein Reagenzglas voll mit herrlichem schwarzen Meersalz aus Hawaii. Das arabische Reiterfleisch hatte ich vorher irgendwo auf Sardinien im Keller einer unendlich kleinen Kapelle vergraben – für den Fall, dass Silvio es sich doch noch mal anders überlegt. Oder eine Hungersnot im Vatikan ausbricht.

Eine gewisse Zeit danach legte ich im Vieux Port von Marseille an. Ich wollte mir eine kleine
Fischsuppe gönnen, um dann in Richtung Rhonemündung weiterzuziehen. Doch bevor ich mich so
richtig stadtfein machen konnte, ertönte oben vom Kai eine mir wohlbekannte Stimme: „Kannst
du mir bitte mal sagen, wo du jetzt herkommst?“ Ich schaute auf und sah meine Frau. Verflixt,
dachte ich, ich habe ganz vergessen, ihr Bescheid zu sagen. „Du kommst jetzt sofort mit nach
Hause“, sagte meine Frau. Und wenn sie so was in so einem Ton sagt, dann widerspricht man ihr
besser nicht. Ich jedenfalls nicht. Also hievten wir das Faltboot aus dem Wasser und verstauten
den ganzen Krempel auf dem 16-achsigen Tieflader, den meine Frau in einem Baumarkt
organisiert hatte und mit dem sie seit Tagen die Innenstadt von Marseille blockierte.
Anschließend fuhren wir nach Hause. Während der Fahrt erzählte ich meiner Frau die ganze
Geschichte. „Und was machst du jetzt mit dem einen Reagenzglas voll Salz?“ fragte sie am Ende.

Nun, dieses einzige gerettete Reagenzglas liegt jetzt irgendwo bei uns in irgendeiner Schublade.
Es ist leer. Wieso das? Nun, unterwegs auf einem sehr windigen Rastplatz auf der Route des
Crêtes in den Vogesen (wenn meine Frau mit einem 16-achsigen Tieflader unterwegs ist, nimmt
sie immer diese Route), wollte ich sie mal kurz am Salze riechen lassen. Ich öffnete also das
Reagenzglas und – kennen Sie die Donny’s Ashes Scene aus „The Big Lebowski“? >

Na, sehen Sie.


Eine Frage der Größe

Alles begann damit, dass die Züge in Deutschland plötzlich anfingen, pünktlich zu sein.

Das wiederum fiel zuerst niemandem negativ auf, im Gegenteil, die Reisenden freuten sich, dass die Züge endlich keine Verspätung mehr hatten. Und die Leute von der Eisenbahn freuten sich auch. Endlich keine Beschwerden mehr. Obwohl, erklären konnten sie sich das mit der plötzlichen Pünktlichkeit nicht. Die Mitarbeiter vermuteten ein neues Rationalisierungsprogramm, „von oben verordnet“, wie sie sagten, aber niemand wurde entlassen, es wurde keine Arbeitszeit erhöht, und irgendetwas Schriftliches gab es schon gar nicht. Nur Gerüchte. Je höher man nachforschte in der Hierarchie, und spätestens in der Chefetage, desto öfter kam nur eine Antwort: „Alles Zufall.“

Einige Tage später stand eine Meldung auf den Titelseiten aller Zeitungen: „Passagierflugzeug stellt sensationellen Geschwindigkeitsrekord auf!“ Kann ja mal passieren, nur: Hier handelte es sich um eine ganz normale Maschine. Also keinen Concorde-Nachfolger oder so. Und dennoch hatte die Maschine den Atlantik in Rekordzeit überflogen. Die Passagiere, vor allem die ewig eiligen Geschäftsleute, waren begeistert.

Die nächste überraschende Meldung kam von den deutschen Bundesautobahnen, die seit der Einführung der LKW-Maut zu Recht zu den bestüberwachten der Welt zählten. Das elektronische LKW-Erfassungssystem vermerkte eine Veränderung: Die Lastzüge brauchten für ihre Strecken anscheinend immer weniger Zeit. Dabei war bei den Geschwindigkeitskontrollen nichts aufgefallen. Keine rasenden Trucks, nichts. Alles ganz normal. Merkwürdiges vermeldeten auch die Mautstellen in Frankreich: Bei Kontrollen am Ende der Autobahnen stellte die Polizei fest, dass sämtliche kontrollierten Fahrzeuge ihre Strecke in einer viel zu kurzen Zeit gefahren waren. Also zu schnell, viel zu schnell. Die Fahrer hingegen schworen, sie hätten die erlaubten 130 km/h kaum oder gar nicht überschritten.

Gleichzeitig stellten weltweit immer mehr Menschen fest, dass sie für ihre Wege von A nach B eine zunehmend abnehmende Menge an Zeit brauchten. Ganz gleich, ob in Hamburg der Weg von der Wohnung zum Bäcker, in Mali der Pfad vom Dorf hinunter zum Fluss, in China der Weg vom Hof zum Reisfeld, in New York die Joggingstrecke durch den Central Park, in Argentinien der Ritt von der Farm hinaus zu den Rindern in der Pampa – überall auf dem Planeten registrierte man dasselbe Phänomen.

Wieder ein paar Tage später kam es weltweit zu merkwürdigen Massenselbstmorden unter den so genannten Naturvölkern. Vom Amazonasgebiet über das Kongobecken, Südostasien und Papua-Neuguinea zog sich eine Suizidschneise, grausam und scheinbar unaufhaltsam. Ganze Stämme vernichteten sich selbst. Erklärungen: Fehlanzeige. UNO, NGOs, Regierungen und die weltweite Öffentlichkeit standen fassungslos vor einer unerklärlichen menschlichen Katastrophe. 
  
Auch unter den Ureinwohnern Australiens, den Aborigines, wütete das von der Presse so getaufte „Selbstmordvirus“. Allerdings gelang es hier einem Soziologen, der seit Jahren mit einem Stamm im Outback lebte, dessen Medizinmann zu einer Stellungnahme vor laufender Kamera zu bewegen. Der Mann, sichtlich verängstigt und verstört, sprach vom Ende der Traumpfade. Wörtlich sagte er: „Wir können die Traumpfade nicht mehr gehen, sie werden immer kürzer und bald sind sie ganz verschwunden.“ Dann erzählte er noch, dass die besten Bumerangwerfer seines Clans ihr Ziel nicht mehr trafen. Sie warfen ständig zu weit.

Schließlich überschlugen sich die Ereignisse. Im Radio überboten sich die Sensationsmeldungen. Die Fernsehstationen reihten eine Sondersendung an die nächste. Die Sozialen Netzwerke kochten über. Das Internet explodierte. Inzwischen hatte man erkannt: Die Kontinente verloren an Fläche. So als hätte jemand auf einem Kopierer die Verkleinerungsfunktion eingestellt. Die Seen, Meere und Ozeane nahmen proportional dazu ab, so dass es weder zu Überschwemmungen noch zu Flutwellen kam. Es gab auch keine Verwerfungen der Erdoberfläche, wie bei einem Erdbeben oder einer normalen Verschiebung von Kontinentalplatten.
  
Alles, was sich auf der Erdoberfläche befand, also zum Beispiel Straßen und Eisenbahngleise, verkürzte bzw. verkleinerte sich einfach entsprechend. Sogar Brücken und Tunnel verkürzten sich, ohne dass es zu Statikproblemen kam. Es wurde nicht einfach alles zusammengeschoben, sondern es fand eine gigantische, planetarische Reduzierung von Ausmaßen und Distanzen statt. Nur Lebewesen und Pflanzen waren von der Schrumpfung nicht betroffen. Auch nicht Häuser und sonstige Gebäude. Die Städte und Dörfer schrumpften in der Oberfläche. Die Straßen wurden kürzer und schmaler, die Gebäude aber behielten ihre Außen- und Innenmaße. Außerdem schrumpfte es innerhalb der Städte und Dörfer wesentlich langsamer als außerhalb. Noch relativ intakte Städte und Dörfer bewegten sich so allmählich aufeinander zu.

Die Menschen in Deutschland reagierten erst einmal erstaunt. Dann ratlos. Dann bekamen sie es langsam aber sicher mit der Angst zu tun. Köln rückte Leverkusen, Frankfurt rückte Offenbach, Berlin rückte Potsdam, Nürnberg rückte Fürth, Düsseldorf rückte Neuss ganz allmählich bedrohlich nahe. Heikel war es im Ruhrgebiet. Hier gab es ja kaum freies Land zwischen den einzelnen Städten. Also kam man sich zwischen Duisburg und Dortmund immer näher. Erste Gebäude, die man rechtzeitig hatte evakuieren können, waren schon auf Kollisionskurs. Für Mannheim und Ludwigshafen war es bereits zu spät: Sie hatten schon begonnen zu verschmelzen, unter dem ohrenbetäubenden Lärm miteinander kollidierender und kollabierender Industrieanlagen und Wohngebiete, umspült von den schaumigen Fluten des Rheins.

Woanders war es nicht besser.
  
In den großen städtischen Ballungszentren des Planeten herrschte das Chaos. Die Menschen wurden zu Millionen aus den immer enger werdenden Straßenschluchten zwischen den aufeinander zu rückenden Gebäuden evakuiert. Weltweit krachten Städte ineinander, Stadtteile verschmolzen, Slums lagen plötzlich in Villenvierteln, Industriegebiete in Parks.

Die führenden Köpfe der Menschheit – allen voran Politiker und Wissenschaftler – suchten fieberhaft nach einer Erklärung. Das Phänomen war weder greifbar noch begreifbar, widersprach es doch allen Naturgesetzen. Wieso verkürzten sich nur die natürlichen Distanzen horizontal und vertikal? Warum schrumpften Brücken, aber keine Häuser? Warum wurden die Berge kleiner, die Flüsse kürzer, aber kein einziges Lebewesen? Und auch keine Pflanze? Wohin floss das ganze Wasser der sich verkleinernden Ozeane? Und was war eigentlich mit der Erdatmosphäre?

Die Wissenschaftler taten, was sie konnten. Sie untersuchten und stellten alle möglichen Vermessungen und Berechnungen an. Das Ergebnis gab keinen Anlass zur Hoffnung: Der Planet Erde wurde zusehends kleiner, und somit auch seine Oberfläche. Und weil jede natürliche Erhebung zur Oberfläche gehört, schrumpften auch die Hügel, Berge und Gebirgsketten. Straßen, Schienen, Brücken und Tunnel verkleinerten sich anscheinend deshalb mit, weil sie auf Grund ihrer Funktion irgendwie ebenfalls zur Oberfläche des Planeten gehörten. Meinten die ganz Schlauen. Häuser gehörten anscheinend nicht mehr dazu, sie ragten einfach zu sehr heraus. Das galt für die kleinste Hütte genauso wie für den höchsten Turm oder Wolkenkratzer. Das Wasser der Ozeane verschwand, niemand wusste, wohin. Die Atmosphäre passte sich der abnehmenden Fläche an. Viel war das nicht an Erkenntnis, eine richtig wissenschaftliche Erklärung war es schon gar nicht, aber mehr war anscheinend nicht drin.
  
„Wir befinden uns,“ berichtete eine Gruppe von Wissenschaftlern vor der UNO, „auf einer Kugel, deren Oberfläche sich stetig verringert. Eine Kugel, deren Oberfläche sich gegen Null entwickelt, ist eine Kugel, die immer kleiner wird. Würde sich jetzt alles in, um und auf dieser Kugel entsprechend verändern, also verkleinern, wäre eben alles kleiner, unter Beibehaltung der bestehenden Größen- und anderen Verhältnisse. Das wäre dann wie die Verkleinerungsfunktion beim Kopieren. Damit könnten alle Betroffenen erst mal leben bzw. überleben. Nur, leider,“ an dieser Stelle machten die Wissenschaftler ein besonders ratloses Gesicht, „leider funktioniert die Verkleinerungsfunktion nicht so wie bei einem normalen Kopierer. Alles Lebende, und somit auch wir Menschen, ist von dem Verkleinerungsprozess ausgeschlossen. Das heißt: Es wird langsam eng.“

Kurz nach der weltweiten, zeitgleichen Ausstrahlung dieses Berichtes über alle Fernseh- und Radiostationen sowie im Internet kam es in verschiedenen urbanen Ballungsräumen – so z.B. in Mexiko-City, in Mumbay, in Manila, aber auch in New York, Los Angeles, London, Paris und Moskau – zu Aufständen, verbunden mit Plünderungen und entsetzlichen Ausschreitungen, bei denen sich Aufständische und Ordnungskräfte   gegenseitig an Grausamkeit überboten, Der schrumpfende Planet enthemmte seine Bewohner, die Menschheit geriet außer Kontrolle.

Als schon halbe Metropolen in rauchenden Trümmern lagen, als die ersten Staatspräsidenten sich in der Öffentlichkeit verleugnen ließen, als sich unbeschreibliche Szenen vor den Weltraumbahnhöfen von Baikonur bis Cape Canaveral, von Französisch-Guayana bis Jiuquan und Tanegashima abspielten, als Millionen nur noch auf den Knien lagen und beteten, während andere Millionen in einen apokalyptischen Taumel aus Lebensgier und Wahnsinn verfielen, geschah etwas Neues:

Irgendwo im amerikanischen Mittelwesten stellte eines Mittags einer der letzten Briefträger, die noch ihre Runde machten, fest, dass er für diese Runde länger gebraucht hatte als für dieselbe Runde am Tag zuvor. Nach einer unruhigen Nacht stellte er am nächsten Mittag fest, dass die Runde wieder ein paar Minuten länger gedauert hatte. Er nahm sein Smartphone und schickte eine E-Mail an seinen direkten Vorgesetzten – und setzte ein paar Fernsehstationen auf CC.

Wenige Tage später war aus dem Trend Gewissheit geworden. Die Distanzen wurden wieder größer. Tag für Tag, Woche für Woche. Irgendjemand hatte auf dem „Kopierer“ auf „Vergrößern“ gedrückt. Als schließlich die ersten Züge wieder mit Verspätung in die Bahnhöfe rollten, atmete die Welt definitiv auf. Man war noch einmal davongekommen. Natürlich warfen sich sofort alle Wissenschaftler auf das neue Phänomen, ohne auch nur den Hauch einer Erklärung zu finden. Internationale Konferenzen wurden einberufen, Spenden flossen, Aufräumarbeiten starteten. Millionen Tote galt es zu beerdigen, noch mehr Millionen Verletzte und Obdachlose mussten versorgt werden. Vergessen schien der Wahn der letzten Wochen, die Massaker, die Exzesse. Die Menschheit hatte eine Aufgabe, und fand sich zusammen, sie zu lösen. Zum ersten Mal hatte man nicht nur eine Vision von einer besseren Welt. Man hatte auch den Willen zu deren Verwirklichung..

Dann klingelte eines Tages im Büro einer Hilfsorganisation irgendwo im Innern Brasiliens das Telefon. Es war der Chef eines Hilfskonvois, dessen Wagen wegen Benzinmangels unterwegs stehen geblieben waren. Man hatte sich irgendwie verschätzt: Die Strecke war allem Anschein nach länger, als man gedacht hatte.


 

 
– sowas wie ein Märchen –

ERSTER TEIL

Kapitel 1: Wie alles begann

Eigentlich hätte Papa das hier aufschreiben sollen. Alles. Aber er meinte, wenn ich schon das Bild gemalt habe, das mit den kleinen Mönchen, das ihr auf dem Titel dieses Buches seht, dann, meinte Papa, könnte ich auch die ganze Geschichte erzählen.

Da sitz ich also jetzt bei uns zu Hause, oben unterm Dach im Atelier, das sich Mama, Papa und ich teilen. Wobei Mama am wenigsten teilt. Sie braucht nämlich den meisten Platz. Für ihre Bilder, Basteleien, Installationen, Illustrationen und ihren Grafikcomputer. Für ihre Bücher, Materialien und jede Menge anderen schrecklich wichtigen Kram.

Im Atelier ist es also fast so gemütlich wie in meinem Zimmer. Bis auf die Ecke von Papa. Die ist immer schrecklich aufgeräumt. Die ist aber auch ziemlich klein. Und sehr wichtig, denn da steht sein Computer. Und an dem schreib ich gerade. Wenn ich nicht an ihm schreibe oder surfe oder spiele, dann streite ich mich mit Papa um ihn. Denn Papa meint, sein Computer sei zuerst mal für ihn da. Weil Mama ja ihren eigenen Computer hat. Aber Papa hat ja schon einen Computer im Büro, da kann er den bei uns ruhig mir überlassen.

Ich sitze jetzt also bei uns zu Hause, in unserem kleinen Reihenendhaus. Da wohnen wir jetzt schon seit vier Jahren. Aber hier hat das gar nicht angefangen, das mit den kleinen Mönchen. Das liegt viel weiter zurück. In der Zeit, als wir noch in der großen Stadt wohnten. In einer schönen Altbauwohnung, nach hinten raus mit Blick auf ein Straßenbahndepot. Ein Straßenbahndepot ist ein Ort, an dem die Straßenbahnen schlafen, wenn sie abends müde sind vom vielen Herumfahren. Busse dürfen da auch schlafen, haben aber sonst nix zu melden.

Als wir die schöne, große Altbauwohnung auf der ersten Etage bezogen, war ich fünf. In den ersten Wochen nach dem Einzug kam es mir vor, als würde ich die Wohnung jeden Tag zum ersten Mal betreten. Immer gab es etwas Neues zu entdecken – es wurde ja auch noch rumgeräumt, und die Möbel wurden mal hier-, mal dorthin gestellt. An einem dieser Entdeckungstage – es war ein Sonntag, kurz nach dem Frühstück – sah ich zum ersten Mal in Ruhe aus dem Küchenfenster:
– Mama, was sind das da für Dinger auf dem Haus?
Ich sagte „Haus“, weil ich Straßenbahndepot noch nicht richtig sagen konnte. Hinten raus, aus unserem Küchenfenster, blickten wir genau drauf. Die drei „Dinger“ waren auf dem Dach von dem Straßenbahndepot und sahen komisch aus. Vor allem passten sie überhaupt nicht auf das Dach von so einem Straßenbahndepot.

Wie so oft, wenn ich Mama etwas frage, meinte Papa auch dieses Mal, er müsse mir die Welt erklären. Wichtig trat er ans Fenster und schaute kurz hinaus, um dann zu verkünden:
– Das sind Tempel. Da wohnen die kleinen Mönche!
Ich war begeistert. Das roch nach einer der Geschichten von Papa, bei denen Mama am Ende immer sagt, sie werde sich scheiden lassen, wenn er das nicht aufschreibt. Bis jetzt ist sie aber immer noch da, und Papa hat vorsichtshalber auch schon mal mit dem Aufschreiben der einen oder anderen Geschichte angefangen. Nur nicht bei dieser Geschichte. Die bleibt an mir hängen.

Jetzt sah auch Mama aus dem Küchenfenster.
– Stimmt, sagte sie, sieht ein bisschen so aus wie Pagoden.
– Was sind Padogen?, fragte ich.
– Pagode ist die europäische Bezeichnung für die turmartigen Gebäude der buddhistischen Baukunst in China, Korea, Japan und Hinterindien. Die Pagode ist ein buddhistisches Reliquiar wie der indische Stupa, jedoch in ihrer architektonischen Gestalt nur begrenzt von indischen Vorbildern abzuleiten. Die chinesische Pagode ist ein auf quadratischem, polygonalem, auch rundem Grundriss aus Stein, Backstein, Holz, auch Eisen oder Bronze errichteter Turm von 7 bis 13 Stockwerken, alle mit eigenem Vordach.
Ich sah meinen Vater fassungslos an. Er hielt mir ein dickes Buch unter die Nase und zeigte auf ein Foto:
– Siehst du, so sehen die in Groß aus.
– Das da auf dem Dach sind trotzdem keine Tempel, beruhigte mich Mama, die sehen nur so aus. Und drinnen wohnen auch keine kleinen Mönche, das hat dein Vater mal wieder nur erfunden.

Ich sah hinaus. Diese Dachdinger sollten also Tempel sein. Oder auch nicht. Sie hatten eine ganz andere Farbe als der Tempel auf dem Foto in Papas dickem Buch. Der war so rotbraun. Die da auf dem Dach waren hellblau. Sonst sahen sie schon so aus wie der Tempel in dem dicken Buch. Nur viel kleiner. Ich überlegte: Kleine hellblaue Tempel auf dem Dach vom Straßenbahndepot mitten in der großen Stadt, in denen kleine Mönche wohnen. Über den schlafenden Straßenbahnen. Mama machte ihr Soeinquatschgesicht. Papa räumte das dicke Buch wieder weg. Dann tat ich etwas für die Zukunft sehr Entscheidendes: Ich beschloss, die Geschichte zu glauben. Und genau in diesem Augenblick huschten die kleinen Mönche in unser Leben.

 

Kapitel 2: Begegnung in der Nacht

Aber erst musste noch ein ganzer Tag vergehen und eine halbe Nacht. Dann wachte ich plötzlich auf. Ich hatte irgendwas gehört. Wie ein ganz leises Zwitschern von superkleinen Vögeln. Ich riss die Augen auf, so weit ich konnte. Es war nicht ganz dunkel in meinem Zimmer, denn der Schein der Straßenlaterne warf ein wackeliges Licht durchs Fenster. Vom Bettrand aus durchforschte ich mit Adlerblick das Zimmer. Und da sah ich sie: Drei winzige, dunkle Gestalten standen auf dem schwarzen Teppichboden vor meinem Bett. (Wir hatten in der ganzen Wohnung, bis auf Küche und Bad, schwarzen Teppichboden und viele Leute wunderten sich, dass wir immer so fröhlich dabei waren.) Also: Da standen drei Männlein vor meinem Bett. Jedes etwa so groß wie ein Menschärgeredichnicht-nüppi. Und als ich genauer hinsah, erkannte ich, dass sie mir zuwinkten. Verflixt, wo hatte ich bloß Mamas alte Lupe hingelegt? Die hatte ich ihr gemopst, um mir die Ameisen auf dem Balkon genauer anzuschauen. Richtig, ich hatte sie unter dem Kopfkissen versteckt. Vorsichtig beugte ich mich über die Winzlinge und sah durch das dicke, runde Glas. Oups! Die sahen aber komisch aus. Wie kleine Japaner mit Glatze. Und alle waren in so dunkelrote, dunkelbraune oder schwarze Tücher gewickelt. Die hatte ich doch schon mal irgendwo gesehen. Richtig: In Papas dickem Buch mit den Pagoden. Da waren auf den Fotos auch solche komischen Japaner zu sehen. Moment mal! Mama hatte gesagt, dass die hellblauen Tempel auf dem Dach über den schlafenden Straßenbahnen aussahen wie Pagoden. Und Papa hatte gesagt, dass in den Tempeln auf dem Dach kleine Mönche wohnten. Wenn diese Winzlinge da also aussahen wie die Japaner vor den Pagoden in Papas dickem Buch, die Pagoden aber als hellblaue Tempel auch auf dem Dach über den schlafenden Straßenbahnen standen, dann, ja dann mussten diese freundlich winkenden kleinen, glatzköpfigen Japaner… die kleinen Mönche sein! Wo sollten sie auch sonst herkommen. In der ganzen Wohnung gab es, soweit ich wusste, keine einzige Pagode.

Leises Zwitschern riss mich aus meinen Überlegungen. Ich sah wieder durch die Lupe. Alle drei Mönche lächelten freundlich und verneigten sich tief. Ich hielt den Atem an, aus Angst, sie beim Ausatmen weg zu pusten. Die drei verneigten sich noch einmal, zwitscherten wieder irgendwas, das sehr nett klang und flitzten hastenichgesehen aus meinem Zimmer, durch die angelehnte Tür in den Flur. Lautlos, versteht sich. Ich hinterher. Gerade noch sehe ich sie in die Küche einbiegen. Als ich durch die Küchentür komme, klettern die kleinen Mönche durch das schräg gestellte Fenster nach draußen. Als ich das Fenster erreiche, sind sie weg.

Ich war damals noch zu klein, um unser riesengroßes Küchenfenster allein öffnen zu können. Also drückte ich die Nase an die Scheibe und starrte hinaus in die Nacht, in den Garten und hinüber zum Dach des Straßenbahndepots. Plötzlich sah ich auf dem Dach einen kleinen Lichtschein, der sich auf die Tempel zu bewegte, deren Umrisse so gerade noch zu erkennen waren. Dann löste sich plötzlich ein zweiter, noch kleinerer Lichtschein vom ersten und bewegte sich in die entgegengesetzte Richtung. Was war das jetzt? Ich hatte nur noch Augen für dieses kleine, schwache Licht, das sich vom Dach runter bewegte und durch den Garten glitt, immer näher aufs Haus zu. Da kam was zu mir zurück. Plötzlich war es verschwunden. Ich sah wieder zu den Tempeln hinüber. Da war jetzt alles dunkel. Enttäuscht wollte ich gerade zurück ins Bett, da tauchte der kleine Lichtschein draußen auf dem Fensterbrett vor mir wieder auf. Gut, dass ich die Lupe noch in der Hand hatte. Hingehalten, durchgeschaut: ein kleiner Mönch! Er kletterte in die Öffnung des „auf kipp“ gestellten Fensters und setzte sich auf den Fenstergriff wie in einen Sattel. Dann winkte er mir mit der einen Hand zu, während die andere in seinem Gewand verborgen war. Ich ließ die Lupe sinken und ging ganz vorsichtig mit dem Gesicht immer näher ran, bis dass meine Nasenspitze ihn fast berührte. Nase an Mönch, dachte ich, und schielte auf den Winzling. Der kleine Mönch schaute freundlich. Dann lächelte er und zwitscherte irgendwas in seiner Kleinemönchesprache. Lustig hörte sich das an. Schließlich zog er die Hand aus seinem Umhang, hob sie zum Mund, als wollte er mir eine Kusshand zuwerfen und blies mir eine kleine Wolke megafeinen Staubes genau in die Nase. Es kribbelte ein bisschen, der kleine Mönch verschwand und ich stand in unserer dunklen Küche am Fenster und fragte mich, was ich da mitten in der Nacht wollte.

Am nächsten Morgen wachte ich auf und hatte alles vergessen. Wieso ich mich heute trotzdem erinnere, erfahrt ihr im nächsten Kapitel.

 

Kapitel 3: Hallo auf dem Klo

Vier Jahre später, es war Sommer, zogen wir weg aus der großen Stadt in eine kleinere, die direkt nebenan liegt. Da hatten Mama und Papa ein Einfamilienreihenendhaus gekauft. Aber Papa sagt immer, dass das Haus der Bank gehört, und dass die uns nur drin wohnen lässt. Egal: Als der Umzugslaster weg war, standen wir alle drei vor dem Haus und waren glücklich. Endlich ein eigener Garten, sagte Mama. Endlich Platz zum Rennradfahren, sagte Papa. Ich hab schon drei neue Freundinnen, jubelte ich.

In der ersten Nacht musste ich Pipi machen. Das hat aber nichts mit der ersten Nacht zu tun: ich muss öfter nachts Pipi machen. Neues Haus, neues Zimmer, neuer Weg zum Klo. Davon hatten wir plötzlich zwei! Ich nahm das auf der ersten Etage, wo auch mein Zimmer ist. Dieses Klo ist im Bad. Als ich da so saß auf meinem Thron im stillen Haus, hörte ich neben dem vertrauten Plitschern plötzlich noch ein zweites Geräusch. Ein leises Zwitschern, links unten hinter mir. Ich schaute nach hinten. Da war eine kleine Metalltür in der Wand, und die stand auf. Inzwischen war ich neun und wusste, das hinter der Tür irgendwelche Rohre und Schraubschalter oder so waren. Eigentlich. Ich hüpfte runter vom Klo, vergaß das Abziehen und auch sonst alles, kniete mich vor die Metalltür und sah eine winzige Gestalt, nicht größer als ein Menschärgeredichnichtnüppi. Die Gestalt winkte. Ich beugte mich zu ihr hinab, bis dass ich sie fast mit der Nasenspitze berührte. Das kommt euch irgendwie bekannt vor? Also, ich brauchte noch ein paar Sekunden. Bis, ja, bis die Gestalt mir eine Art Kusshand zuwarf und dabei einen glitzernden, megafeinen Staub in meine Nase blies. Da war plötzlich alles wieder da: ein kleiner Mönch! Aber wie kam der hierher? Warum war er hier bei uns im neuen Haus und nicht in den hellblauen Tempeln auf dem Dach über den schlafenden Straßenbahnen? Während ich noch grübelte, kamen vier weitere Mönche aus der Tür geklettert und verneigten sich tief vor mir. Dann glitten alle fünf aus dem Bad durch den Flur in mein Zimmer. Ich hinterher. In meinem Zimmer herrschte noch das totale Umzugschaos. (Mama meint, das habe sich bis heute nicht geändert, aber Mütter verstehen eben nicht alles.)

Die fünf kleinen Mönche kletterten auf einen der herumstehenden Umzugskartons und ließen sich an dessen Rand nieder. Ihre Beinchen baumelten nach unten. Ich sah, dass sie an ihren nackten Füßen Sandalen trugen. Jetzt die Lupe zu finden, die ich Mama immer noch nicht zurückgegeben hatte, war völlig unmöglich. Also setzte ich mich direkt vor den Karton auf den Boden, um wieder nach der Naseanmönchmethode vorzugehen. Aber die kleinen Mönche hatten sich da anscheinend schon was überlegt. Alle fünf formten nämlich jetzt eine Kusshand und bliesen Glitzerstaub – nicht in meine Nase, sondern in die Luft, genau zwischen sich und mich. Dort formte er sich zu einem großen Ring, und als ich durch den Ring hindurch sah, waren aus den kleinen Mönchen zwar keine normal großen, aber ziemlich gut vergrößerte Mönche geworden. Funktionierte wie eine Lupe, dieser Ring. Echt praktisch, so ein Glitzerstaub. Wozu der wohl noch alles gut war?

– Guten. Abend. Karoline, sagten fünf Stimmen im Chor.
– Äh, ja, hallo, stammelte ich und kam mir ein bisschen bescheuert vor.
– Wir. Freuen. Uns. Dass. Es. Dir. Gut. Geht., wieder alle fünf im Chor.
– Ja, schön, danke, ich mich auch, ich meine, euch. Stotter, stotter, stotter. Wieso konnten wir uns überhaupt auf einmal so einfach unterhalten? Gute Frage:
– Wieso versteh‘ ich euch und ihr mich?
Zack, da war sie raus, die gute Frage. Ich war ein bisschen stolz auf mich.
– Das. Macht. Der. Kreis. Er. Dient. Der. Kommunikation.
Aha.
– Durch. Den. Kreis. Können. Wir. Mit. Den. Menschen. Sprechen.
Alles klar. Jetzt war es langsam Zeit für die alles entscheidende Frage:
– Und was macht ihr hier? Ihr gehört doch aufs Dach vom Straßenbahndepot, in eure kleinen Tempel.
Riesenseufzer. Ich hätte nie gedacht, dass, wenn fünf kleine Mönche seufzen, es so furchtbar traurig klingen würde. Aber es war so. Furchtbar traurig. Und es hörte überhaupt nicht mehr auf.
– Halt, stopp, flüsterte ich so streng ich konnte (Schließlich war es mitten in der Nacht und ich hatte überhaupt keine Lust auf meine Eltern in der Tür und…, nee, ich mochte gar nicht dran denken.). Also sagte ich noch mal Richtung Mönche:
– Wir müssen leise sein. Lei-se. Sonst wachen meine Eltern auf.
Einer der kleinen Mönche, anscheinend der Chef, sagte etwas zu den anderen, dass ich nicht verstand. Dann stellten sich alle fünf in einer Reihe auf und, oh, nein, bitte nicht schon wieder die Kusshandnummer, aber doch: Alle fünf formten eine Kusshand, bliesen hinein und, ja was war das denn jetzt?, bliesen den Glitzerring, durch den hindurch wir miteinander gesprochen hat, weiter auf, größer und größer, und dann wölbte sich plötzlich ein glitzerndes Dach über uns, eine Glitzerwand, nein, eine richtige Glitzerglocke umgab uns und trennte uns vom Rest meines Zimmers, das ich nur noch verschwommen erkennen konnte.
– So. Karoline., sagte der wichtige kleine Mönch, Jetzt. Können. Wir. In. Ruhe. Über. Alles. Sprechen. Niemand. Hört. Uns. Niemand. Stört. Uns. Nicht. Einmal. Dein. Vater.
Ich musste schmunzeln bei dem Gedanken, was Papa darum gäbe, das hier mitzuerleben.
– Wir. Werden., fuhr der Wichtigwinzling fort, Dir. Alles. Erzählen. Warum. Wir. Hier. Sind. Woher. Wir. Kommen. Und. Wozu. Wir. Deine. Hilfe. Brauchen.
Und dann erzählten die kleinen Mönche. Witzigerweise sprachen sie alle gleichzeitig, wie im Chor, aber es klang wie eine einzige, wunderbare, vertraute, ein wenig traurige, ein wenig tiefe Stimme. Dennoch dauerte es ziemlich lange, bis sie ihre Geschichte fertig erzählt hatten, weil sie ja immer nach jedem Wort diese kleine Pause machten. Damit ihr jetzt beim Lesen nicht wahnsinnig werdet, erzähle ich das Ganze einfach mit meinen eigenen Worten. Aber ich schwöre, dass ich nichts weg lasse oder hinzu erfinde.

 

Kapitel 4: Feuer auf dem Dach der Welt

Tief im Herzen Asiens, am nördlichen Rand des mächtigsten, höchsten Gebirges der Erde, liegt Tibet. Das mächtige Gebirge heißt Himalaja, und sein höchster Berg, der Mount Everest, ist auch der höchste Berg der Welt. 8.848 Meter ist der hoch, also fast neun Kilometer. Tibet liegt fast halb so hoch, so zwischen 4.000 und 5.000 Meter. Es ist das größte Hochland der Erde, und man nennt es auch das „Dach der Welt“. Mal zum Vergleich: Der höchste Berg Europas, der Mont Blanc in den Alpen, ist mal gerade knapp 5.000 Meter hoch. Leben kann da oben kein Mensch. Ist ja auch kein Hochland, der Mont Blanc, sondern ein spitzer Berg mit oben Schnee und Eis und dünner Luft. Aber in Tibet, da leben Menschen. Die Tibeter. Die sind an die dünne Luft, an die große Hitze im Sommer und die Affenkälte im Winter gewöhnt. Und früher waren viele von denen Mönche, die in vielen Klöstern lebten. Machte aber nichts, denn die Mönche und die anderen Tibeter kamen prima miteinander aus. Selten nur kam jemand Fremdes rauf in ihr Land. Den meisten war der Weg zu steil, die Luft zu dünn und das Klima zu rau. So hatten die Tibeter lange ihre Ruhe. Die Berge hinunter zu steigen und zu schaun, was da unten so läuft, kam ihnen nicht in den Sinn. Jedem das Seine, dachten sie. Uns das hier oben, den andern das da unten. Und da es viel mehr unten als oben gab, ging das auch viele, viele Jahre gut. Bis eines Tages aus China, einem ziemlich großen östlichen Nachbarland, die Kommunisten kamen.

Erste Zwischenfrage Karoline an die kleinen Mönche:
– Was sind Kommunisten?
Antwort der kleinen Mönche:
– Die Kommunisten waren Leute, die hatten zuerst etwas Gutes gewollt, nämlich dass alle Menschen in China die gleichen Rechte und Pflichten und Möglichkeiten haben. Sie wollten, dass nicht nur die Reichen und Mächtigen alles bestimmen, sondern das ganze Volk. Dafür hatten sie sehr lange kämpfen müssen gegen die, die das nicht wollten. Als sie schließlich gewonnen hatten, hatten sie vergessen, was sie am Anfang eigentlich wollten. Oder sie wollten es nicht mehr wissen, weil sie irgendwann selbst Lust am Bestimmen bekommen hatten. Jedenfalls war nur noch der Gedanke übrig geblieben, dass alle gleich sein sollten. Und was „gleich“ war, das bestimmten von da an nur noch die Kommunisten.
– Hm, meinte ich, klingt nach dumm gelaufen.
Die kleinen Mönche lächelten traurig und erzählten weiter:

Die Kommunisten, die aus China kamen, waren keine guten Menschen. Sie erzählten dem tibetischen Volk, dass es ab jetzt ganz anders leben müsse. Dass alles, was sie bis dahin gemacht hatten, schlecht sei. Dass ihre Art zu leben schlecht sei. Dass die Mönche und die Klöster schlecht seien. Und dass überhaupt ganz Tibet ab jetzt zu China gehöre und die Kommunisten jetzt zu bestimmen hätten. Und das taten sie dann auch: bestimmen. Vor allem bestimmen. Und wer nicht bestimmt werden wollte, dem taten sie bestimmt nichts Gutes an. Jedenfalls verschwanden oft Menschen, die sich gegen die Kommunistenbestimmer gewehrt hatten. Auch viele Mönche.

Die kleinen Mönche bekamen von all dem zu Anfang gar nichts mit. Sie lebten in einem sehr unbedeutenden, sehr kleinen Kloster in einer sehr unbedeutenden Gegend mitten in Tibet, irgendwo im Gebirge, am Ende eines langen, schmalen Tales, das sich in die Berge hinein schlängelte, höher und immer höher. Ganz am Ende, an die Felsen geklebt, das Kloster.

Und damals, als sie noch in ihrem kleinen Felsenkloster lebten, ja, da waren die kleinen Mönche gar keine kleinen Mönche. Sondern ganz normale Menschen. Also, Mönche waren sie schon, aber eben normal groß, so wie alle anderen Menschen auch. Nicht ganz so normal waren allerdings ihre Namen: Alle fünf hießen Lhasa. Wie die Hauptstadt von Tibet. Das war so Sitte im kleinen Kloster da hoch oben, dass alle Mönche Lhasa hießen, zu Ehren der Hauptstadt. Auch der Meister, also der Abt, würden wir bei uns sagen, hieß Lhasa.

Damit sie sich dennoch auseinanderhalten konnten, und auch, damit andere Leute das konnten, hatte jeder Mönch vor seinem Namen einen Buchstaben. Da es in dem Kloster nur fünf Mönche gab, hatte jeder Mönche einen Vokal vor seinem Lhasa-Namen. Bekanntlich gibt es fünf Vokale: a, u, i, o, e. Und genau die kamen bei den Mönchsnamen zum Einsatz.

Der Abt hieß Alhasa. Er ist ja schließlich der wichtigste. Und die anderen hießen Ulhasa, Ilhasa, Olhasa und Elhasa. Doch der Reihe nach! Ich stelle sie euch jetzt erst einmal vor:

Alhasa ist der Vorstand des Klosters, ein uralter, weiser Mönch, der schon viel erlebt und gesehen hat und so manches Geheimnis kennt und es meist auch für sich behielt. Er ist das Herz, die Seele und der alle anderen überragende Verstand des Klosters.

Ulhasa ist ein recht junger Mönch, der zudem ziemlich gut aussieht und sich eine Menge traut und zutraut. Im Kloster ist er vor allem für die Tiere, essbare und nicht essbare, zuständig. Ich denke, er heißt Ulhasa, weil er so besonders unternehmungslustig ist.

Der lange, hagere Ilhasa ist der Gebildetste der fünf Mönche (i für intelligent, ist doch klar), was vor allem daran liegt, dass er die Klosterbibliothek verwaltet und eine richtige Leseratte ist. Passend dazu trägt er eine kleine, runde Brille, was ihm etwas Professorhaftes verleiht. Neben der Bibliothek kümmert sich Ilhasa auch um die kleinen Felder und den Obst- und Gemüsegarten des Klosters.

Olhasa wiederum ist das komplette Gegenteil von Ilhasa: Er ist der Kleinste und Dickste. Und der Langsamste, was das Begreifen angeht. Wenn er dann endlich mal was kapiert hat, begleitet er seine Erkenntnis oft mit einem langen, staunenden „Ooooh“. Seine Mitbrüder haben ihm deshalb den Beinamen „Licht der geistigen Bescheidenheit“ verliehen, was Olhasa tatsächlich als Kompliment versteht, gilt doch im Kloster Bescheidenheit als Tugend. Wie man bei seiner Leibesfülle schon annehmen kann, ist Olhasa in der Küche tätig. Er ist aber nicht nur ein exzellenter Koch, sondern auch ein perfekter Hausmönch: putzen, waschen, spülen, aufräumen, nähen, flicken – für Olhasa das reinste Vergnügen.

Elhasa ist ein stiller, etwas verschlossener Mönch. Deshalb passt auch das e für ernst so gut zu ihm. Dabei ist er hilfsbereit und pragmatisch, auch wenn er dabei nicht viele Worte macht. Er kann gut zuhören, und wenn er mal selbst den Mund aufmacht, hat das, was raus kommt, Hand und Fuß. Aus für die anderen unerklärlichen Gründen hat der Abt gerade ihn mit den sogenannten Außenkontakten betraut: Ab und zu schickt er ihn runter ins Dorf – einkaufen, tauschen und vor allem hören, was so läuft in der Welt. Das muss er dann jedes Mal bei seiner Rückkehr sofort dem Abt berichten, und nur dem. Meister Alhasa erzählt es dann den anderen Mönchen. Oder auch nicht. Merkwürdig ist, dass sich Elhasa noch nie, nachdem er dem Abt berichtet hatte, daran erinnern konnte, was für Neuigkeiten das gewesen waren.

So lebten die fünf Mönche still und glücklich da oben in ihrem Kloster, bearbeiteten ihre winzigen Terrassenfelder und -gärten, hüteten ihre kleinen Viehherden, beteten und meditierten. Dann, eines Tages, brachte Elhasa von einem seiner Dorfgänge sehr unfreiwillig sehr ungebetenen Besuch mit: chinesische Soldaten.

Die marschierten in das Kloster ein, machten erst einmal eine Menge kaputt und ließen schließlich alle fünf Mönche im Klosterhof antreten. Ein Soldat las dann aus einem Erlass vor, viel kompliziertes Zeugs mit dazwischen gestreuten Beschimpfungen. Zum Schluss ein klarer Befehl: Am nächsten Morgen hatten sich alle Mönche mit dem Nötigsten im Gepäck vor dem Kloster einzufinden, und dann sollte es Gott weiß wohin gehen. Ulhasa – jung, gut aussehend, mutig – trat vor und fragte:
– Und wenn wir nicht wollen? Das ist schließlich unser Kloster, wir haben niemandem etwas Böses getan, aber ihr, ihr kommt einfach hierher mit eurem schlechten Karma und eurer Ungerechtigkeit!
Klasse gemacht, Ulhasa! Nutzte aber nichts, denn: Als Antwort luden die Soldaten ihre Gewehre durch und richteten die Mündungen auf die Mönche.
– Habt ihr jetzt verstanden? fragte der Anführer grimmig, morgen früh, eine Stunde nach Sonnenaufgang, und wehe, einer fehlt.
Dann bellte er ein paar kurze Befehle, die Soldaten machten kehrt und marschierten aus dem Kloster. Als der letzte durchs Tor war, wurde dieses von außen geschlossen und verriegelt. Die Mönche waren Gefangene in ihrem eigenen Kloster.

Als die Schritte der Soldaten verhallt waren, herrschte im Kloster unheimliche Stille. Keiner der Mönche wagte, etwas zu sagen. Auch nicht der junge, mutige Ulhasa. Schließlich brach der alte weise Meister das Schweigen:
– Lasst uns in den großen Saal gehen und meditieren, meine Brüder.
Da fand Ulhasa seine Stimme wieder:
– Meditieren? Die wollen uns vertreiben, verschleppen, und wir sollen meditieren? Ehrwürdiger Meister, das kann doch nicht euer Ernst sein!
Der alte weise Alhasa sah in die Augen des jungen Mönches, dann in die Runde. Er sah vier Augenpaare, die ihn alle ängstlich und fragend ansahen.
– Wir werden jetzt meditieren, sagte Alhasa nachdrücklich, damit wir die Ruhe finden. Und wenn wir die Ruhe gefunden haben, finden wir die Lösung.

Niemand widersprach. Die fünf Mönche, der Abt voran, begaben sich in den großen Saal und ließen sich im Kreis auf dem Boden nieder. Sie kreuzten die Beine zum Lotussitz und die Arme vor der Brust, schlossen die Augen und begannen zu meditieren. Kein Laut war mehr zu hören. Zeit verging. Es wurde Abend. Als die untergehende Sonne ihre letzten Strahlen durch die Fenster schickte, öffnete der alte Alhasa die Augen. Langsam, leise erhob er sich. Die anderen vier Mönche saßen da, meditierend, mit geschlossenen Augen, als würden sie schlafen. Der Abt ging zu einem riesigen Schrank, dessen dunkles Holz über und über mit Ornamenten verziert war. Er drückte kurz und fest auf eines der Ornamente in der Tür, und es öffnete sich eine kleine Klappe. Dahinter lag eine kleine Nische, so tief wie die Tür dick war. An der Rückwand der Nische hingen fünf winzig kleine, golden glänzende Medaillons, jedes an einer feinen goldenen Kette. Auf dem Boden der Nische lag ein kleines Holzkistchen. Vorsichtig nahm der Abt die Medaillons heraus, dann das Holzkistchen. Dann schloss er die Nische wieder. Er ging zurück zu den vier Mönchen, die immer noch da saßen und meditierten. Meister Alhasa legte vor jeden eines der kleinen Medaillons auf den Boden. Dann ging er in die Klosterküche. Dort füllte er fünf Becher mit Wasser und brachte sie in den Saal. Neben jedes Medaillon stellte er einen Becher. Nun öffnete er vorsichtig das Holzkistchen. Es enthielt einen silbrig glitzernden Staub und einen winzigen Löffel. Vorsichtig gab der Abt in jeden Becher ein Löffelchen voll Staub und rührte einmal um. Schließlich legte er den Löffel zurück ins Holzkistchen, verschloss es sorgfältig und verbarg es in einem Brustbeutel unter seinem Gewand. Dann setzte er sich wieder in den Kreis der Mönche auf den Boden.
– Es ist Zeit, sagte er laut.
Schlagartig öffneten sich vier Augenpaare und schauten fragend – erst auf den Abt, dann auf die Becher und die kleinen Amulette, dann wieder auf den Abt.
– Trinkt das jetzt in einem Zug, sagte der Abt, stellt dann die Becher hinter euch und legt die Amulette um.
Die Mönche schauten zweifelnd auf die Amulette. Wie sollten sie so etwas Winziges um den Hals tragen können? Aber sagen mochte niemand etwas. Also tranken sie. Und der Abt trank. Dann stellten sie die Becher hinter sich.
– So, sagte der Abt, und jetzt die Amulette.
Alle fünf Mönche legten sich die Amulette um den Hals. Sie passten. Verdutzt schauten sich vier Mönche an. Nur Meister Alhasa lächelte mild.
– Meister, fragten die vier wie aus einem Mund, wie habt ihr die Amulette größer gemacht?
– Die Amulette, meine Brüder, sind nicht größer geworden.
– Ja, aber…
– Seht, sagte der Abt und beschrieb mit beiden Händen einen Kreis in der Luft, seht!
Und da sahen es die Mönche. Als erstes sahen sie, dass sie in einem unermesslich großen Raum waren. Dann zuckte jeder zusammen: Sie hatten hinter sich riesige braune Dinger entdeckt, die wie Becher aussahen.
– Oh, sagte der erste der vier Mönche.
– Oh. Oh. Oh., sagten nacheinander die drei anderen. Und Ulhasa fügte hinzu:
– Meister, sind die Dinge jetzt alle so groß, oder sind wir jetzt alle so klein?
– Die Dinge größer zu machen als sie schon sind, antwortete Alhasa, würde keinen Sinn machen. Denn sie sind uns schon so über den Kopf gewachsen.
– Aber, Meister Alhasa, sagte der schlaue Ilhasa, wenn wir jetzt kleiner geworden sind, dann sind die Dinge doch zwangsläufig größer geworden.
– Nur für uns, lieber Bruder, entgegnete Alhasa, nur für uns sind die Dinge größer geworden. Aber als solche, für sich, sind sie gleich geblieben. Und eigentlich ist es auch nicht richtig zu sagen, für uns seien sie größer geworden. Es ist genau umgekehrt: Wir sind für sie kleiner geworden. Und weil wir für alle Dinge und Wesen um uns herum klein geworden sind, verschwindend klein sogar, haben wir große Vorteile gewonnen, nämlich…
– Man sieht uns nicht mehr, platzte es aus Olhasa heraus. Alle schauten ihn erstaunt an. So schnell war er doch sonst nicht.
– Sehr gut erkannt, lobte Meister Alhasa, aber dies ist nicht der einzige Vorteil.
Und dann begann er zu erklären. Dass er schon lange geahnt hatte, dass eines Tages die Soldaten kommen würden. Dass es für diesen schlimmen Tag einen Plan gab: Kleiner werden, verschwinden, eine neue Heimstatt finden und dort so lange bleiben, bis eine Rückkehr möglich werde. Meister Alhasa erzählte den Mönchen, was sie da getrunken hatten. Dass der Glitzerstaub ein Zauberstaub ist, der ihnen außergewöhnliche Fähigkeiten verleiht. Sie können mit dem Staub Dinge und sogar Lebewesen verkleinern. Für Letzteres braucht man aber sehr viel Glitzerstaub, weshalb solche Sachen nur von mehreren Mönchen gemeinsam gemacht werden können. Dank des Staubes können sie mit Tieren sprechen. Und natürlich auch mit Menschen. Denn normalerweise können Menschen sie jetzt nicht mehr verstehen, weil auch ihre Stimmen klein geworden sind. Dank des Glitzerstaubes können sie aber sogar mit Menschen reden, die eine fremde Sprache sprechen. Und wenn sie etwas von dem Staub in die Nase eines Menschen pusten, dann vergisst der sofort die Begegnung. Wenn er sich wieder daran erinnern soll, bekommt er wieder Glitzerstaub in die Nase.
– Und wo bekommen wir den Glitzerstaub her, den wir dafür brauchen? fragte Ilhasa.
– Wir tragen ihn in uns, antwortete der Abt, wir haben ihn getrunken, daraus.
Der Abt zeigte auf die fünf Riesenbecher.
– Es funktioniert aber nur, wenn ihr gleichzeitig das Amulett tragt. Der Zauber ist die Macht der Kleinheit, und das Amulett ist der Schlüssel dazu. Solange ihr das Amulett tragt, seid ihr mit diesem Ort verbunden. Ganz gleich, wo ihr seid, und in welchem Zustand sich das Kloster befindet.
Der kleine, dicke Olhasa schaute seinen Meister mit großen, runden Augen an:
– Und wie geht das mit dem Zauberstaub, Meister?
– Sehr her! Meister Alhasa hob seine rechte Hand und hielt sie an seinen Mund, als wolle er dem Hausmönch eine Kusshand zuwerfen. Dann blies er leicht in die Hand. Eine kleine Wolke feinen Glitzerstaubs stob, sozusagen aus dem Nichts kommend, von seiner Handfläche und formte einen etwa 50 cm großen Ring.
– Ihr pustet den Zauberstaub aus eurer Hand, erklärte der Abt. Dabei denkt ihr, was der Staub werden oder tun soll. Es gibt vieles, was ihr mit dem Staub machen könnt. Und vieles, was ihr nicht machen dürft. Ihr werdet das alles lernen, mit der Zeit. Seht: Dies zum Beispiel ist ein Sprechring, durch ihn können wir uns mit fremden Menschen unterhalten. Durch ihn können uns die Menschen auch besser erkennen, weil wir ihnen etwas größer erscheinen.
– Und wie mache ich das rückgängig? fragte der pragmatische Elhasa.
– So, sagte der Abt und schnippte einmal kurz mit den Fingern. Weg war der Ring, weg war der Glitzerstaub.
– Ihr seht, fuhr der Meister fort, der Glitzerstaub ist sehr hilfreich. Doch nun wollen wir unsere Sachen packen. Wir haben eine lange Reise vor uns.
– Wo sollen wir denn hin, Meister? Wie kommen wir denn morgen früh an den vielen Soldaten vorbei? Müssen wir den ganzen Weg zu Fuß gehen? Werden wir jemals wiederkommen? Gibt es keine…
Statt einer Antwort blies Meister Alhasa wieder etwas Glitzerstaub in die Luft. Dieses Mal formte sich der Staub zu einer Kugel, und in der Kugel erschien ein Bild: Kleine blaue Dächer, geschwungen wie das Dach ihres Klosters, waren da zu sehen, und sie gehörten tatsächlich zu kleinen hellblauen Tempeln, die wiederum auf etwas standen, das aussah wie ein ziemlich großes Gebäude. Ja, die kleinen blauen Tempel standen auf einem grauen Dach. Aufgeregt umringten die vier Mönche die Kugel.
¬- Sind das Tempel? Wo sind die? Wie kommen wir da hin? Ist das weit?
– Ich hatte eine Vision, sprach der alte, weise Abt, und in dieser Vision sah ich diese blauen Tempel und ich wusste: Da müssen wir hin. Diese Tempel stehen in einem Land, das sehr tief liegt. Es ist weit, weit im Westen, weit, weit weg von hier. Aber ich weiß, dass wir es schaffen werden.
Der Abt schnippte mit den Fingern und die Kugel aus Glitzerstaub verschwand samt blauen Tempeln.
– Geht jetzt, sagte er, und packt eure Sachen. Jeder nur so viel, wie er tragen kann. Esst dann noch einmal gut zu Abend und geht danach schlafen. Mein Essen bringt mir Olhasa bitte in die Zelle. Morgen früh wecke ich euch rechtzeitig. Ach ja, fügte er hinzu, als er sah, wie die Mönche schon wild auseinander liefen, vergesst nicht, die Dinge zu verkleinern. Ihr müsst dazu nur denken „werde so klein wie ich“ und den Glitzerstaub aus der hohlen Hand auf den Gegenstand pusten. Und, Ulhasa, ich möchte, dass du mich morgen bei Sonnenaufgang zu den Ziegen begleitest.

Ulhasa nickte und verließ dann, wie die anderen Mönche, den großen Saal. Als er alleine war, blies der alte Meister Alhasa etwas Glitzerstaub auf die fünf riesigen Becher. Dann steckte er sie ineinander und ließ sie in einer der vielen Taschen seines Gewandes verschwinden.
– Wer weiß, wozu ich euch noch mal werde brauchen können, brummte er.
Dann ging auch er in seine Klosterzelle. Packen. Schlafen.

Am nächsten Morgen erwachten die Mönche pünktlich ein halbe Stunde vor Sonnenaufgang. Aufstehen, anziehen, frühstücken, Zähne putzen. Dann ging der Abt mit Ulhasa in den Ziegenstall. Dort suchte Ulhasa die klügste und kräftigste Ziege aus. Der erklärten die beiden dann, was sie vorhatten. Die Ziege war begeistert: Endlich mal ein richtiges Abenteuer!

Sämtliche Gepäckstücke der kleinen Mönche wurden mit Seilen unter dem Bauch der Ziege festgezurrt. Auf gleiche Weise wurden fünf kleine Hängematten befestigt. Dann gingen die Mönche ein letztes Mal, sozusagen zum Abschied, in den großen Saal, um zu beten und zu meditieren. Als sie fertig waren, war die Sonne vor genau einer Stunde aufgegangen. Ilhasa hätte seinem Abt gerne noch gesagt, dass ihm das mit der Ziege irgendwoher bekannt vorkam, aber da drang vom Tor her schon hässlicher Krach durch das stille Kloster.
– Los jetzt, sagte Meister Alhasa, alle in die Hängematten.
Eins, zwei, drei, vier, fünf waren die kleinen Mönche unter dem Bauch der Ziege verschwunden. Nichts war zu sehen, weder von ihnen noch von ihrem Gepäck. Tibetische Ziegen haben sehr lange, sehr dichte Haare.

Als die Soldaten in den großen Saal gestampft kamen, war das einzige lebende Wesen, das sie sahen, eine Ziege, die verängstigt meckerte.
– Schafft das Biest raus, schrie der Anführer, ich kann diese Viecher nicht riechen!
Das ließ sich die Ziege nicht zweimal sagen und trottete geschwind zwischen den Soldaten hindurch hinaus. In den Hof, durchs Tor, an dem eine Gruppe Soldaten verschlafen Wache schob, die staubige Straße hinunter und dann quer ab in die Büsche. Vom Kloster schallte noch wütendes „Wo sind sie, verdammt?!“ hinterher, aber das konnte weder die Ziege noch ihre Passagiere aufhalten. Niemand schaute zurück. Und das war auch gut so. Denn so sahen sie weder die riesige Stichflamme noch den schwarzen Rauch, der anschließend aus dem Kloster in den klaren, blauen Himmel stieg. Wie hatte noch der weise Meister gesagt: „Ihr bleibt mit diesem Ort verbunden. Ganz gleich, wo ihr seid, und in welchem Zustand sich das Kloster befindet.“

An dieser Stelle unterbrach ich die Erzählung der kleinen Mönche mit einer zweiten Zwischenfrage:
– Wann ist das denn alles passiert?
Antwort der kleinen Mönche:
– Das ist schon ein paar Jahre her. Wie lange genau wissen wir nicht. Wir haben darauf nicht so geachtet. Weißt du, Karoline, für uns vergeht die Zeit anders als für andere Menschen.
– Ja, und wie lange wart ihr dann unterwegs? Von Tibet bis aufs Straßenbahndepot, das ist eine ziemlich lange Reise – vor allem mit einer Ziege.
– Die Ziege hat uns nur während des ersten Teils unserer Reise begleitet, bis zum Fluss.
– Welcher Fluss? fragte ich.
– Geduld, antworteten die Mönche, lass uns der Reihe nach erzählen.
Und sie fuhren fort:

Kapitel 5: Ziege mit Gepäck

Von ihrem Kloster aus, das so ziemlich in der Mitte Tibets lag, gab es vier Möglichkeiten, das Land zu verlassen: nach Norden, nach Osten, nach Süden und nach Westen. Die jeweiligen Grenzen waren alle gleich weit entfernt. Tibet Richtung Süden, Westen oder Norden zu verlassen, war allerdings ziemlich schwierig, Denn da gab es entweder hohe Berge oder Wüste oder wüste hohe Berge. Außerdem wurden alle diese Grenzen sehr scharf bewacht. Bis auf die Ostgrenze. Denn hinter der lag China, und dahin wollte bestimmt niemand, der vor den Chinesen in Tibet floh. Glaubten die Chinesen.

Und das wiederum wusste der weise Meister Alhasa. Und er wusste noch mehr. Zum Beispiel, dass wenn man von der Mitte Tibets aus direkt nach Osten geht, man nach rund 500 Kilometern auf einen kleinen Fluss stößt, den die Chinesen Jangtsekiang nennen, was „Langer Fluss“ heißt. Der Lange Fluss macht seinem Namen alle Ehre, denn er fließt weit nach Osten, quer durch China bis ins Meer. Dieser Fluss, der längste Strom Asiens und der drittlängste der Welt, war das erste Ziel der Kleinen Mönche.

Die Ziege trug sie geduldig viele Tage Richtung Osten. Die meiste Zeit meditierten die Mönche. Was soll man auch anderes tun, wenn man in einer Matte unter dem Bauch einer Ziege hängt, die 10 Stunden täglich über ein wüstes, 5000 Meter hohes Land nach Osten trabt? Abends wurde angehalten für die Nacht. Dann gab es auch zu essen und zu trinken. Für die Mönche und die Ziege. Spezialnahrung, von der Mönche und Ziege nur einmal täglich essen brauchten, damit ihnen die Strapazen nichts ausmachten. (Das Rezept will mir Olhasa irgendwann einmal verraten,) Menschen und Tieren gingen sie vorsichtshalber aus dem Weg. Man wusste ja nie, so eine einsame Ziege, ganz allein unterwegs im Hochland, immer Richtung Sonnenaufgang – da konnte schon mal jemand anfangen, sich ein paar Fragen zu stellen. Sich an die Ziege zu wenden war ja Quatsch, die hätte ohnehin nicht geantwortet.

Irgendwann erreichten sie den Fluss. Und nahmen Abschied von der Ziege, die ohne Meckern kehrt machte und ungewöhnlich schnell verschwunden war. Dann machten sich die Kleinen Mönche an den zweiten Teil ihrer Reise. Und der bedurfte einiger Vorbereitung. Denn Meister Alhasa verkündete den Brüdern, dass sie mit dem Fluss weiterreisen würden.

Dem Fluss. So, so. Der Fluss, der ein paar hundert Kilometer weiter anfangen würde, „Großer Fluss“ zu heißen, dieser Fluss war hier, nicht weit von seiner Quelle, noch recht klein. Dafür aber wild und reißend.
Sehr wild. Und sehr reißend.
– Meister, Meister, rief Olhasa mit kläglicher Stimme, wie sollen wir auf dem Fluss reisen können? Er ist so wild, so nass, und ich kann so gar nicht schwimmen.
– Ich sagte nicht „auf dem Fluss“, beruhigte ihn der Meister, ich sagte „mit dem Fluss“.
Olhasa machte nicht gerade ein Gesicht, als sei er jetzt wirklich beruhigt. Und auch die anderen Mönche schauten eher nachdenklich drein. Was wollte ihnen der Meister damit bloß sagen? Mit dem Fluss. Dieser Fluss würde früher oder später zum mächtigen Strom, und als solcher würde er dann majestätisch und ein paar tausend Kilometer lang durch das Land China fließen. Mit Millionen von Chinesen rechts und links an seinen Ufern. Und in Booten, Schiffen, Dschunken auf ihm unterwegs. Tolle Vorstellung für kleine tibetische Mönche, die gerade auf der Flucht waren vor Chinesen, die ihnen das Kloster niedergebrannt hatten.

Als könne er ihre Gedanken lesen, lächelte der alte Meister Alhasa. Dann ging er zum Fluss hinunter, zu einer Stelle, an der sich ein kleiner Sandstrand gebildet hatte. Die anderen folgten neugierig, samt Gepäck. Direkt am Wasser kniete der Abt nieder und beugte sich vor, bis er mit seinen Lippen das klare, kalte Wasser berührte:
– Prusselprusselprussel.
Der Abt sprach ins Wasser hinein.
– Prusselprusselprussel. Prussel. Prusselprussel.
Dann stand er auf und schaute auf den Fluss hinaus. Der plätscherte und blubberte und floss so vor sich hin. Nichts war zu sehen. Niemand sprach ein Wort. Hoch über dem Tal, dem Fluss und den kleinen Mönchen kreiste ein Adler. Adler haben scharfe Augen. Vielleicht sogar die schärfsten überhaupt. Mal schauen, was der Adler sieht:

Ein großer Fisch kommt da den Fluss hinauf geschwommen. Jetzt ist er nur noch eine Biegung von dem kleinen Sandstrand mit den kleinen Mönchen entfernt. Jetzt steuert er auf den Strand zu. Langsam steigt er an die Oberfläche. Ein paar von den Mönchen fangen an, wild auf und ab zu hopsen. Sie haben den großen Fisch entdeckt. Schwenk runter zum Strand:
– Meister, ein Monster, ein riesiges Monster! Ein Fisch, das ist ein Fisch. Er kommt auf uns zu! Er wird uns verschlingen!
Vier kleine Mönche schrien aufgeregt durcheinander.
– Still, befahl Alhasa, das ist ein Freund.
Inzwischen hatte der Fisch das Ufer erreicht. Er legte seinen Kopf auf den Sandstrand und öffnete sein riesiges, zähnebewehrtes Maul.
– Alles einsteigen, rief der alte Meister, wir legen in wenigen Augenblicken ab!
Schnell rafften die vier anderen Mönche das Gepäck zusammen und folgten ihrem Abt, der fast schon im Maul des Fisches verschwunden war. Ilhasa murmelte noch etwas, das sich anhörte wie „Der Trick ist doch uralt“, dann waren alle fünf kleinen Mönche im Innern des Fisches verschwunden. Der Fisch drehte sich langsam um, machte ein paar kräftige Schläge mit dem Schwanz und verschwand in den Fluten. Flussabwärts.

 

Kapitel 6: Unterwegs im Fisch

– So, sagte der alte Meister, und es klang etwas dumpf, jetzt wollen wir erst einmal für etwas Beleuchtung sorgen.
Er holte sein Amulett hervor und murmelte Unverständliches. Darauf begann das Amulett zu leuchten und verbreitete alsbald ein angenehmes Licht. Da saßen sie nun im Bauch des Fisches. Fünf kleine Mönche mit Gepäck. Vier davon schauten den einen fragend an.
– Also, begann der Abt, wir sind hier im Bauch eines Lachses.
– Hm, Lachs, lecker. Olhasa leckte sich die Lippen. Ich kenne da ein Rezept, ich sage euch…
Böser Blick des alten Meisters. Olhasa verschluckte den Rest.
– Also, fuhr der Meister fort, wir sind hier im Bauch eines Lachses. Er ist unser Freund. In ihm werden wir reisen, den ganzen langen Fluss hinab, der bald zu einem mächtigen Strom anschwellen wird. Wir werden so durch ganz China reisen, ohne dass uns jemand sieht. Wir werden noch viel, viel weiter reisen. Denn Lachse können nicht nur in Flüssen und Seen, also in Süßwasser leben, sondern auch in Salzwasser, also im Meer. Unser Lachs schwimmt also mit uns bis zur Mündung des Flusses…
– Des Jangtsekiang, warf kurz der gebildete Ilhasa ein.
– Richtig, sagte Meister Alhasa, und hinter der Mündung liegt was, Ilhasa?
– Der Pazifische Ozean, Meister.
– Genau, und durch den schwimmen wir dann nach Süden, um Asien herum, durch den Indischen Ozean Richtung Afrika, hinein ins Rote Meer, dann durch den Suezkanal ins Mittelmeer, durch die Straße von Gibraltar in den Atlantischen Ozean, dann rechts herum Richtung Norden, an Portugal, Spanien und Frankreich vorbei, rein in den Ärmelkanal, links England, rechts Frankreich, dann Belgien, dann Holland, dann hinein in die Mündung eines Flusses, der erst Waal und dann Rhein heißt, in ein Land namens Deutschland. Und in diesem Land, in dem es übrigens nur wenige, meist freundliche Chinesen gibt, die fast alle in der Gastronomie arbeiten, in diesem Land liegt die große Stadt mit den kleinen hellblauen Tempeln, die wir in der Glitzerstaubkugel gesehen haben.

Eine Weile herrschte Schweigen. Eine Reise um die halbe Welt, unter Wasser, durch drei Ozeane, ein paar Meere und zwei Flüsse, noch dazu im Bauch eines Fisch – das will erst mal verdaut sein. Irgendwann kamen dann aber doch die Fragen:
– Meister?
– Ja?
– Wovon sollen wir uns ernähren die ganze Zeit? Haben wir genug Luft? Werd‘ ich nicht seekrank? Wird es uns nicht langweilig?
– Wir werden weder essen noch trinken müssen. Wir werden atmen können. Wir werden nicht krank. Wir werden meditieren.
So sprach der Meister und blies Zauberstaub in die Luft. Der Glitzer bildete eine Glocke, in deren Mitte die kleinen Mönche saßen. Der Rand der Glocke schloss mit dem Fischbauchboden ab.
– So, sagte der Meister, diese Glitzerglocke wird uns mit allem versorgen, was wir brauchen. Und das wird nicht viel sein. Und jetzt lasst uns meditieren. Wir haben 20.000 Seemeilen Zeit.

 

ZWEITER TEIL

Kapitel 7: Ankunft in der Fremde

Und der Lachs schwamm. Und schwamm. Zuerst im großen Strom Jangtsekiang durch ganz China bis zu dessen Mündung. Dann hinein in den Pazifischen Ozean. Durch den nach Süden, um Asien herum, durch den Indischen Ozean Richtung Afrika, hinein ins Rote Meer, durch den Suezkanal ins Mittelmeer, durch die Straße von Gibraltar in den Atlantischen Ozean, dann rechts herum Richtung Norden, an Portugal, Spanien und Frankreich vorbei, rein in den Ärmelkanal, zwischen England und Frankreich hindurch, vorbei an Belgien und in Holland hinein in die Mündung des Waal, der einige Kilometer flussaufwärts anfängt, Rhein zu heißen, Da waren sie dann endlich in Deutschland. Und als im Süden die Hochhäuser, Kirch- und Fernsehtürme einer großen Stadt auftauchten, erlosch plötzlich die Glitzerstaubglocke, unter der die kleinen Mönche die ganze Zeit meditiert hatten. Langsam erwachten sie aus einem Zustand, der irgendwo zwischen Koma und Trance gelegen hatte.

– Brüder, es ist soweit, wir sind angekommen, sagte Alhasa, der weise, alte Abt.
– Wann sind wir endlich da?, fragte Olhasa und gähnte, wird Zeit, dass ich wieder mal an die frische Luft komme.
– Wirst du, mein Lieber, antwortete der Meister Aber jetzt packt erst einmal eure Sachen zusammen.
Der Lachs hatte inzwischen die letzten Flußwindungen vor der großen Stadt durchschwommen und steuerte einen Sandstrand an, am Ostufer des Rheins. Er musste sehr vorsichtig sein, denn er schwamm jetzt dicht unter der Wasseroberfläche und musste dauernd den vielen großen und kleinen Schiffen ausweichen, die den Strom rauf und runter fuhren, Tag und Nacht. Aber der Lachs war kein Anfänger, und so erreichte er sicher den Strand. Es war ein lauer Frühsommerabend, und auf der Promenade der Innenstadt hatte der Lachs viele Menschen erblickt. Hier, am Strand, etwas außerhalb, war niemand zu sehen. Die Kinder, die hier tagsüber gespielt hatten, waren längst zu Hause und freuten sich aufs Abendessen. Die Obdachlosen, die in den Zelten entlang des Ufers lebten, waren in der Stadt unterwegs, um sich was zum Leben und zum Überleben zu erbetteln. Irgendwo in den dichten Büschen schmuste und schmatzte ein Liebespaar, aber das störte nicht weiter. Ein großer, zottelfelliger grauer Straßenköter, der nicht sehr sauber aussah, trabte, die Nase am Boden, an der Wasserlinie auf und ab. Als der Kopf des riesigen Lachses genau vor ihm wie ein Schiff auf den Strand auflief, blieb der Hund stehen und wedelte mit dem Schwanz. Bellen tat er nicht. Interessiert sah er zu, wie der Fisch sein Maul öffnete und fünf Winzlinge herausgestiegen kamen. Die vier hinteren schleppten kleine Bündel, während der erste anscheinend die Verantwortung trug.
– Danke, mein Freund, sagte Alhasa zum Lachs. Wir werden es dir niemals vergessen und ich verspreche dir, dass du noch ein langes und glückliches Fischleben führen wirst.
Der Lachs schlug heftig mit dem Schwanz und wirbelte im Wasser ein Menge Sand auf. Dann warf sich mit einem Mal der mächtige Körper des Fisches hoch aus dem Wasser hinaus und klatschte mit einem satten Geräusch zurück in sein nasses Element. Noch zweimal grüßte der Lachs so die kleinen Mönche, dann verschwand er in den Fluten des Rheins. Die kleinen Mönche waren wieder allein. Oder doch nicht?
– Ich hatte euch schon gestern erwartet, sagte der Hund.
– Tut mir leid, antwortete Alhasa, wir mussten in der Biskaya einer Ölpest ausweichen. Das hat uns einen ganzen Tag gekostet.
– Hauptsache, ihr seid jetzt da. Es ist alles vorbereitet. Schau.
Der Hund legte sich auf die Seite. Er trug Seile um den Körper, an denen unter dem Bauch fünf kleine Hängematten befestigt waren. Außerdem gab es Vorrichtungen, um das Gepäck der kleinen Mönche zu verstauen.
– Gut, sehr gut, lobte der alte Meister den Hund. Und zu den anderen Mönchen gewandt:
– Macht eure Bündel fest und steigt in die Hängematten. Es geht gleich weiter.
– Sieht ja genauso aus wie bei unserer Ziege in Tibet, staunte Ulhasa. Der Hund knurrte.
– W…was hat er denn? Ulhasa sah Alhasa fragend und ein bisschen ängstlich an. Der alte Meister schaute ungewöhnlich streng:
– Du solltest einen Hund niemals mit einer Ziege vergleichen hörst du?
– Ja, aber, stammelte der junge Mönch, wenn es doch so ist?
– Still jetzt, wir brechen auf.
Zehn Minuten später trabte ein riesiger, zottelfelliger, grauer Straßenköter, der wirklich nicht sehr sauber aussah, durch die abendlichen Straßen der Stadt. Langsam wurde es dunkler und kühler. Aber noch waren auf den Straßen viele Menschen unterwegs, allein, zu zweit oder in kleinen Gruppen. Zu Fuß, mit dem Rad und vor allem mit dem Auto. Das hupte, röhrte, reifenquietschte, was das Zeug hielt. Ein grauer Straßenköter fiel da nicht weiter auf. Da konnte er noch so groß sein und noch so exotische Passagiere mit sich herumtragen. Der Hund lief mit federnden Schritten zügig durch die Straßen. Irgendwann bog er in eine Einfahrt ein, überquerte einen weiten, bis auf ein paar parkende Autos leeren Hof. Hier war es sehr still und dunkel, in den Häusern gab es kaum mehr erleuchtete Fenster. Entweder waren die Menschen alle unterwegs oder im Bett. Naja, dem Hund und den kleinen Mönchen konnte das nur recht sein. Vor einer grauen Wand blieb der Hund schließlich stehen und legte sich auf die Seite. Vorsichtig lugte ein Winzling aus dem Fell hervor.
– Was gibt’s?, wisperte Meister Alhasa.
– Na, wir sind da, sagte der Hund, die letzte Strecke müsst ihr allein schaffen. Und beeilt euch bitte, ich habe noch eine Verabredung.
Schnell kamen alle kleinen Mönche samt Gepäck aus dem Fell gekrabbelt. Skeptisch sah Ulhasa die Wand hinauf:
– Da sollen wir hoch?
Während jetzt auch die übrigen Mönche die Wand hinauf starrten, unterhielt sich der Meister noch kurz leise mit dem Hund. Dann verneigte er sich vor dem Riesenköter, der wedelte freundlich mit dem Schwanz, verkniff sich ein Bellen und war mit einem Satz in der Nacht verschwunden.
– Und er erinnert mich trotzdem an unsere Ziege in Tibet, brummelte ihm Ulhasa hinterher. Wenn er kein Hund wäre…
– Was dann? unterbrach ihn Meister Alhasa, was, wenn die Ziege gar keine Ziege war, sondern ein Hund, und was, wenn es Wesen gibt, die mal Hund, mal Ziege sind, ganz so, wie sie mögen oder wie es am besten ist, was dann?
– Ja, aber, stotterte Ulhasa, während die anderen Mönche gespannt lauschten, ja, aber, (er fing sich ein wenig), was, wenn dieser Hund unsere Ziege ist, wie ist er, ich meine, sie denn dann von Tibet hierher gekommen. Doch wohl nicht zu Fuß, oder?.
– Wie sind wir denn hierher gekommen? Doch wohl nicht im Fisch, oder?
Das war die Stimme von Elhasa gewesen. Alle sahen ihn an: Er nun wieder! Meister Alhasa lächelte:
– Ich freue mich sehr, wie die Dinge euch dazu bringen, über sie nachzudenken. Doch im Augenblick sollten wir uns mit etwas Anderem beschäftigen.

Er zeigte auf die graue Mauer. Stumm schauten die vier kleinen Mönche erneut nach oben. Sehr weit nach oben. Dann ein Nicken im Chor, dann vier fragende Blicke. Meister Alhasa hob seine rechte Hand und blies etwas Glitzerstaub in die Luft.
– Schauen wir uns erst einmal an, was heute nachmittag hinter dieser Mauer geschah.
Der Glitzerstaub bildete eine Kugel, und in der war jetzt so etwas wie ein Film zu sehen – in Farbe, aber ohne Ton. (Was auch ganz gut war, sonst wären womöglich noch Leute geweckt oder aufmerksam geworden.) Und das sahen die kleinen Mönche in ihrem Glitzerstaub-TV:
Eine recht kleine, recht rundliche Frau mit lustigem Gesicht und dicken schwarzen Haaren schimpfte ganz fürchterlich mit einem kräftigen, mittelgroßen Mann mit Brille und lichten blonden Haaren. Beide gestikulierten heftig, aber es war ganz klar: Der Mann hatte schlechte Karten. Beide standen vor einem riesigen Haufen Kletterpflanzen, auf den die Frau immer wieder zeigte, um dann noch schlimmer und heftiger weiterzuschimpfen.
– Die haben aber ein schlechtes Karma, meinte Ulhasa, was ist denn da passiert, warum schimpft die Frau so mit diesem armen Kerl?
– Dieser arme Kerl ist der Mann der Frau, erklärte der alte Meister, und er ist für den Haufen Kletterpflanzen – man nennt diese Kletterpflanze hier übrigens Knöterich – verantwortlich. Er hat nämlich den ganzen Knöterich von der Mauer gerissen, ohne seine Frau zu fragen. Von dieser Mauer, genau hier, nur auf der anderen Seite.
– Und was haben wir damit zu tun?, fragte Elhasa.
– Wir, schmunzelte sein Meister, wir werden die Sache wieder in Ordnung bringen. Das hat viele Vorteile: Die Frau ist glücklich, weil ihr Knöterich wieder an der Mauer wächst. Der Mann ist glücklich, weil seine Frau glücklich ist. Der Knöterich ist glücklich, weil er wieder da ist, wo er hingehört, und weil er uns helfen kann, diese Wand hinauf zu kommen. Und wir sind glücklich, weil wir endlich zu den hellblauen Tempeln kommen, die da oben auf dem Dach des Gebäudes, an das die Mauer grenzt, auf uns warten.

Der Meister griff in die Glitzerstaubkugel. Die Bilder verschwanden. Die Hand des Meisters rührte im Glitzerstaub. Nachdem er alles gut umgerührt hatte, hob er seinen Arm und wies mit der Hand hinauf zum Rand der Mauer. Wie eine Schlange glitt der Glitzerstaub die Mauer empor, erreichte den Rand und verschwand aus dem Blickfeld der Mönche.
– Und jetzt?, fragte Elhasa.
– Abwarten, antwortete der alte Abt.
Nun ist abwarten nicht gerade die aufregendste aller Tätigkeiten. Deshalb verlassen wir jetzt auch für einen kurzen Augenblick die kleinen Mönche und düsen die Mauer hoch, der Glitzerstaubschlange hinterher. Die war nämlich inzwischen an der anderen Mauerseite wieder hinabgesaust und auf den Haufen Kletterpflanzen zu geschlängelt, auf eben jenen Knöterich, den der Mann am Nachmittag von der Mauer heruntergerissen hatte, sehr zum Ärger seiner Frau.

Der Glitzerstaub erreichte den Haufen, schoss hinein, wieder hinaus, drumherum, umgab ihn schließlich ganz und verließ ihn wieder. Und nahm beim Verlassen einen Trieb des Knöterichs mit sich, die Mauer hinauf bis zum Rand. Und dann geschah es: Blitzartig breitete sich der Knöterich über die ganze Breite und Höhe der Mauer aus, wobei der Haufen auf dem Boden immer kleiner wurde, fast könnte man sagen: der Haufen rollte sich ab wie ein zusammengelegtes Seil, immer schneller wurde die Mauer immer grüner, schöner und grüner und schöner als jemals zuvor. Ein leises Rascheln noch, dann war da kein Haufen mehr

Auf der anderen Seite der Mauer standen im dunklen Hof fünf kleine Mönche und starrten eine glatte, dunkle Wand hinauf. Dann sahen sie oben auf dem Rand ein Glitzern und dann etwas Grünes. Der Glitzerstaub sank langsam die Mauer hinab, und ein besonders kräftiger Trieb vom Knöterich wuchs ihm hinterher. Als der Knöterich den Boden erreicht hatte, begann er weitere Zweige auszutreiben, die wie Lianen aus einem Urwald aussahen. Der Glitzerstaub löste sich nach leisem Fingerschnippen des Abtes in Nichts auf.
– Stellt euch in einer Reihe auf, befahl Alhasa seinen Mitbrüdern. Stellt euer Gepäck vor euch auf den Boden. Kreuzt die Arme und lasst es mit euch geschehen.
– Was sollen wir mit uns geschehen la…, wollte Ulhasa fragen, da hatte ihn schon eine grüne Knöterichliane sanft aber fest umfasst. Eine zweite Liane kümmerte sich um sein kleines Bündel mit Habseligkeiten. Ulhasa schaute sich um: Seine Mitbrüder waren alle auch schon umschlungen, genau wie ihre kleinen Bündel und Köfferchen. Nur der alte, weise Meister Alhasa war nicht zu sehen.
– Meister, wo seid ihr?, rief Ulhasa besorgt und beunruhigt.
– Hier bin ich, hier! Die Stimme kam von oben. Ulhasa hob den Kopf. Da sah er den alten Abt hoch an der Mauerwand, fest und sicher im Griff des Knöterichs, der mit ihm stetig nach oben wuchs. Es tat einen kleinen Ruck, und schon ging es auch mit Ulhasa aufwärts. Und genauso mit Ilhasa, Olhasa und Elhasa. Und dem ganzen Gepäck. Der Knöterichaufzug leistete ganze Arbeit. Er hielt auch gar nicht erst an, als alle Mönche oben auf der Mauer angekommen waren. Nein, es ging gleich weiter, auf dem schmalen Sims bis zur Wand des Gebäudes, an das die Mauer grenzte. Hier ging es noch einmal ein Stück die Gebäudewand entlang nach oben, über die Dachkante hinweg. Noch ein Stück, dann hörte der Knöterich auf zu wachsen und gab Mönche und Material frei.
Sie waren auf dem Dach des Gebäudes. Vor ihnen erhoben sich drei hellblaue Tempel. Wunderschön im kühlen Licht des vollen Mondes.
– Wir sind da, sagte Meister Alhasa feierlich, hier werden wir erst einmal eine Weile bleiben können.
Sprach’s und war schon im ersten der drei hellblauen Tempel verschwunden. Die anderen Mönche rafften das Gepäck zusammen und folgten. Einer nach dem anderen verschwand in dem hellblauen Tempel. Nur Ilhasa, der Gärtner unter den kleinen Mönchen, drehte sich noch einmal um und verbeugte sich tief vor dem Knöterich.

 

Kapitel 8: Das neue Zuhause

Still und silbrig schien der Mond auf das Dach mit den drei kleinen, hellblauen Tempeln. Nichts rührte sich. Niemand in den Häusern um den Hof herum ahnte, dass das Dach des Straßenbahndepots ab jetzt bewohnt war. Auch wir – also Mama, Papa und ich – hatten da noch überhaupt keine Ahnung. Wir waren nämlich auch gerade erst eingezogen. In die Wohnung, die in der ersten Etage von genau dem Haus lag, in dessen Garten sich die Frau und der Mann wegen des Knöterichs gestritten hatten. Die Frau und der Mann wurden später Freunde von uns. Das nur nebenbei, falls die beiden diese Geschichte irgendwann mal lesen, dann haben sie‘s jetzt schriftlich, dass wir sie superdoll gut leiden können.

Während wir in dieser Nacht also alle tief und fest schliefen, war auf dem Dach des Straßenbahndepots noch eine Menge los. Denn die kleinen Mönche waren kein bisschen müde. Schließlich hatten sie während der langen Reise im Bauch des Lachses ausruhen und entspannen können. Jetzt galt es, sich so schnell wie möglich in den drei Tempeln einzurichten. Das Erstaunliche war: Diese drei Tempel waren wirklich perfekt getarnt – die Menschen hielten sie entweder für Lüftungsklappen oder für Kamine.

Beim Betreten der Tempel erlebten die kleinen Mönche eine weitere Überraschung (das heißt, ich bin mir nicht so sicher, ob der alte Meister wirklich so überrascht war): Es gab richtige Räume! Zwar alle leer, aber ansonsten ziemlich perfekt: sauber, mit guten Fußböden, soliden Wänden und Decken. Und jeder der drei Tempel hatte ein bestimmte Funktion: Es gab den Tempel des alltäglichen Lebens, den Tempel des Meditierens und den Tempel des Schlafens. Womit klar wäre, in welchem Tempel was gemacht wurde. Und bevor jetzt einer fragt – ja, es gab auch sowas wie Küche, Bad und Klo. Und fließendes Wasser, stellt euch vor. Doch die allergrößte Überraschung stand den kleinen Mönchen noch bevor, mit Ausnahme von Meister Alhasa natürlich. Denn der war für die Überraschung verantwortlich. Er öffnete nämlich eine Holztruhe, die zu ihrem Gepäck gehörte. Und was war darin? Der gesamte Hausrat ihres Klosters in Tibet. Von der Kücheneinrichtung bis zu den Betten, über Tische, Bänke, Stühle, Teppiche und so weiter und so fort. Alles, einfach alles, was sie brauchten, um auch hier auf dem Dach des Straßenbahndepots ein richtiges Kleinemöncheleben nach Tibeter Art führen zu können. Ach so, kleines Detail – fast vergessen: Der ganze Kram war extrem megawinzig klein, sozusagen doppelt und dreifach verkleinert. Jetzt wurde alles wieder vergrößert, bis es passend war zur Größe der kleinen Mönche und ihrer neuen Tempel.

So begann das stille, zurückgezogene, unauffällige Asylantenleben der kleinen Mönche auf dem Dach des Straßenbahndepots in einer großen Stadt am Rhein. Verpflegung und alles, was sonst noch zum Kleine-Mönche-Leben benötigt wurde, besorgten sie sich bei regelmäßigen nächtlichen Ausflügen mit dem großen Hund. Sie gingen auf abgeerntete Felder, besuchten verwilderte Gärten, schauten beim Großmarkt und Supermärktenn vorbei – kurz, um es modern auszudrücken: Sie waren die ersten Lebensmittelretter. Bis auf eine kleine nächtliche Begegnung zwischen drei kleinen Mönchen und einem kleinen Mädchen, die vor allem auf den Leichtsinn und die Abenteuerlust von Ulhasa zurückzuführen ist, geschah nichts, was hier erzählt werden müsste. Nun gut, vielleicht die Strafpredigt, die sich Ulhasa, Olhasa und Ilhasa vom alten, weisen Meister anhören mussten. Die hatte sich in der Tat gewaschen. Weder die Erklärung von Olhasa, er sei nur mitgegangen, weil er neue Kochrezepte zu finden hoffte, noch die Ausrede von Ilhasa, er habe doch nur wissenschaftliche Forschungen betreiben wollen, so wie in Tibet, und vielleicht hätten die Menschen hier ja auch etwas über Tibet gewusst, rettete sie. Vor allem Ulhasa bekam sein Fett weg, denn er hatte sich die ganze Sache schließlich ausgedacht. Einen winzigen Moment der Milde gab es lediglich, als er erzählte, wie er dem kleinen blonden Mädchen den Vergessen spendenden Glitzerstaub in die Stupsnase geblasen hatte.

Danach geschah lange Zeit nichts. Die kleinen Mönche lebten still, zurückgezogen und unauffällig. Sie beteten, meditierten und warteten. Warteten auf Nachricht aus Tibet. Auf den Tag, an dem sie ihr Asyl auf dem Dach des Straßenbahndepots würden verlassen können. Richtung Heimat. Richtung Tibet. Was sie nicht ahnten, ja, was noch nicht einmal der weise Meister Alhasa voraussah, geschah rund vier Jahre später. Und warf all ihre Pläne und Hoffnungen gründlichst über den Haufen.

 

Kapitel 9: Karoline braucht eine Pause

Es war mir zwar peinlich, aber ich konnte ein Gähnen nicht mehr unterdrücken.
– Entschuldigt bitte, sagte ich und rieb mir die Augen, ich gähne nicht wegen eurer Geschichte, ich bin nur schrecklich müde. Wie spät ist das überhaupt?
Die kleinen Mönche wisperten miteinander.
– Du. Hast. Recht. Karoline. Es. Ist. Sehr. Spät. Geworden. Wir. Kommen. Morgen. Nacht. Wieder. Und. Dann. Erzählen. Wir. Dir. Warum. Wir. Hier. Sind.
– Ach, halt, Moment, rief ich, bevor ihr geht, hätte ich noch eine kleine Bitte.
Die kleinen Mönche sahen mich fragend an.
– Also, ich räusperte mich, es ist mir etwas unangenehm, und ich will ich auch nicht vorschreiben, wie ihr zu sein habt, aber…
– Aber…?, fragte Alhasa.
– Nun, also, wie ihr sprecht, nach jedem Wort so eine Pause, also, ich finde das sehr anstrengend, so beim Zuhören, ich mein, ich weiß ja nicht, wie ihr das seht, aber…
Stotter, stammel, ich kam mir etwas blöd vor.
– Wir. Werden. Daran. Arbeiten., meinte Alhasa, Versprochen.
Dann hörte ich ein leise Schnipsen, worauf die Glitzerglocke verschwand. Dann kletterten die fünf flink und sehr geschickt vom Umzugskarton herunter und huschten über den Boden hinaus in den Flur ins Bad. Ich hinterher, aber ich war mal wieder nicht schnell genug. So sah ich nur noch, wie sie durch die kleine Metalltür hinter dem Klo wieder in der Wand verschwanden. Der letzte drehte sich aber noch mal um und winkte mir einen Gutenachtgruß zu.

Als ich dann endlich wieder im Bett lag und mir die Augen bleischwer zufielen, als ich schon dachte, jetzt würde ich nichts mehr denken, da, plötzlich, wurde ich schlagartig noch einmal hellwach: Die kleinen Mönche hatten mir zum Abschied keinen Zauberstaub in die Nase geblasen. Ich konnte mich noch an alles erinnern, was sie mir erzählt hatten. Ich würde am nächsten Morgen noch wissen, dass es sie gab. Da war ich sehr, sehr glücklich. Und fühlte gleichzeitig eine Verantwortung, die mich unwahrscheinlich stolz machte. Ich würde nichts verraten. Niemals. Niemandem. Auch nicht Mama und Papa. Aber da war ich eigentlich schon eingeschlafen.

Am nächsten Morgen wusste ich tatsächlich noch alles. Große Erleichterung. Große Freude. Und immer noch ein bisschen Stolz.
– Sag mal, wieso lächelst du die ganze Zeit so ätherisch, fragte Papa beim Frühstück,
„Ätherisch“ ist eines dieser Wörter, die Papa gern benutzt, wenn er meint, ich müsse mal wieder was dazu lernen.
– Soll ich heulen?, hab ich zurück gefragt.
– Hey, hey, schon gut!, Papa hob die Arme wie ein Fußballspieler, der ein Foul begangen hat und es dann nicht gewesen sein will, war ja auch nur ne Frage.
Mama grinste, sagte nichts und dachte sich ihren Teil. Der weitere Verlauf unseres Frühstücks wie auch des gesamten Tages ist für diese Geschichte unerheblich.

Ich überspringe jetzt also rund 12 Stunden: Hops!

 

Kapitel 10: Wissenswertes über Elstern

Am Abend waren meine Eltern sehr schnell sehr müde. Um kurz vor zehn war bei ihnen im Schlafzimmer das Licht aus. Ich war natürlich noch wach. Ich wartete ja auf die kleinen Mönche. Kurz nachdem es dunkel geworden war bei Mama und Papa, zwitscherte es an meiner Zimmertür. Ich schlug die Bettdecke zurück – aus Zwecken der Tarnung hatte ich natürlich so getan, als würde ich schlafen – und öffnete. Augenblicklich kamen fünf winzige Gestalten herein gehuscht. Wie in der Nacht zuvor saßen wir bald wieder unter der Glitzerglocke.
– Also, begann ich, sagt ihr mir jetzt, wieso ihr hier seid und nicht in euren kleinen hellblauen Tempeln auf dem Dach vom Straßenbahndepot?
Der alte, weise Alhasa sah mich freundlich an, als gefalle ihm meine Ungeduld. Dann sagte er:
– Zuerst möchte ich dir mitteilen, dass wir unser kleines Sprachproblem gelöst haben, wie du unschwer hören kannst.
– Klasse, staunte ich, wie habt ihr das denn gemacht?
– Oh, antwortete Alhasa, wir mussten nur ein paar Feineinstellungen am Kommunikationsmodul vornehmen. Jetzt kannst du uns sogar ohne Glitzer und Vergrößerung gut verstehen.
Der alte Mönch überraschte einen immer wieder.
– Doch nun zu deiner Frage, fuhr er fort, kennst du dich mit Elstern aus?
Jetzt kam ich überhaupt nicht mehr mit und machte ein entsprechendes Gesicht:
– Ja, ähm, also, Elstern, das sind doch so Vögel, und die, äh,…
Der Abt seufzte und tat eine auffordernde Handbewegung:
– Ilhasa, bitte.
Ilhasa, der, wie ihr ja schon wisst, der gebildetste unter den kleinen Mönchen ist, legte los, mit seinem ganzen Klosterbibliothekswissen:
– Die Elster, lateinisch Pica pica, gehört zu den Rabenvögeln. Die Elster ist…
– Richtig, man kann sie übrigens auch essen, unterbrach in Olhasa, ich habe mal in einem alten chinesischen Kochbuch ein sehr interessantes Rezept gefunden, nach dem man Elstern in einer Mischung aus mildem Soja und Süßwein zubereitet. Nach dem Garwerden entfernt man die Federn und Beine und nimmt nur die Brust und das Kopffleisch. Mit der Brühe tut man sie in die Schüssel. Das soll sehr, sehr lecker sein.
Vier Mönche und ein Mädchen schauten ihn missbilligend an.
– Oooh, ich meinte ja nur, entschuldigte sich Olhasa.
– Ich sagte also, fuhr Ilhasa fort, dass die Elster zu den Rabenvögeln gehört. Sie unterscheidet sich von allen anderen Rabenvögeln vor allem durch ihren langen Schwanz. Dieser ist häufig so lang wie der gesamte Rest des Körpers. An diesem Schwanz und an ihrem schwarzweißen Gefieder kann man die Elster schon vom weitem gut erkennen. Ein weiteres Merkmal der Elster ist ihr Flug. Dabei flattert sie nämlich unregelmäßig, was auf den Betrachter unbeholfen und langsam wirkt. Auf dem Boden trippelt die Elster oder sie hüpft – nach vorn und auch gern zur Seite. Viele halten die Elster für einen schönen, intelligenten und interessanten Vogel. Andere wiederum sagen, sie sei eine Pest, ein Nesträuber und Vogelmörder, diebisch und geschwätzig.
– Das hab ich auch schon mal gehört, rief ich, Elstern sind ganz scharf auf alles, was blinkt oder glänzt, das klauen sie und schleppen es in ihr Nest!
– Wir nähern uns dem Problem, sagte Alhasa, bitte, Ilhasa.
Der Büchermönch fuhr fort:
– Elstern leben in einem gewissen sozialen System. Die Brutvögel bilden Paare, die ein Leben lang zusammen bleiben. Und sie besetzen ein Revier, um darin zu leben. Diejenigen Elstern, die nicht brüten, bilden größere Trupps. Zu denen gesellen sich, wenn sie mit dem Brüten und der Aufzucht ihrer Jungen fertig sind, auch die Paare.
– Ein Elsternrevier besteht also in der Regel aus mehreren Vögeln, ergänzte Meister Alhasa.
– Schön, und was hat das alles mit uns zu tun? Ich wurde jetzt doch langsam ein wenig ungeduldig. Rabenvögel, Elstern, Revier, Brüten Aufzucht, Bildung von Trupps – was sollte das alles? Nachhilfe in Bio, oder was?
– Mit uns, sagte Meister Alhasa und sah mich dabei sehr, sehr ernst an, mit uns hat das insofern zu tun, als dass unsere kleinen blauen Tempel…, er machte eine Pause und atmete einmal tief durch, … nun ja, sie stehen mitten drin in so einem Elsternrevier.
– Aber das ist noch nicht alles, platzte es aus Ulhasa heraus, sie verfolgen uns, sie jagen uns, sie wollen unsere Medaillons haben, weil die so schön glänzen.
– Aber woher wissen die das denn mit den Medaillons, fragte ich, ihr tragt die doch immer verborgen unter eurer Kleidung.
– Stimmt, antwortet Ulhasa, aber die Kleidung legen wir auch mal ab, zum Baden oder Waschen zum Beispiel, oder wenn wir unsere Sportübungen machen.
– Ich habe euch schon immer gesagt, dass diese viele Bewegung nicht gut für uns ist, sagte Olhasa.
Trotz des Ernstes der Lage mussten wir anderen wieder einmal lächeln über diesen kleinen, dicken, netten Mönch. Gerade Olhasa konnte Bewegung gut gebrauchen.
– Jedenfalls haben die Elstern irgendwann die Medaillons entdeckt, sagte Alhasa, und jetzt haben wir sie am Hals, im wahrsten Sinne des Wortes.
– Sie sind schlimm, sie machen uns das Leben zur Hölle!
Elhasa hatte bis jetzt noch gar nichts gesagt. Vielleicht lief mir deshalb bei seinen Worten ein eiskalter Schauer über den Rücken. In den Worten des stillen, sonst so schweigsamen Mönches lag Angst. Große Angst und Verzweiflung.
– Klar soweit?, fragte mich Alhasa.
Ich schluckte und nickte:
– Klar soweit.
Dann kam mir ein Gedanke:
– Sagt mal, warum benutzt ihr nicht euren Glitzerstaub? Mit dem könnt ihr doch mit allen Tieren sprechen. Oder ihr jagt mit seiner Hilfe die ganze Elsternbande einfach davon.
Ilhasa räusperte sich:
– Ich hätte da noch ein paar weitere, nicht unwichtige Informationen.
– Lass hören, sagte ich und versuchte, mich etwas entspannter hinzusetzen, was gar nicht so einfach war auf dem harten Holzfußboden in unserem neuen Haus (den dicken, schwarzen Teppichboden hatten wir nicht mitgenommen).
– Erstens: Wir können mit den Elstern nicht sprechen. Der Glitzerstaub funktioniert nicht.
Karolinengesicht wird zum Riesenfragezeichen. Ilhasa sprach weiter:
– Wir verstehen es selbst nicht. Wir haben es jeder allein und auch alle zusammen versucht. Aber diese Vögel sind immer in kleinen oder größeren Gruppen, nie allein. Zweitens: Diese Elstern verhalten sich nicht wie normale Elstern. Diese Aggressivität, mit der sie ihr Revier gegen uns, die wir für sie anscheinend Eindringlinge sind, verteidigen, ist ein Verhalten, das ich noch in keinem Buch erwähnt oder beschrieben gefunden habe. Und dass sie dermaßen gezielt hinter unseren Medaillons her sind, obwohl sie sie ja gar nicht mehr sehen können, weil wir sie seit dem ersten Angriff immer unter unserer Kleidung verborgen halten…
– Sie wissen einfach, dass die Medaillons da sind, unterbrach ihn Ulhasa.
Der alte Meister schüttelte den Kopf:
– Die Medaillons waren nur der Auslöser. Durch sie wurden die Elstern auf uns aufmerksam. Aber jetzt geht es ihnen nicht mehr um die Medaillons. Jetzt wollen sie uns.
Ich fand das alles ziemlich albern, und so ähnlich sagte ich das dann auch:
– Ich verstehe da was nicht. Das ist doch albern. Wieso könnt ihr euch nicht gegen die Elstern wehren, ihr habt doch den Glitzer, eure vielen Zaubertricks und, ja, warum hetzt ihr nicht euren großen Hund auf diese blöden Vögel? Für das Riesenvieh sind doch die paar Elstern ein Klacks. Der soll sie fertigmachen, aber so richtig!
Alhasa schüttelte traurig den Kopf:
– Ach Karoline, wenn es immer so einfach wäre. Aber den Hund auf die Elstern hetzen, das macht Lärm, und außerdem macht das der Hund nicht mit. Der Hund ist unser Freund, aber nicht unser Diener. Er würde uns natürlich jederzeit vor den Elstern beschützen, wenn die uns angreifen. Aber dazu müsste er den ganzen Tag bei uns sein, dort oben auf dem Dach des Straßenbahndepots, und dazu ist er einfach zu groß. Das würden sich die Leute sehr schnell fragen, was denn da so ein Riesenhund auf dem Dach macht. Und was unsere eigenen, durchaus vorhandenen Kräfte betrifft: Die dürfen wir nur benutzen, um Gutes zu tun. Wir dürfen sie niemals als Waffe einsetzen, auch nicht gegen noch so gemeine und böse Vögel. Wir können den Elstern dank unserer Kräfte ausweichen, aber die Bedrohung bleibt bestehen, und auch das Risiko, dass sie eines Tages doch einen von uns erwischen.
Er sah mich an:
– Verstehst du nun, Karoline, warum wir hier sind? Wir sind mit unserem Wissen, unserer Kunst am Ende. Wir verstehen diese Vögel nicht. Was meinst du, was kann das sein? Warum sind diese Elstern so anders?
Ach du meine Güte, jetzt war es raus. Diese mit unglaublichen Zauberkräften ausgestatteten Winzlinge wollten tatsächlich, dass ich ihnen half. So etwas kannte ich aus dem einen oder anderen Buch: Zauberdings verliert aus irgendeinem Grund die Macht und nur ein kleiner dummer Mensch kann helfen. Aber das hier war Wirklichkeit. Und der kleine dumme Mensch – war ich.
– Karoline? Ich schreckte aus meinen Gedanken auf. Meister Alhasa sag mich fragend an:
– Willst du uns helfen?
– Na klar! (Oh nein, Karoline, halt die Klappe, was redest du da, wie willst du denen denn helfen? Also: zurückrudern!) Äh, da ist nur ein kleines, also, wirklich nur ein klitzekleines Problem: Ich habe keine Ahnung, wie.
So, jetzt hatte ich es gesagt. Gespannt sah ich die kleinen Mönche an, schaute von einem zum anderen. In keinem der kleinen, dunklen, runden Gesichter mit den schräg stehenden Augen sah ich Enttäuschung oder gar Zorn. Sie lächelten. Nicht traurig, nein, sie lächelten eigentlich fröhlich. Was war da los?
– Da haben wir schon wieder etwas gemeinsam, stellte Olhasa fröhlich fest.
Meister Alhasa erhob sich:
– Für heute Nacht soll es genug sein. Lasst uns schlafen gehen. Morgen abend um die gleiche Zeit treffen wir uns wieder. Dich, Karoline, möchte ich bitten, noch einmal in Ruhe über alles nachzudenken. Ich bin mir sicher, du wirst uns helfen können. Du weißt es nur noch nicht.
Die anderen Mönchen waren ebenfalls aufgestanden. Schnipp – die Glitzerstaubglocke verschwand. Ich ächzte meine eingeschlafenen Beine aus dem Schneidersitz. Bevor die kleinen Mönche mein Zimmer verließen, drehten sie sich in der Tür noch einmal um und verbeugten sich vor mir. Alle fünf. Als ich aus meiner ebenfalls sehr tiefen Antwortverbeugung wieder hoch kam, waren sie verschwunden.

Ein paar Minuten später lag ich im Bett und dachte nach. Über alles. So, wie es Alhasa mir gesagt hatte. Also dachte ich nach über Elstern. Mama sagte immer, dass Elstern so schick gekleidet seien. Ach, Mama, die hatte ja überhaupt keine Ahnung. Ein Satz von Papa über Elstern fiel mir nicht ein. Also dachte ich noch einmal an das, was Alhasa über die Elstern gesagt hatte: Wir verstehen diese Vögel nicht. Was meinst du, was kann das sein? Warum sind diese Elstern so anders?
Mit einem Mal saß ich aufrecht im Bett. Warum sind diese Elstern so anders? Das war es! Diese Elstern waren anders. So anders, dass die kleinen Mönche sie mit ihren Kleinemönchemitteln, die bei allen anderen Tieren funktionierten, nicht erreichen konnten. Also mussten wir heraus finden, warum diese Elstern da so anders waren. Das musste doch irgendeinen Grund haben! Ich legte mich wieder zurück und überlegte weiter. Menschen waren auch manchmal anders als normal. Wenn sie Alkohol getrunken hatten. Oder Drogen genommen. Papa war immer anders, wenn im Fernsehen Frankreich Fußball spielte. Mama war anders, wenn sie Schnecken sah. Ein Freund von uns hatte mal eine Hirnhautentzündung bekommen und war eine Zeit lang ganz anders, so verwirrt und so. Und Mamas beste Freundin war nach einem schweren Autounfall, bei dem ihr Gehirn verletzt worden war, sogar ein komplett anderer Mensch geworden, gar nicht mehr Mamas Freundin, sondern schon fast jemand Fremdes. Irgendetwas musste auch mit diesen Elstern passiert sein, etwas, dass dafür verantwortlich war, dass sie sich so benahmen. Das musste ich herausfinden. Das würde ich herausfinden. Ich fühlte mich plötzlich groß und schlau und mutig. Bevor mich die Wirklichkeit wieder auf den Boden zurückholen konnte, war ich eingeschlafen.

 

Kapitel 11: Der Schlachtplan

Der nächste Tag wollte und wollte nicht vergehen. Es war ja Sommer, die Tage waren lang und die Sommerzeit sorgte dafür, dass sie noch ein bisschen länger wurden. Außerdem hatten die großen Ferien begonnen. Normalerweise hätte ich also lange auf sein müssen. Draußen toben mit den neuen Freunden und so. Stattdessen ging ich nach dem Abendessen in mein Zimmer, setzte mich ans Fenster, schaute hinaus und wartete sehnlichst darauf, dass es endlich dunkel wurde. Unten auf der Terrasse hörte ich meine Eltern erzählen und lachen. Ach, wenn die wüssten. Langsam, ganz langsam zog die Abenddämmerung herauf. Plötzlich schaute Papa zur Tür herein:

– Warum sitzt du hier so alleine? Hast du Heimweh nach der alten Wohnung? Bist du traurig? Hast du was?

Papa konnte manchmal unheimlich viele komische Fragen ganz schnell hintereinander stellen.

– Nein, Paps, alles in Ordnung. Bin nur ein bisschen müde, weißt du. Ich glaub, ich geh ins Bett und lese noch.

– Na dann, schlaf schön und gute Nacht.

Schwups, war er wieder weg. Ich stand auf und schloss die Tür. Zwei Dinge, nahm ich mir vor, würde ich meinem Vater in der nächsten Zeit beibringen: Erstens anzuklopfen, bevor er mein Zimmer betritt, und zweitens die Tür zu schließen, wenn er es verlässt. Ich machte mich also bettfertig: Klamotten aus, Schlafanzug an, Zähne putzen, Zahnspangen rein. Dann legte ich mich mit einem Buch aufs Bett. Es war ja Sommer, es war warm, da schlief ich oft einfach so im Schlafanzug. Es klopfte an der Tür. Das war Mama. Der brauchte ich nichts beizubringen.

– Kind, du bist schon im Bett?

– Jaaah.

– Geht es dir gut, Kind?

– Hmmmh.

– Warum hast du die Vorhänge zugezogen. Und mach dir doch ein Fenster auf, die Luft ist wunderbar draußen.

Sprach’s und ging zum Fenster.

– Mama, bitte, ich kann besser einschlafen, wenn es dunkel ist. Und außerdem: Ich komm doch auch nicht in euer Schlafzimmer und sage euch, wie ihr das machen sollt mit eurem Fenster, oder?

– Wir machen das ja auch richtig, entgegnete Mama, frische Luft ist gut. Aber bitte, mach‘s in deinem Zimmer so wie du willst. Nur wundere dich bitte nicht, wenn es nachher riecht wie im Pumakäfig.

– Maaaaama…

– Gute Nacht, Kind.

Mama raus, Tür zu, endlich allein. Es folgten die üblichen Elterngehenzubettgeräusche, auf die ich hier nicht weiter eingehen möchte. Es dauerte endlos lange, bis endlich Ruhe herrschte. Ich legte mein Buch zur Seite, schloss die Augen und wartete. Wartete… wartete… warte…

– Karoline!

Jemand rief nach mir. Ein kühler Wind fuhr durch meinen dünnen Schlafanzug. Ich fror. Ich stand in einem dunkelgrauen Nebel, der um mich herumwaberte. Plötzlich streifte etwas mein Gesicht. Federn! Die Flügel eines Vogels! Ich kniff die Augen zusammen und versuchte, etwas zu erkennen. Da war etwas im Nebel vor mir. Und es kam näher. Es waren Vögel. Schwarzweiße Vögel mit langen, wippenden Schwänzen. Elstern! Sie wurden immer mehr, und sie kamen immer näher. Sie öffneten ihre Schnäbel und riefen „Karoline! Karoline! Wach auf! Wir sind da!“ Ich wollte mich umdrehen, weglaufen. Ich wollte meine Beine bewegen. Ich wollte mit den Armen rudern, um die Vögel abzuwehren. Ich wollte, ich wollte, ich wollte. Ich konnte mich keinen Millimeter bewegen.

– Karoline!

Wild im Bett mit Armen und Beine strampelnd wachte ich auf. Kein Wind. Kein Nebel. Keine Elstern. Aber am Fußende meines Bettes saßen die fünf kleinen Mönche aufgereiht wie die Hühner auf dem Holzrahmen und schauten mich lächelnd an:

– Hab keine Angst, Karoline, wir sind es. (Also, im Chor zu sprechen, das beherrschten die kleinen Kerle perfekt.)

– Was? Wie?, nur langsam fand ich in die Wirklichkeit zurück. Dann kam noch mal der ganze Schrecken zurück:

– Da waren Elstern, ganz viele! Sie haben mich gerufen.

– Das waren keine Elstern, Karoline, das waren wir. Du warst eingeschlafen und hast geträumt.

– Eingeschlafen? Ich habe doch auf euch gewartet. Wie spät ist es denn?

– Kurz nach zwölf.

Die Mönche fassten sich an den Händen und schwebten gleichzeitig hinunter aufs Bett. Zirkusreif, die Nummer! Wie immer setzten wir uns dann im Kreis zusammen. Über uns wölbte sich die Glocke aus Zauberglitzer. Sie sorgte wie immer dafür, dass wir uns in Ruhe unterhalten konnten, ohne dass außerhalb der Glitzerglocke davon etwas zu hören war. Ansonsten hätte ich auch auf sie verzichten können, denn ich konnte inzwischen die kleinen Mönche auch ohne Vergrößerung perfekt erkennen und auseinander halten. Und weil die kleinen Mönche jetzt auch nicht mehr so abgehackt sprachen und ihre Stimmen auch für uns große Menschen gut zu hören waren, konnten wir uns auch ohne Glitzer bestens unterhalten.

– Also, begann Alhasa, wir brauchen einen Plan.

– Genau, stimmte ich zu, einen Schlachtplan gegen die Elstern.

Alhasa lächelte milde:

– Ich denke, es geht auch etwas weniger martialisch, Karoline.

– Marti..was?

– Martialisch, erklärte Ilhasa, das bedeutet „kriegerisch“ und ist abgeleitet vom Namen des römischen Kriegsgottes Mars.

– Ach, sagte ich, für mich war Mars immer was zu essen. Oder ein Planet, fügte ich schnell hinzu, um zu zeigen, dass ich auch ein bisschen gebildet war.

– Mars? Essen?, wollte Olhasa wissen, gibt es da irgendwelche Rezepte? Römische vielleicht?

– Also, so weit ich weiß, dozierte Ilhasa mit Inbrunst, finden sich weder in der „Re ce coquinaria“ des Apicius noch in der „Cena Trimalchionis“ des Petronius irgendwelche Rezepte, bei denen der Name des Mars auftaucht. Selbst in den Quellen über den berühmten Lucius Licinius Lucullus steht nichts über Rezepte in Zusammenhang mit dem Kriegsgott. Und Lucullus war schließlich nicht nur Feinschmecker, sondern immerhin auch Feldherr.

Der alte Abt räusperte sich vernehmlich:

– Ihr Lieben, ich glaube, ihr schweift gerade etwas ab. Ich sagte, wir brauchen einen konkreten Plan. Eine Strategie, nach der wir vorgehen, um eine Lösung unseres Problems zu finden.

Jetzt war der Moment gekommen, um meine Überlegungen vom Vorabend an den Mönch zu bringen:

– Ich denke, wir müssen heraus finden, warum sich diese Elstern so anders verhalten als normale Elstern. Wir müssen also erstens den Grund ihres Verhaltens finden. Wenn wir den haben, können wir zweitens darüber nachdenken, ob wir das Verhalten der Elstern so ändern können, dass sie sich wieder normal verhalten. Wir müssen drittens also nach einem Weg suchen, den Grund des Verhaltens aus der Welt zu schaffen. Wenn wir das geschafft haben, könnt ihr viertens noch einmal versuchen, mit den Elstern zu sprechen, wie ihr auch mit anderen Tieren sprecht. Wenn das dann klappt, wird fünftens alles gut.

Es war ganz still im Zimmer. Kein Mönch sagte was, aber alle schauten mich an. Ich war mir nicht ganz sicher, ob ich nicht mit den Erstens, Zweitens und so weiter durcheinander geraten war, aber irgendwie hatte ich das Gefühl, dass ich da einen ziemlich guten Plan entwickelt hatte. Endlich sprach Alhasa:

– Karoline, das ist ein sehr guter Plan.

Strahlendes Karolinengesicht.

– Aber wie sollen wir den Grund für das seltsame Verhalten der Elstern finden? Wir können sie ja leider nicht fragen.

Angestrengtes Karolinengesicht. Meine Gedanken rasten. Das stimmte, wir konnten die Elstern nicht fragen. Sie verstanden die kleinen Mönche nicht, und außerdem waren sie zu viele und zu angriffslustig. Und da, ganz langsam, stieg ein neuer Gedanke in mir auf. Wir sprachen immer von DEN Elstern, also immer von allen. Was aber wäre, wenn…

– Bis jetzt hattet ihr es immer mit allen oder mindesten mit mehreren Elstern zu tun. Was aber wäre, wenn wir es schafften, eine einzelne Elster zu fangen, um mit ihr zu sprechen? Vielleicht ist das bei den Elstern ein wenig so wie bei euch: Ihr seid zu fünft ja auch viel stärker als einer allein.

– Ja, sagte Elhasa, wenn es uns gelänge, eine Elster alleine zu erwischen, könnten wir versuchen, mit ihr Kontakt aufzunehmen. Dann könnten wir uns in Ruhe auf diesen einen Vogel konzentrieren und müssten nicht immer aufpassen, dass uns die anderen nicht angreifen.

– Fünf ausgebildete Mönche aus dem letzten Lhasa-Kloster Tibets gegen einen blöden Vogel, schnaubte Ulhasa, das ist nicht ehrenvoll, das ist lächerlich, das mache ich …

– Lieber junger Bruder, unterbrach ihn der alte Alhasa freundlich, aber bestimmt, bitte denke, bevor du sprichst, und bedenke, dass wir nicht vorhaben, etwas gegen diesen Vogel zu unternehmen, sondern dass wir versuchen wollen, endlich mit einem dieser Vögel, und in der Folge dann vielleicht mit allen, vernünftig zu sprechen, um endlich eine Lösung unseres Problems zu finden.

Ulhasa senkte unter den Worten des weisen Abtes den Kopf:

– Verzeiht, Meister, ich habe mich von meinen Gefühlen hinreißen lassen.

Ich war indes neugierig geworden und hakte nach:

– Sag mal, worin seid ihr denn ausgebildet, und wieso sprichst du plötzlich so wichtig von eurem Kloster? Ihr habt mir doch gesagt, es sei völlig unbedeutend.

Zum erstem Mal erlebte ich bei meinen kleinen, klugen Freunden so etwas wie ein betretenes Schweigen. Die vier jüngeren Mönche schielten zu ihrem Meister hinüber.

– Ihr Lieben, sagte Alhasa, und wieder umspielte dieses feine Lächeln seine Lippen, ihr Lieben, ich glaube, ihr schweift gerade wieder etwas ab.

Erleichterung in den Gesichtern von vier Mönchen, Enttäuschung im Gesicht von Karoline. Ich wusste, ich würde dazu heute nichts mehr in Erfahrung bringen. Alhasa fuhr fort:

– Die Idee, eine Elster von den anderen zu isolieren, um dann zu versuchen, mit ihr Kontakt aufzunehmen, ist sehr gut. Wie können wir sie verwirklichen? Wie fängt man eine Elster, die sich anders verhält als normale Elstern und die vor allem wesentlich aggressiver ist?

Er schaute von einem zum anderen Mönch. Viermaliges Kopfschütteln. Er schaute mich an. Einmaliges Achselzucken.

– Kennen wir jemanden, der uns helfen kann?, fragte Ilhasa in die ratlose Runde, ich meine, außer Karoline, denn das kann sie unmöglich alleine schaffen.

Autsch, das tat weh, aber das hat die Wahrheit manchmal wohl so an sich. (Papa hatte mir das schon öfter mal gesagt, aber erst jetzt verstand ich, was er damit gemeint hatte.) Ich konnte mir wirklich nicht vorstellen, eine lebende Elster zu fangen. Schon gar nicht eine von diesem Kaliber.

– Stimmt, räumte ich denn auch ein, aber wo gibt es einen Menschen, der uns helfen kann, dem wir das alles erzählen können, der uns das alles glaubt und dann auch keinem Menschen davon erzählt?

– Nun, grinste Elhasa, den letzten Punkt  kannst du uns und dem Glitzerstaub überlassen.

Stimmt, das hatte ich ganz vergessen. Die kleinen Mönche würden schon dafür sorgen, dass sich unser Helfer später an nichts mehr erinnerte.

– Ähm, entschuldigt mich, meine Brüder, verzeiht, weiser Vater, aber ich glaube, ich muss euch etwas sagen.

Das war Olhasa. Alle schauten ihn an mit einem Bittenichtwiedereinekochgeschichtegesicht. Alle, bis auf den alten Alhasa:

– Sprich, lieber Bruder, ich bin froh, dass du endlich den Mund aufmachst. Ich hatte schon befürchtet, du würdest es nicht mehr schaffen.

Dieser Alhasa. Was wusste er jetzt schon wieder, was wir nicht wussten, dass es Olhasa wusste? Alle spitzten die Ohren und schauten den kleinen, moppeligen Küchenmönch erwartungsvoll an.

– Ja, also, begann er, ich glaube, ich wüsste da jemanden. Ich kenne ihn zwar nicht persönlich, aber ich weiß, wo er lebt und was er so macht.

– Erzähle ruhig der Reihe nach und von Anfang an, Bruder Olhasa, du hast nichts zu befürchten.

Olhasa sah seinen Abt dankbar an. Dann holte er tief Luft und legte los:

– Wir waren noch nicht allzu lange in den kleinen hellblauen Tempeln, und mit den Elstern das hatte auch noch nicht angefangen, da ging ich eines Tages allein auf dem Dach spazieren. Es war kurz nach Mittag, ihr anderen ruhtet nach dem Essen, ich hatte gerade die Küche aufgeräumt und wollte ein wenig frische Luft schnappen nach all den Kochdünsten. Und wie ich da so umherschlenderte, stieg mir plötzlich ein köstlicher Duft in die Nase. Mir war sofort klar: Dies musste eine erlesene Speise sein, eine, die ich noch nicht kannte, denn so etwas hatte ich noch nie zuvor gerochen. Ich folgte dem Duft. Nach einer Weile erreichte ich eine Luke im Dach, die ein wenig offen stand. Aus der Luke stieg dieser unglaubliche Duft zu mir empor. Ich schaute zurück. Die Tempel lagen sehr weit hinter mir. Ich hatte gar nicht gemerkt, wie lange und wie weit ich schon gegangen war. Ich war völlig verzaubert von diesem Duft. Ich beugte mich über den Rand der Luke, riskierte vorsichtig einen Blick – und sah hinab in einen riesigen, weiten Raum. Und in ein genauso riesiges Durcheinander aus vielen unterschiedlichen Dingen in zum Teil sehr grellen Farben. Ich sah Latten und Bretter aus Holz, Farbeimer, einen großen Arbeitstisch, alle möglichen Werkzeuge und Pinsel und eine Menge Dinge mehr, die ich noch nie zuvor gesehen hatte. Dazu an den Wänden entlang aufgereiht eine Reihe von Ungetümen, manche von ihnen auf Rädern. In der Mitte des Raums stand ein besonders großes Ungetüm, eine Art riesige Kutsche mit vielen verschachtelten Aufbauten. Vor diesem Ungetüm stand ein kleiner Tisch. Vor dem Tisch saß auf einem Stuhl ein Mann. Vor dem Mann auf dem Tisch sah ich schließlich die Quelle dieses köstlichen Duftes. Auf einem großen, zerknitterten Stück fast durchsichtigen Papiers stand eine Schale, ich glaube, aus Pappe. In dieser Schale erkannte ich eine rote, dampfende Soße, darin runde Stückchen von etwas, das aussah wie aus Fleisch gemacht. Mit einer kleinen Gabel spießte der Mann immer wieder eins von den runden Fleischdingern auf, tunkte es in die Soße, in der ich jetzt auch kleine Zwiebelstückchen erkannte, und stopfte sich das Ganze dann mit einem wohligen Seufzer in den Mund. In der anderen, der linken Hand hielt der Mann ein kleines Brot, das er ebenfalls in die Soße tunkte, bevor er ein Stück abbiss. Hmm, ich bekomme Hunger, wenn ich das hier so erzähle. Wenn ich bloß wüsste, was der Mann da gegessen hat.

– Das kann ich dir sagen, meinte ich, das war eine Currywurst, höchstwahrscheinlich die besonders scharfe Version mit Spezial-Zwiebelsoße.

– Und, fragte Olhasa eifrig, kennst du das Rezept?

– Olhasa, Karoline, bitte. Sanft rief uns der alte Meister zur Ordnung. Sag, Olhasa, was macht dich glauben, dass dieser seltsame Mann unser Helfer sein könnte?

– Nun, er versteht anscheinend was von gutem Essen, warf Ulhasa ein. Olhasa warf ihm einen bösen Blick zu, und sagte dann:

– Der Mann machte da unten in diesem großen Raum etwas, das etwas Künstlerisches, ja Phantastisches hatte. Deshalb glaube ich, dass er uns zuhören, uns glauben wird. Und vor allem glaube ich, dass er Spaß daran haben wird, uns zu helfen. Außerdem kann der Mann mit Werkzeug umgehen. Er hat nicht nur Phantasie im Kopf, er kann auch mit seinen Händen umgehen. So einer kann auch einen Vogel fangen.

Es entstand eine Stille, in der jeder nachdachte über das, was der Küchenmönch gesagt hatte. Dann nickte der alte Meister Lhasa:

– Mit dem Kopf in den Wolken, mit den Füßen auf dem Boden. Ja, dieser Mann ist der richtige für uns. Aber wie heißt er? Wie können wir Kontakt mit ihm aufnehmen?

Olhasa schüttelte den Kopf. Alle fünf schauten mich fragend an.

– Moooment mal, begann ich, ich weiß jetzt, dass da im Straßenbahndepot anscheinend ein Verrückter lebt, der irgendwelche Ungetüme auf Rädern baut und dazu scharfe Currywurst isst. Aber, liebe Leute, ich bitte euch, wie soll ich da hinkommen, alleine, und dann den Mann finden und auch noch dafür sorgen, dass er mir zuhört, mir glaubt und uns hilft? Das schaffe ich unmöglich allein!

– Brauchst du auch nicht, sagte Alhasa. Dein Vater wird dir helfen.

– Papa?!? Augenblicklich stand ich fast senkrecht im Bett. Ihr wollt Papa einweihen?

– Es wird notwendig sein.

– Aber, aber, er wird, er ist…

– Er ist der Vater seiner Tochter, sagte Alhasa eindringlich. Langsam dämmerte mir, was der alte Meister damit meinte.

– Schlaf eine Nacht drüber, Karoline. Diese Nacht.

Alhasa und die anderen verneigten sich.

– Für heute ist genug gesprochen, sagte er. Gute Nacht.

Schnips, die Glitzerglocke erlosch. Fünf kleine Lichtpunkte glitten von meinem Bett hinunter aufs Parkett. Durch die Tür. Hinaus ins dunkle Haus. Mit einem tiefen „Puuuuh“ ließ ich mich aufs Kissen zurückfallen. Und während ich mir langsam und immer genüsslicher das Gesicht von Papa vorstellte, wenn ich ihm die kleinen Mönche präsentierte, schlief ich breit grinsend ein.

 

DRITTER TEIL

Kapitel 12: Karneval und Currywurst

Am nächsten Morgen, es war Samstag, ging dann alles sehr schnell. Während des Frühstücks klingelte das Telefon, Mama sprach eine Weile, kam in die Küche zurück und eröffnete Papa und mir, dass sie gleich weg müsse, zu ihrer Freundin Heike an den Niederrhein, mit der sie eine gemeinsame Ausstellung plante. Da Heike über 100 Kilometer entfernt wohnte, sagte Mama, werde sie dort übernachten und erst am nächsten Tag wiederkommen. Und weil Papa ja heute nicht arbeiten brauchte, könnten er und ich uns einen schönen Vatertochtertag machen.

Eine Stunde später war Mama fort und Papa reif – für die Begegnung mit den kleinen Mönchen. Denn mir war sehr schnell klar geworden, dass dies eine einmalige Chance war, Papa nicht nur einzuweihen, sondern auch noch heute mit ihm zum Straßenbahndepot zu fahren und mit diesem Currywurstesser zu sprechen. Mama war zwar mit dem Auto unterwegs, aber wir konnten auch mit dem Bus und dann sogar mit der Straßenbahn zum Straßenbahndepot zu fahren. Das hatte was, fand ich. Aber: Noch waren wir nicht so weit.

Nachdem wir die Küche aufgeräumt und die Betten gemacht hatten, fragte Papa:
– So, und was machen wir beide nun aus diesem Tag?
– Ich muss mit dir was besprechen, antwortete ich, etwas sehr Wichtiges.
Mein Vater machte ein alarmiertes Gesicht:
– Na, dann schieß mal los.
– Nein, nicht hier in der Küche. Lass uns in mein Zimmer gehen, nein, lieber ins Bad.
– Ins Bad? Papas Gesicht zeigte Alarmstufe Gelb.
– Bitte Papa, es ist wichtig.
Ich weiß nicht, was mein Vater dachte, sein Gesicht jedenfalls hatte jetzt diesen besorgten onkeldoktorlichen Jawashatdennmeinkindausdruck angenommen, während er hinter mir die Treppe hinauf stieg zum Bad. Dieses Gesicht hatte noch ein paar Sekunden Bestand, während ich ihn bat, sich auf den Badewannenrand zu setzen und sich gut festzuhalten, während ich mich quer auf den geschlossenen Klodeckel setzte, mich dann hinunter beugte und ganz vorsichtig an die kleine Metalltür unten in der Wand klopfte.

Das Gesicht, das Papa machte, als sich dann die Tür von allein öffnete, hatte ich vorher noch nie bei ihm gesehen. Ich möchte hier jetzt gar nicht in allen Einzelheiten erzählen, wie diese erste Begegnung zwischen meinem Vater und den kleinen Mönchen verlief. So viel nur: Papa zeigte sich von seiner allerbesten Seite, nachdem er sich vom ersten Schock erholt hatte. Er verstand sich sofort glänzend mit allen. Aber er hatte auch sehr schnell den Ernst der Lage erkannt und übertrieb es nicht mit den „Schärrzen“, wie er seine manchmal etwas peinlichen Witze zu nennen pflegte. Und zu Meister Alhasa war er supernett, höflich und voller Respekt. Ich war richtig stolz auf meinen Paps.

Die kleinen Mönche hatten sich bestens darauf vorbereitet, meinem Vater in kürzester Zeit alles zu erzählen und zu erklären, was er wissen musste. Das war mehr oder weniger das, was ihr bis jetzt gelesen habt. (Hey, eigentlich ein guter Anlass, noch mal zurück zu blättern, um die eine oder andere Erinnerung aufzufrischen, was meint ihr?) Dieser Schnellkurs über kleine Mönche fand, wie könnte es anders sein, mit Hilfe des Zauberglitzers statt. Alhasa formte Glitzerstaub zu einer Kugel, und in der Kugel lief dann so eine Art Film für Papa ab. Als der „Film“ zu Ende war, nickte mein Vater:
– Dann fahren Karoline und ich am besten gleich zum Straßenbahndepot und schauen mal, ob wir diesen Karnevalskünstler finden und sprechen können.
– Karnevalskünstler?, fragte ich.
– Ja, sagte Papa, ich hab mal irgendwo gelesen, dass da im Straßenbahndepot so ein Künstler Karnevalswagen baut, die dann beim Rosenmontagszug zum Einsatz kommen. (Zu den kleinen Mönchen gewandt:) Das ist so ein Brauch hier bei uns. Jedes Jahr, so im Februar, wird die Hälfte der Bevölkerung wahnsinnig und feiert an einem langen Wochenende von Donnerstag bis Dienstag eine Riesenparty. Dazu wird gesoffen und ge.., (er räusperte sich mit einem Seitenblick auf mich), naja, gefeiert eben, und dazu verkleiden sich viele, damit man sie nachher nicht wiedererkennt. Ach ja, und schon während der Wochen davor gibt es jede Menge Fernsehsendungen und so.
– Karneval, der, italienisch carnevale, vermutlich eine Umdeutung von mittellateinisch carne vale »Fleisch lebe wohl« oder carrus navalis »Schiffskarren«, hob Ilhasa an. Papas Mund klappte auf und ging in den nächsten Minuten nicht wieder zu. Ilhasa dozierte weiter:
– Es bezeichnete den Sonntag vor Aschermittwoch, ursprünglich Sonntag vor der vorösterlichen Fleischenthaltung, an dem die Menschen noch mal so richtig das Leben genossen, bevor es in die Fastenzeit ging. Daher auch der Name Fastnacht. Fastnacht bezeichnet, wie ich schon sagte, ursprünglich den Abend vor der Fastenzeit, seit dem 15./16. Jahrhundert vor allem die letzten drei Tage. Diese lustige Zeit wurde dann nach und nach ausgedehnt, und seit dem 19. Jahrhundert herrscht vom Dreikönigstag bis Aschermittwoch eine Zeit des Frohsinns, verbunden mit Tanzveranstaltungen, Maskeraden und ähnlichen Vergnügungen, mit Höhepunkt und Ende am Fastnachtsdienstag.
Papa verzog das Gesicht zu einem grimmigen Grinsen und nickte:
– Genau, das ist der Karneval. (Und an Ilhasa gewandt:) Klasse Definition – aus dem Brockhaus?
Ilhasa nickte stolz:
– Den haben wir komplett in der Bibliothek unseres Klos…
Er verstummte. Alle Mönche saßen plötzlich seltsam erstarrt da. Die Stimmung schlug um. Gab es das Kloster überhaupt noch? Und wenn ja, was war aus ihm geworden?
Es vergingen ich weiß nicht wie viele bleischwere Minuten. Dann gab sich Papa einen Ruck und fragte Richtung kleiner Mönche.
– Wer von euch kommt mit?
Keine Reaktion.
– Hallo, Mönche, ich rede mit euch. Kommt mal wieder in die Wirklichkeit zurück!
Alhasa bewegte sich. Langsam drehte er den Kopf, schaute zum Himmel, dann in die Runde, dann auf mich, dann auf Papa.
– Entschuldigt, Karoline und Vater der Karoline, sagte er, wir waren für einen Augenblick zu Hause.
Auch die anderen kleinen Mönche erwachten langsam aus ihrer seltsamen Starre.
– Ulhasa und Elhasa, ihr werdet Karoline und ihren Vater begleiten. Ich denke, es ist das Beste, wenn unsere beiden Freunde von einem mutigen und einem besonnen Mönch begleitet werden. So ist alles im Gleichgewicht.

Zehn Minuten später standen Papa und ich an der Haltestelle und warteten auf den Bus, um in unsere alte Heimatstadt zu fahren. Vor dem Verlassen des Hauses hatte Papa noch aufs Klo gemusst. Das muss er immer, bevor er irgendetwas Wichtiges unternimmt. Ich nutzte die Gelegenheit, um etwas zu tun, was ich schon die ganze Zeit tun wollte: Ich zählte die kleinen Mönche. Es waren nur vier!
– Wo ist eigentlich Olhasa, fragte ich den alten Abt.
– Der hat zu tun, kam es knapp zurück, wobei Alhasa ein klares Fragbittenichtweitergesicht machte.

Wir standen also an der Haltestelle. Ulhasa und Elhasa steckten in meiner Zahnspangendose, die ich dazu mit Watte ausgepolstert hatte. Die Dose selbst steckte in meiner Lieblingsumhängetasche, die ich fest und vorsichtig an mich drückte. Was Papa allerdings nicht davon abhielt, mich alle naselang entweder zu ermahnen, die Tasche nicht zu fest zu drücken, oder mich zu ermahnen, sie ja nicht los zu lassen. In der großen Stadt am Rhein mussten wir einmal umsteigen, in die Straßenbahn. Mit der ging es dann bis zur Endstation: dem Straßenbahndepot.

Nachdem wir ausgestiegen waren, warteten wir einen Moment, bis die anderen Fahrgäste verschwunden waren. Die Straßenbahn, nun leer bis auf die Fahrerin, fuhr unter großem Gerumpel und Gequietsche ins Depot ein. Papa und ich schauten uns kurz an und marschierten dann hinterher. Aber so einfach kommt man in kein Straßenbahndepot. Auch hier nicht. Da gab es nämlich neben der Einfahrt eine Art Pförtnerhaus, ein wuchtiges kleines Stück Stein auf Stein. Und drinnen saß, fast genau so wuchtig, ein Mann in einer Art Uniform. Als er sah, wie wir uns hinter der Straßenbahn ins Depot mogeln wollten, öffnete er im großen Pförtnerhausfenster ein kleines Sprechfenster:
– Hallo! Sie da! Sie können hier nicht einfach rein! (Brüll. Motz. Wichtig.)
Papa und ich wechselten wieder einen Blick. Da gingen wir rüber zum Pförtner.
– Ah, gut, dass Sie da sind, sagte Papa mit seinem freundlichsten Lächeln. Wir haben Sie gar nicht bemerkt.
– Sie können hier nicht einfach rein! (Aufpluster. Wichtig. Motz.)
– Das haben wir uns gedacht, guter Mann, deshalb kommen wir ja auch zu Ihnen, säuselte Papa. (Schleim. Schleim.)
-Wir wollen zu dem Künstler, der die Karnevalswagen baut, machte ich dem Hinundher ein Ende, wir werden erwartet, wir haben einen Termin bei ihm.
– Bei dem Spinner?, der Pförtner schnaubte verächtlich, na dann pass mal auf, kleines Fräulein, dass der dich nicht zu seiner Karnevalsprinzessin macht, hahaha. (Megalustiger Witz.)
– Und wo finden wir den Spinner? Papas Stimme klang plötzlich etwas metallisch.
– Nehmen Sie den Eingang hier links, und dann überqueren Sie den Hof. Halle 1, das ist die erste rechts. Aber passen Sie auf, das ist hier ein stark befahrener Betriebshof.
– Danke, und helau auch, sagte Papa.
Peng! Der Pförtner knallte das Fensterchen zu.
– Hm, brummte Papa, jede Wette, dass der Karneval hasst.
– Ich glaube, der hasst nicht nur Karneval, sagte ich und hüpfte über die vielen Schienen, die den Hof des Straßenbahndepots durchzogen. Das riesige, graue Tor mit der einst weißen, nun verblichen grauen großen 1 stand leicht auf. Wir gingen hinein, weiter und weiter. Die Halle war wirklich unglaublich groß, mit vielen, langen Neonröhren an der hohen Decke. Die meisten leuchteten ein kaltes, klares Licht. Überall im Boden waren noch Schienen, aber Straßenbahnen standen hier keine mehr. Stattdessen etwas anderes, nicht minder großes: Karnevalswagen. Fertige, fast fertige und noch überhaupt nicht fertige. Alles war so, wie es Olhasa beschrieben hatte. Und ganz hinten, vor einem riesigen Karnevalswagen, ein Tisch mit einem Stuhl, und darauf ein Mann. Je näher wir Tisch, Stuhl und Mann kamen, desto besser konnten wir sehen, was er da gerade tat. Auch das kam uns bekannt vor. Sehr bekannt sogar: Der Mann aß eine Currywurst.
– Guten Appetit, sagte Papa zu dem Mann.
Ich sah hinauf zur Decke. Ganz oben, direkt über Tisch, Stuhl und Mann, erkannte ich ein Dachfenster, das einen Spalt geöffnet war. Von da oben musste Olhasa den Mann beobachtet haben.
– Danke, antwortete der Mann mit vollem Mund und stippte sein Brötchen in die rote, scharfe Soße. Waf kann if für Fie fun?
– Nicht mit vollem Mund sprechen, rutschte es mir heraus. Papa sah mich tadelnd an. Der Mann schluckte, wischte sich den Mund mit einem Fetzen Küchenpapier ab und lachte:
– Du hast wohl den Knigge auswendig gelernt, was?
– Den was?, fragte ich zurück.
– Erklär ich dir später, fuhr Papa dazwischen, dann, zum Mann gewandt:
– Erst mal schönen guten Tag. Ich heiße Mathias Lober und das ist meine Tochter Karoline. Ich hoffe, wir stören nicht.
– Mmh, machte der Mann, kommt drauf an, womit und wozu. Ich bin übrigens Fred Fortein.
– Klingt irgendwie niederländisch, sagte Papa.
– Das meinen viele. Aber eigentlich kommt es aus dem Französischen. Meine Vorfahren hießen ursprünglich Fortain, und dann ist irgendwann Fortein draus geworden, vielleicht, weil die Deutschen die französischen Nasale nicht so gut aussprechen können. Aber Sie sind doch wohl nicht gekommen, damit ich Ihnen das alles erzähle, oder?
– Nee, nicht wirklich, sagte ich, wir sind hier, weil wir ein Problem haben, das heißt, eigentlich haben nicht wir, also mein Papa und ich das Problem, sondern die klei…
– Wir brauchen Ihre Hilfe, unterbrach mich Papa, und zwar in einer, nun, sagen wir mal: äußerst ungewöhnlichen Angelegenheit.
– Klingt interessant, meinte Fred Fortein, stopfte sich das letzte Stück Currywurst in den Mund, wischte die Pappschale sauber mit dem Brötchen aus, stopfte das auch noch in den Mund, kaute, schluckte und spülte das Ganze dann mit einem großen Schluck aus einem Becher Kaffee hinunter. Dann kramte er aus der Brusttasche seines nicht mehr ganz sauberen Hemdes eine filterlose Zigarette hervor, fingerte aus der Tasche seiner farbbetupften Jeans ein Feuerzeug und lehnte sich behaglich seufzend zurück, während er den Rauch des erstens Zuges langsam in die Luft blies.
– Da hinten stehen noch ein paar Klappstühle. Bedienen Sie sich.
Ein paar Augenblicke später saßen Papa und ich auf wackeligen Klappstühlen um den Tisch herum. Papa hatte sich eine der Filterlosen von Fred Fortein angezündet und einen dicken Pott Kaffee vor sich, den Fred Fortein aus einer uralten Kaffeemaschine serviert hatte, die, in Steckdosennähe auf dem Boden stehend, vor sich hin sprotzte. Ich nuckelte an einer Limo, die der Karnevalswagenbauer aus einem Kühlschrank gezaubert hatte, der ziemlich weit hinten an der Wand stand und mit Sicherheit doppelt so alt und groß war wie ich. Meine Lieblingsumhängetasche mit Ulhasa und Elhasa hielt ich vorsichtig auf den Knien,
– Also…, Fred Fortein schaute von Papa zu mir und zurück.
– Tja, Papa räusperte sich und wies dann mit der Hand auf mich, meine Tochter zeigt Ihnen jetzt mal was. Bleiben Sie bitte ganz ruhig und warten Sie ab, was geschieht. Es ist auf jeden Fall nichts Schlimmes.
– Mann, Sie machen ja ein ganz schönes Theater, brummte der Künstler, aber meinetwegen, lass mal sehen, Mädchen.
Vorsichtig fasste ich in meine Tasche und holte meine Zahnspangendose heraus. Fred Fortein zog fragend seine buschigen Augenbrauen hoch. Ich stellte die Dose auf den Tisch und machte sie auf. Im selben Augenblick stieg Glitzer aus ihrem Inneren in die Luft. Der Glitzer formte um den ganzen Tisch eine Glocke, unter der wir nun saßen. Ulhasa und Elhasa waren aus der Dose geklettert und hatten sich wieder etwas vergrößert. Sie verbeugten sich vor Fred Fortein und sprachen wie mit einem Mund:
– Guten Tag, Fred Fortein. Wir freuen uns sehr, bei dir zu sein.
Fred Forteins Augenbrauen hatten inzwischen fast den Haaransatz erreicht. Seine Zigarette verglühte langsam zwischen seinen Fingern. Er ließ sie einfach in den Aschenbecher fallen. Papa lächelte:
– So ging’s mir auch beim ersten Mal.
Fred sah ihn verwirrt an:
– Was? Wann? Wie bitte?
Ich griff mal lieber ein:
– Also, begann ich, das sind Ulhasa und Elhasa. Sie und noch drei andere kleine Mönche haben das Problem, von dem mein Vater vorhin sprach. Wir, also die fünf kleinen Mönche, mein Vater und ich, haben uns überlegt, wie wir das Problem in den Griff bekommen. Und wir haben einen Plan. Damit der klappt, brauchen wir Ihre Hilfe. Klar soweit?
Fred nickte. Ich fuhr fort:
– Ulhasa und Elhasa werden Ihnen jetzt erklären, worum es geht. Das dauert nicht allzu lange, denn sie haben da eine ziemlich gute Methode.
Fred nickte erneut. Ich wandte mich den beiden kleinen Mönchen zu:
– Okay, ihr könnt anfangen.
Ulhasa und Elhasa formten Glitzerstaub zu einer Kugel, und in der Kugel lief dann der gleiche „Film“ ab wie schon am Morgen für Papa. Und auch Fred Fortein zeigte sich der Herausforderung gewachsen:
– Diese Elstern, ja, die sind mir auch schon aufgefallen. So viele auf einen Haufen, immer zusammen, immer laut und zänkisch.
– Wir haben, sprach nun Elhasa, einen Plan, der uns sehr erfolgversprechend erscheint. Die Elstern sind immer zusammen. Das macht sie stark und vor allem gefährlich für uns. Deshalb wollen wir versuchen, eine einzelne zu fangen. Mit der werden wir fertig – schließlich sind wir ja zu fünft.
Er warf Ulhasa einen warnenden Blick zu, aber unser Draufgänger blieb ruhig. Elhasa sprach weiter:
– Wenn wir also einen Vogel von den anderen isolieren, dann können wir uns mit unseren fünf Kharmas auf ihn konzentrieren und es vielleicht schaffen, mit ihm zu kommunizieren. Und wenn uns das gelingt, erfahren wir vielleicht auch, warum die Elstern sich so merkwürdig verhalten.
– Allerdings gibt es da noch ein Problem, ergriff jetzt Ulhasa das Wort, wir schaffen es nämlich nicht allein, eine Elster zu fangen. Wir brauchen dazu Hilfe.
– Und zwar, hakte ich jetzt ein, von jemandem, der Phantasie besitzt, zupacken kann und keine Angst vor diesen Viechern hat.
– Kurz: Wir brauchen Sie, mein lieber Fred. Papa grinste. Er liebte es, das letzte Wort zu haben.
Es entstand eine Pause. Und die dauerte. Und dauerte. Fred Fortein zündete sich eine neue Zigarette an.
– Rauchen ist…, begann ich. Papa machte das Reissverschlussmundzuzeichen. Ich schwieg. Die Pause dauerte an. Fred Fortein rauchte und schwieg. Papa spielte mit seinem Kaffeebecher und schwieg. Ulhasa und Elhasa hatten sich auf dem Tisch niedergelassen und schwiegen. Vielleicht meditierten sie auch.
– Rätsch! Rätschrätsch! Rätsch!
Zwei Männer, zwei kleine Mönche und ein Mädchen zuckten zusammen.
– Rätschrätsch! Rätsch! Rätsch!
Alle schauten nach oben. In dem Spalt, den das Dachfenster geöffnet war, erschien der Kopf einer Elster. Neugierig schaute der Vogel auf uns herab. Wir saßen da, wie erstarrt. Bis auf einen. Bis auf Ulhasa.

 

Kapitel 13: Ein Sprint mit Folgen

Ulhasa erwachte so plötzlich aus seiner meditativen Starre, dass ich es erst mit einiger Verzögerung bemerkte. Er sprang hoch, riss sich das Gewand auf und zog sich die feine goldene Kette mit dem kleinen, golden glänzenden Medaillon, die er wie jeder der fünf kleinen Mönche um den Hals trug, über den Kopf. Dann begann er, Kette samt Medaillon wie ein Lasso über dem Kopf zu wirbeln.
– Rätsch! Rätsch! Jetzt saß die Elster auf dem Rand des Fensters. Urplötzlich löste sich der Glitzer um uns herum auf. Menschärgeredichnüppiklein kletterte Ulhasa am Tischbein hinab auf den Boden und lief, Kette und Medaillon wirbelnd, durch die riesige Halle. Trotz seiner Winzigkeit was er gut zu erkennen. Das Medaillon glänzte und gleißte und reflektierte das Licht der Neonröhren in tausend Blitzen. Je schneller Ulhasa das Medaillon wirbelte, desto heller schien es zu strahlen.
– Räääääääätsch! Das klang böse. Die Elster schoss im Sturzflug auf Ulhasa zu, der wie ein Blitz über den schmutziggrauen Hallenboden huschte. Und da wurde mir mit einem Mal schlagartig klar, wo der kleine, mutige Mönch hinwollte, was er plante und was ich dabei zu tun hatte. Ich sprang so heftig auf, dass der Stuhl polternd hinter mir umkippte. Egal, ich war schon unterwegs. Ich rannte. Ich rannte – nicht so schnell ich konnte. Nein, ich rannte so schnell wie ich eigentlich gar nicht konnte. Ich rannte, wie ich in meinem ganzen Leben noch nie gerannt war und gewiss auch nie wieder rennen werde. Ich rannte dahin, wohin Ulhasa wollte. Ich musste unbedingt vor ihm da sein. Und natürlich auch vor der Elster. Die kam näher. Ulhasa rannte. Ich rannte. Das Medaillon wirbelte. Die Elster flog jetzt in etwa einem Meter Höhe rechts an Ulhasa heran, praktisch auf gleicher Höhe. Dann knickte sie nach links unten ab, den Schnabel geöffnet, auf Ulhasa zu. Ich schrie irgendwas, Hauptsache, laut.
– Rääääätsch! Vorbei. Das klang enttäuscht. Der Schwung trug die Elster ein gutes Stück in die Halle hinein. Ulhasa rannte immer noch. Ich rannte immer noch. Von hinten hört ich das Schlagen von Flügeln und die Stimmen von Papa und Fred Fortein, die aufgeregt hinter uns her riefen.
Rätsch! Rätsch! Die Elster griff wieder an. Das Medaillon warf einen wahren Glitzerregen auf den Boden, auf die Wände, auf die Decke. Ich rannte. Ulhasa rannte. Die Elster kam immer näher. Ich überholte Ulhasa. Ich rannte. Ulhasa rannte und wirbelte das Medaillon. Die Elster rätschte triumphierend. Jetzt hatte sie Ulhasa erreicht. Jetzt erreichte ich den Kühlschrank, Hand an Griff, ein Ruck, Kühlschrank auf, Ulhasa rein mit Medaillon, Elster flatterrätschend hinterher, Kühlschranktür zu und sofort wieder auf. Ulhasa raus mit Medaillon und Türe zu. Dann Stille. Ich lehnte mich mit dem Rücken gegen die Tür und rutschte dann langsam an hier runter auf den Boden. Ich war völlig ausgepumpt. Das war der härteste Sprint meines Lebens gewesen. Hinten am Tisch saßen Papa und Fred Fortein und starrten mit offenen Mündern zu uns rüber. Nach einer Weile rappelten Ulhasa und ich uns auf. Ich ließ den kleinen Sprintermönch auf meine Hand und ging dann langsam zum Tisch zurück. Dort setzte sich Ulhasa wieder neben Elhasa auf die Tischplatte. Der sah ihn anerkennend an:
– Das hast du sehr gut gemacht, Bruder.
– Danke, mein Bruder, aber ohne Karoline hätte ich es nie geschafft.
Während ich daran arbeitete, die aufsteigende Morgenröte aus meinem Gesicht zu verbannen, standen die beiden auf und verbeugten sich vor mir. Resultat in meinem Gesicht: Sonnenuntergangsblutrot. Ulhasa nestelte noch ein wenig an seiner Kutte, unter der er das Medaillon wieder verbarg, dann ließen sich die beiden kleinen Mönche wieder nieder. Jetzt fand auch der Karnevalswagenbauer in die Ereignisse zurück:
– Ich fürchtete schon, du würdest den kleinen Kerl mit diesem durchgedrehten Geier da allein in meinem Kühlschrank lassen.
Ulhasa und ich sahen uns einen langen Augenblick an.
– Das war nicht so vorgesehen, sagte Ulhasa dann.
– Nein, das war überhaupt nicht so vorgesehen, assistierte ihm Elhasa.
– Überhaupt nicht!, echote ich
– Okay, meinte Papa, die Elster in den Kühlschrank zu locken, das war schlau. Aber wie geht es jetzt weiter? Sollen wir warten, bis die Elster tiefgefroren ist?
– Das geht nicht, dazu ist der Kühlschrank zu schwach, sagte Fred Fortein, aber an Unterkühlung sterben kann das Viech natürlich.
Ich war inzwischen wieder aufgesprungen und lief aufgeregt zwischen Tisch und Kühlschrank hin und her.
– Was machen wir denn jetzt? Ulhasa! Elhasa! Papa! Herr Fortein! Hat denn niemand eine Idee?
– Immer mit der Ruhe, brummte Fred Fortein. Und bloß keine Panik. Schließlich ist die Hälfte des Plansolls schon erfüllt: Die Elster ist gefangen. Und zwar ohne dass ich hätte helfen müssen.
– Ja, toll, entgegnete ich, sie sitzt jetzt im dunklen Kühlschrank und kriegt eine dicke Erkältung.
– Ist die immer so, fragte Fred Fortein meinen Vater. Papa grinste und schüttelte zu meiner großen Überraschung den Kopf. Dann sagte er:
– Nicht, wenn sie schläft.
Männer!
Fred Fortein stand auf, ging zum Kühlschrank hinüber, griff zum Stecker und zog ihn aus der Steckdose.
– So, frieren wird sie jetzt nicht mehr.
– Was?, rief ich, der Kühlschrank ist doch jetzt noch ganz lange kalt innendrin, oder haben sie jetzt die Heizung angemacht?
Fred Fortein blieb auf halben Weg zurück zum Tisch stehen.
– Mmh, machte er, da hast du Recht. Aber was soll ich machen? Etwa die Tür wieder auf?
– Die Elster friert nicht. Fest und bestimmt erklang Ulhasas Stimme. Ich habe ein wenig Zauberglitzer im Inneren zurückgelassen. Er wird die Elster wärmen und er gibt auch ein wenig Licht, so dass sie nicht im Dunkeln sitzen muss.
Elhasa nickte wieder anerkennend.
– Was haben Sie eigentlich so alles in dem Kühlschrank gelagert?, fragte Papa den Karnevalskünstler, hoffentlich nichts, worüber sich die Elster hermachen könnte?
– Nur Flaschen mit Getränken, meinte Fred Fortein, die kriegt sie bestimmt nicht kaputt.
– Aber irgendwann bekommt sie bestimmt Hunger und Durst, gab ich zu bedenken.
– Auch daran habe ich gedacht. Ulhasa war wirklich unglaublich. Wir werden ihr beim nächsten Besuch zu fressen und zu trinken mitbringen. So lange wird sie es aushalten. Elstern können das.
– Wir? Beim nächsten Besuch? Papa, Fred Fortein und ich fragten so perfekt im Chor, als wären wir bei den kleinen Mönchen in die Schule gegangen.
– Nicht ihr, korrigierte Elhasa, wir, die Mönche. Wir alle fünf. Wir werden schon bald zu der Elster in den Kühlschrank gehen, um mit ihr Kontakt aufzunehmen. Und dann bekommt sie auch etwas zu fressen und zu trinken. Damit sie sieht, dass wir ihre Freunde werden wollen.
– Und wie wollt ihr in den Kühlschrank reinkommen, ohne der Elster die Chance zu bieten, rauszukommen?, wollte Papa wissen.
– Wir gehen so rein wie ich rausgekommen bin, antwortete Ulhasa, nämlich sehr schnell.
Fred Fortein hatte sich inzwischen wieder hingesetzt und verschränkte die Arme vor der Brust:
– Und wozu braucht ihr mich dann? Mal abgesehen davon, dass das alles mit und in meinem Kühlschrank passiert, wohlgemerkt dem einzigen Kühlschrank, den ich hier habe.
– Es ist wahr, sprach Elhasa in seiner bedächtigen Art, dass wir vor allem deinen Kühlschrank brauchen. Wir brauchen aber auch dich. Denn wir wissen noch nicht, was uns die Elster erzählen wird. Wir wissen ja noch nicht einmal, ob wir sie überhaupt zum Reden bringen werden. Wir werden vielleicht viele Male kommen müssen, bis dass wir einen Weg der Verständigung mit dem Vogel gefunden haben.
– Na, super. Fred klang nicht gerade begeistert.
– Aber, fuhr Elhasa fort, vielleicht wird alles auch viel leichter. Und du wirst es nicht umsonst getan haben. Wir können dich zwar nicht so entlohnen, wie du es gewohnt bist. Wir haben kein Geld, um dich zu bezahlen. Wir können dir auch keine Zauberkräfte verleihen. Aber wenn du uns hilfst, wirst du unser Freund. Und unsere Freunde sind auf eine Weise glücklich, wie es andere Menschen nicht sind. Es ist nun an dir zu entscheiden, ob du uns helfen willst oder nicht. Zwingen können wir dich nicht, auch nicht überreden. Du musst selbst davon überzeugt sein, es muss aus deinem Inneren kommen. Nur dann ist es wahrhaftig.
Ich schluckte. Das war eine schöne Rede gewesen. Auch Papa blickte gerührt. Fred Fortein stand auf, ging einmal zum Kühlschrank und zurück, schlenderte dann an seinen fertigen, fast fertigen und noch überhaupt nicht fertigen Karnevalswagen vorbei, kam zurück an den Tisch, setzte sich, legte die Nase auf die Tischplatte, so dass seine dunklen Augen fast auf Höhe der Gesichter der kleinen Mönche waren und sagte, wobei seine Stimme merkwürdig dunkel klang, weil sein Mund unter der Tischplatte war:
– Wenn ich das erzähle – das glaubt mir kein Mensch.
Elhasa lächelte mild, fast so wie der alte Abt:
– Du wirst es niemanden erzählen.
– Äh, nein, natürlich nicht, Fred schien sich zu besinnen: Also, ich bin dabei. Wann geht’s los mit der Elsternnummer im Kühlschrank?
– Morgen, tönte es aus zwei Kleinemönchemündern.
Ich schaute meinen Vater fragend an:
– Wann kommt Mama zurück?
– Na, auch morgen, so gegen Mittag.
– Wir brauchen das Auto, sagte ich. Sonntags fährt kein Bus.
– Was erzählen wir dann Mama?
Elhasa räusperte sich:
– Entschuldigung, wenn ich euch mal unterbrechen darf. Deine Mutter, Karoline, also auch deine Frau, hochverehrter Vater der Karoline, ist auf ihrer Fahrt nicht allein.
Papa und ich guckten verdutzt. Elhasa schmunzelte.
– Sie wird auch diese Nacht nicht allein sein, warf Ulhasa ein.
Papa und ich schauten entsetzt. Elhasa erbarmte sich unser und sagte:
– Olhasa ist mitgefahren, und er wird ihr heute Nacht alles erklären. Dann können wir morgen alle zusammen hierher zurückkommen, meine Brüder und ich werden uns in den Kühlschrank des verehrten Fred Fortein begeben und wir werden mit all unserer Kraft versuchen, die böse Macht zu brechen, die aus der Elster so ein gefährliches Wesen gemacht hat. Für heute soll es genug sein.
– Sehr gut! Fred Fortein klatschte in die Hände, ich hab nämlich auch noch zu arbeiten.
Er und Papa gaben sich zum Abschied die Hand, während Elhasa und Ulhasa zurück in meine Zahnspangendose huschten. Nachdem ich die Dose ihrem wertvollen Inhalt entsprechend sorgfältig in meiner Umhängetasche verstaut hatte, gab auch ich Fred Fortein die Hand:
– Tschüss, und danke für die Limo, den Kühlschrank und alles.
– Kleben Sie sich einen Warnzettel auf die Kühlschranktür, damit Sie sie nicht aus Versehen aufmachen, riet Papa beim Rausgehen.
– Raus mit euch, und lasst euch vor morgen mittag nicht mehr blicken!
Das riesige, graue Tor mit der verblichenen großen 1 schloss sich knarzend hinter uns. Während wir über den schienendurchzogenen Betriebshof Richtung Ausgang gingen, schaute ich über das Depot zu unserer früheren Wohnung hinüber. Um die Wipfel der großen Pappel, die hinten im Garten stand, direkt an der Wand zum Straßenbahndepot, kreisten in ihrem typischen Flatterflug an die zwanzig Elstern.
– Rätsch! Rätsch!, schallte es unheimlich durch die Stille des Samstagnachmittags.
– Lass uns schnell hier abhauen, sagte ich zu Papa, ich glaube, die Viecher haben was gemerkt.
Papa nickte stumm und beschleunigte seinen Schritt. Kein Blick ins Pförtnerhaus. Kein Warten an der Haltestelle auf die nächste Bahn. Wir liefen schnurstracks weiter auf die Hauptstraße, dann Richtung Innenstadt. Irgendwann hielt Papa ein Taxi an. Bevor wir einstiegen, sahen wir beide noch mal prüfend in den Himmel. Nichts zu sehen, außer ein paar Tauben. Dann fuhren wir heim.

 

Kapitel 14: Der Fluch der Elstern

Olhasa hatte ganze Arbeit geleistet. Als Mama am Sonntagmittag heimkam, brauchten weder Papa noch ich ihr irgendwas erklären.
– Ich habe den Wagen gar nicht erst in die Garage gefahren, sagte sie. Ich geh nur schnell aufs Klo, und dann können wir ins Straßenbahndepot fahren.
– Ich nehme an, sagte Papa, dass wir da jetzt eine Familienangelegenheit draus machen.
– Richtig.
Klotür zu. Kurze Zeit später Klotür wieder auf:
– Oder hast du gedacht, ich würde hier bleiben und darauf warten, dass ihr mir irgendwann mal irgendwas erzählt?
Doppeltes Papakarolinenkopfschütteln.
– Gut. Karoline, worin willst du deine kleinen Freunde transportieren?
– Ich dachte, wieder in meiner Zahnspangendose.
– Gut, dann geh und lade sie ein.
Ich zischte rauf Richtung Bad. Ich kam nicht so weit. Als ich oben auf Augenhöhe mit dem Treppenabsatz war, hielten zehn Augen meinen Sturmlauf auf. Alle fünf kleinen Mönche saßen da, ließen die Beinchen baumeln und schauten mich erwartungsvoll an.
– Geht es los?, fragte Ulhasa.
Ich nickte:
– Und, wie fühlt ihr euch?
– Wir sind bereit, antwortete der alte, weise Alhasa. Lasst uns gehen.
– Moment, sagte ich, ich muss noch meine Zahnspangendose holen.
– Muss das sein? Ulhasa verzog das Gesicht. Das riecht so komisch da drin.
Autsch, das saß. Meine Zahnspangendose roch komisch! Wie p-e-i-n-l-i-c-h!! Ich hätte doch besser auf Mama gehört und sie ab und zu sauber gemacht. Aber jetzt war es zu spät dazu. Der alte Meister schien meine Gedanken lesen zu können:
– Es ist gut, Karoline, sagte er. Wir werden in deiner Zahnspangendose reisen und es wird uns nichts ausmachen.
Erleichtert flitzte ich ins Bad und kam mit der Dose wieder. Die Mönche huschten hinein und machten es sich auf der Watte, die ja vom Vortage noch drin war, bequem.
– Was ist denn in dem Päckchen da in deinem Arm?, fragte ich Olhasa
– Etwas zu fressen für die Elster.
– Von so wenig soll die satt werden?
– Unterschätze meine Kochkünste nicht, liebe Karoline.
Da hatte er recht, der kleine, dicke Küchenmönch. Ich wollte die Dose gerade schließen, da kam Ulhasa noch mal an den Rand:
– Ich habe das vorhin nicht so gemeint mit dem Geruch, sagte er, ich wollte dich nicht verletzen, Karoline.
Lieber, mutiger, kleiner Ulhasa. Ich musste an unsere gemeinsame Tat gestern denken und – kurz schlucken.
– Ist schon okay, meine Stimme klang irgendwie heiser, passt nur auf, dass ihr nicht durcheinander purzelt.

Zwei Stunden später saßen wir um den Wackeltisch in der großen stillgelegten Halle 1 des Straßenbahndepots: Fred Fortein, Mama, Papa und ich. Vor eineinhalb Stunden waren die fünf kleinen Mönche in einer rasanten Türauftürzuaktion im Kühlschrank von Fred verschwunden. Seitdem saßen wir hier am Wackeltisch und warteten. Und warteten. Nichts war zu hören an diesem stillen Sonntagmittag. Keine Menschen. Keine Straßenbahnen. Keine Elstern. Nur ab zu knisterte eine der filterlosen Zigaretten, wenn Fred Fortein rauchte. Vor den Erwachsenen standen drei Tassen mit kalt gewordenem Kaffee, vor mir eine Flasche mit einem winzigen warmen Limonadenrest. Niemand sprach. Ich hatte eigentlich damit gerechnet, dass Mama sich die ganzen Karnevalswagen ansehen und sich mit Fred unterhalten würde. Aber das hatten die beiden wohl bei der Begrüßung in einer stillen Absprache auf später verschoben.

Ich sah auf die große, schmutzige Uhr hoch oben an der Wand. Unendlich langsam schlich der große Zeiger voran, und noch viel, viel langsamer bewegte sich der kleine vorwärts. Fred drückte die x-ste Zigarette in den überquellenden Aschenbecher. Papa schaute missmutig in seinen kalten Kaffee. Mama strich mir nervös durchs Haar, was ich normalerweise nicht mag, ab was mir jetzt irgendwie gut tat. Im Hintergrund schwang lautlos die Kühlschranktür auf.

– Wir wären dann soweit! Hell, fest und froh erklang die Stimme von Meister Alhasa.
Wie der Blitz jagten wir von unseren Stühlen hoch und stürzten Richtung Kühlschrank.
– Langsam, meine Freunde, rief Alhasa und kam uns, die Hände erhoben, entgegen, langsam, es gibt überhaupt keinen Grund zur Eile! Und bittet, passt auf, wo ihr hintretet!
Hinter dem Meister stand der Kühlschrank sperrangelweit auf. Darin saßen vier kleine Mönche und eine Elster. Friedlich nebeneinander. Jetzt kamen sie heraus. Erst die Mönche, dann die Elster. In einer friedlichen Prozession marschierten sie zum Tisch, gefolgt von einem zufrieden grinsenden Meister Alhasa. Mama, Papa, Fred und ich setzten uns wieder auf unsere Stühle. Keinen Augenblick ließen wir dabei die Elster aus den Augen, die auf dem Tisch schwanzwippend um die Mönche herumtrippelte, die sich, wie immer, in einem Kreis hingesetzt hatten. Plötzlich öffnete die Elster ihre Flügel, stieß ein fröhliches Rääätsch! aus und flog los. Eine große Runde durch die Halle. Dann schoss sie auf mich herab. Mama schrie. Papa rief irgendwas. Fred sprang auf. Und ich blieb ganz ruhig. Ich spürte den Blick von Alhasa auf mir ruhen. Ich hatte keine Angst. Die Elster kam näher, flatterte heftigst mit den Flügeln und setzte sich auf meine linke Schulter. Dann begann sie, mit ihrem schwarzen Schnabel an meinem Ohr zu knabbern und an meinen Haaren zu zupfen. War das liebevoll? Ja, das war liebevoll! Richtig zutraulich, würde Papa sagen.
– Mann, die ist ja richtig zutraulich, sagte Papa.
Ich strahlte über das ganze Gesicht. Die kleinen Mönche hatten es geschafft.
– Ihr habt es tatsächlich hingekriegt, sagte Fred Fortein.
– Wie habt ihr das gemacht?, fragte Mama.
Ulhasa richtete sich ein wenig auf. Der junge Mönch, das war klar zu erkennen, platzte fast vor Stolz.
– Wir haben unsere…, begann er.
– Wir haben mit der Elster gesprochen, unterbrach ihn der alte Meister, und es ist uns gemeinsam gelungen, den bösen Bann zu brechen. Wir können jetzt so mit ihr sprechen, wie wir es auch mit euch tun.
– Und woran hat es gelegen, dass die Elster vorher so böse war?, fragte ich. Habt ihr das herausfinden können?
Alhasa nickte:
– Noch nicht ganz. Aber wir wissen jetzt, warum diese Elstern anders sind als ihre Artgenossen.
– Der kann einen aber auf die Folter spannen, knurrte Fred.
Alhasa lächelte:
– Geduld, werter Erbauer bunter Gefährte, unser kluger Bruder Ilhasa wird euch jetzt alles erklären.
Ilhasa erhob und verneigte sich. Und dann begann er zu sprechen:
– Liebe Menschenfreunde. Lieber Freund Vogel Elster. Ja, wir haben es geschafft. Es ist uns mit vereinten Kräften gelungen, den Bann zu brechen, die Mauer einzureißen, die das Tier von uns trennte. Nachdem dies getan war, konnten wir mit der Elster sprechen. Und sie mit uns. Sie konnte uns endlich erzählen, was hier passiert ist und warum sich diese Gruppe von Elstern so merkwürdig, so ungewöhnlich aggressiv verhält.
– Und das erfahren wir heute noch? Fred Fortein erntete missbilligende Blicke und fügte hinzu: War nur’n Scherz, hey.
Ilhasa schien ihn gar nicht gehört zu haben:
– Die Elster ist sehr, sehr glücklich, dass wir sie von diesem Fluch befreit haben. Denn genau dies ist es: ein Fluch. Er liegt auf allen Elstern dieser Gruppe, auf den alten, den jungen und auch auf den ganz jungen. Denn dieser Fluch breitete sich aus wie eine ansteckende Krankheit. Nur, dass sich die Elstern nicht angesteckt haben, so wie man sich mit einer Erkältung ansteckt. Nein, das Tragische ist, dass sich dieser Fluch über eine lange Zeit langsam auf alle Elstern der Gruppe gelegt hatte. Er wurde von der älteren an die jüngere Generation weitergegeben. Wie konnte dies alles geschehen? Und woher kam dieser Fluch?
Ilhasa macht eine Pause und sah in die Runde. Sein Blick blieb an der Elster hängen, die ihren Kopf an meiner Wange rieb und genau zuzuhören schien. Ilhasa sprach weiter:
– Dieser Fluch lauert hier im Straßenbahndepot. Damals, als die Gruppe noch kleiner war und nur aus drei Paaren und fünf Jungvögeln bestand, damals fand eine der alten Elstern den Weg durch ein kleines Fenster auf der anderen Seite des Depots, dessen Scheiben zerbrochen waren, hinein in einen riesigen, dunklen Raum, Darin, fast bis zur Decke reichend, ein gewaltiger Berg aus Metallkanistern, die im Dunkel verführerisch schimmerten. Die Elster war neugierig, und so flog sie hinauf zur Spitze des Kanisterberges. Oben gelandet, hüpfte sie langsam auf den Kanistern, die wahllos und wackelig aufeinander gestapelt waren, nach unten. Als sie zu weit außen auf einem der unteren Kanister landete, geschah es: Der Kanister, der weit herausragte, schien förmlich auf irgendetwas gewartet zu haben, das alles aus dem Gleichgewicht bringt. Die leichte Elster reichte da völlig aus. Der Kanister gab erst nur ein wenig nach, als die Elster auf seinem äußeren Rand landete, dann schaukelte er auf und ab und stürzte schließlich nach unten. Dies löste eine Kettenreaktion aus, und der gesamte, ohnehin nicht sonderlich stabile Kanisterturm krachte in sich zusammen. Erschreckt flatternd brachte sich die Elster in Sicherheit. Sie landete auf einem der unzähligen Kanister, die nun überall herum lagen, und betrachtete von dort mit schief gelegtem Kopf ihr Werk. Fast die Hälfte der Kanister war beim Sturz kaputt gegangen. Aus Rissen und Löchern sickerte eine Art grob gekörnter Sand. Neugierig hüpfte die Elster näher. Dieser Sand sah interessant aus. Irgendwie lecker. Sie näherte sich einem Kanister mit einem langen Riss in der Seite, aus dem dieser seltsame Sand einem kleinen Fluss gleich rann. Noch einmal legte sie den Kopf schief. Auf dem Kanister klebte ein Papier und darauf sah die Elster etwas, das sie kannte: ein Huhn. Dann hüpfte sie noch näher heran, dorthin, wo der Riss im Kanister war und tauchte ihren Schnabel tief in den Sand. Das schmeckte! Und das tat richtig gut. Die Elster hatte noch nie zuvor so etwas gefressen. Das schmeckte nach Würmern, Maden, Insekten und den Dingen, die Elstern gern aus den Mülltonnen der Menschen fischen. Da war alles drin, was sie brauchte für sich und vor allem auch für ihre Jungen! Noch einmal rammte die Elster ihren geöffneten Schnabel gierig in diesen merkwürdigen Sand. Dann flog sie durch die Dachluke hinaus ins Freie. Zu den anderen Elstern ihrer Gruppe, zu den Jungen im Nest. Mit einer Überraschung im Schnabel. Es dauerte nicht lange, da kamen alle Elstern regelmäßig zum Fressen ins Kanisterlager. Und es waren ja so viele Kanister geborsten, gerissen oder gelöchert. Und es war so viel leckerer Sand ausgelaufen. Irgendwann entdeckten die Elstern zudem, dass jeder Kanister einen Verschluss aus Plastik besaß. Und den konnten sie nach einigem Üben mit dem Schnabel aufhacken. Sie hatten also für Generationen Futter! Es war ein Elsternparadies. Aber es sollte nicht lange eines bleiben. Denn die Elstern veränderten sich, je mehr sie von dieser neuen Nahrung fraßen. Erst langsam und unmerklich, dann schneller und deutlich. Sie wurden böse und aggressiv. Erst gegen fremde Elstern, die nicht zu ihrer Gruppe gehörten. Die wurden rigoros vertrieben. Dann gegen andere Tiere. Und schließlich gegen diese Winzlinge, die dort oben auf dem Dach in diesen komisch geformten Nestern wohnten. Nachdem die Winzlinge verschwunden waren, war es in letzter Zeit immer öfter zu Streit und zu Auseinandersetzungen innerhalb der Elsterngruppe gekommen. Der Sand war zum Fluch geworden.
Ilhasa seufzte:
– Jetzt ernähren sich die Elstern eigentlich nur noch von diesem Sand. Sie füttern auch ihre Jungen damit. Sie sind in einem Teufelskreis, aus dem sie allein und ohne Hilfe nicht mehr herauskommen.
– Wir müssen diesen Raum finden, sagte ich und sah Fred Fortein an: Fred, haben Sie eine Ahnung, wo das sein könnte?
– Hm, lass mich mal nachdenken, antwortete Fred, das Depot ist nämlich ziemlich groß, weißt du.
– Unser Freund Vogel Elster weiß, wo sich dieser Raum befindet, verkündete Ilhasa, er wird uns führen.
– Na, sagte Fred, worauf warten wir dann noch?

 

Kapitel 15: Die neue Wartezeit

Fünf Minuten später waren wir unterwegs. Es ging durch Hallen, Gänge, kleine und große Räume, kreuz und quer durchs Innere und Allerinnerste des Straßenbahndepots. Die Elster hüpfte voraus, dahinter ich, dann Mama, Papa und zum Schluss Fred Fortein. Statt der Elster hatten sich Alhasa und Ilhasa auf meinen Schultern niedergelassen. Mama trug Olhasa und Ulhasa und Papa trug Elhasa. Fred hatte sich mit einer großen Taschenlampe bewaffnet. So marschierten und marschierten wir. Als ich schon dachte, dass wir die Sandkanister niemals finden würden, blieb die Elster plötzlich stehen und klopfte mit dem Schnabel gegen eine graue, rostige Eisentür mit einem großen, rostigen Riegel, an dem ein großes, rostiges Schloss hing.
– Äh, hat jemand zufälligerweise den Schlüssel dabei?, fragte Papa.
– Schlüssel nicht, meinte Fred, aber das hier.
Er hielt einen dicken Schraubenzieher in der Hand, den er aus der Seitentasche seiner Hose gezaubert hatte. Mit dem machte er sich am Schloss zu schaffen, es machte kurz „Krack“ und Fred stieß die Tür auf. Dahinter lag ein riesiger, fast dunkler Raum. Einzig von schräg oben fiel ein wenig Licht durch die zerbrochenen Scheiben eines kleinen Fensters in der Wand. Der Boden des Raumes war weithin bedeckt von Metallkanistern, die in dem bisschen Licht seltsam schimmerten. Viele, sehr viele waren mehr oder weniger kaputt. Bei einigen, die unversehrt geblieben waren, hatte jemand den Plastikverschluss zerhackt. Und immer war etwas ausgelaufen, das wie Sand aussah. Es roch streng in diesem Raum. Nach Fisch, nach Fäulnis. Mama verteilte Papiertaschentücher, die wir uns vor die Nase hielten. Die kleinen Mönche hielten sich jeder einen Zipfel ihrer Kutte vor die Nase. Nur die Elster schien nichts zu riechen (ich glaube, Vögel können auch gar nicht riechen) und drehte in der stickigen Luft ein paar Flugrunden.
– Oh mein Gott, schaut euch das bloß an! Fred Fortein hatte einen der Kanister genommen und betrachtete ihn von allen Seiten. Der Kanister trug dieses Etikett mit dem Huhn, das die Elster damals als erstes gesehen hatte. Und einen Stempel, den die Elster zwar auch gesehen, aber natürlich nicht verstanden hatte. Fred las vor, was auf dem Stempel stand:
– Achtung! Verfallsdatum überschritten. Nicht mehr verfüttern. Vergiftungsgefahr!
– Oh nein, stöhnte Mama, und das Zeug haben die Elstern die ganze Zeit gefressen. Kein Wunder, dass die so komisch geworden sind. Dieses Gift hat, wie eine Droge, das Wesen und das Verhalten der Vögel immer stärker verändert.
– Wir haben, sagte Meister Alhasa feierlich, den Fluch der Elstern gefunden.
– So eine Riesensauerei!, schimpfte Papa los, ich frage mich, wer diesen Dreck hier einfach liegen gelassen hat.
– Tja, meinte Fred Fortein, das werden wir wohl kaum noch herausfinden. Ich weiß, dass eine Zeitlang Räume an irgendwelche Firmen vermietet wurden, zur Lagerung von ich weiß nicht was.
– Na wunderbar! Papa mochte sich gar nicht mehr beruhigen. Und was machen wir jetzt mit dem ganzen Gift?
– Als Erstes werde ich dafür sorgen, dass dieses Fenster da oben repariert wird und geschlossen bleibt. Am besten, ich mach das selbst. Lange Leitern hab ich ja, mit denen komme ich auch aufs Dach. Und dann…(Fred schickte mit seiner Taschenlampe Lichtstrahlen durch den Raum) …werde ich veranlassen, dass dieser ganze Haufen Dreck ordnungsgemäß entsorgt wird. Und zwar schleunigst.

Und Fred machte sofort Ernst mit seinem Versprechen. Zuerst malte er von außen auf die Tür einen großen, schwarzen Totenkopf, so einen, wie die Piraten ihn früher benutzt haben. Dann schrieb er noch darunter „Achtung. Gift. Lebensgefahr.“ Danach ging er mit Papa zusammen zum unfreundlichen Pförtner an der Depoteinfahrt. Ich weiß nicht, was dort alles gesagt wurde, jedenfalls machte Papa ein sehr zufriedenes Gesicht, als die beiden wiederkamen. Anschließend begaben sich Fred und Papa mit einer von Freds Riesenleitern und einer Menge Kram und Werkzeug Richtung Dach.
– Ich will…, rief ich, aber die beiden Männer waren schon zum Tor hinaus.

Also setzten Mama und ich uns in Freds Halle an den Tisch, vor uns die kleinen Mönche, auf meiner Schulter wieder mal die Elster.
– Und jetzt?, fragte Mama.
– Jetzt beginnt die neue Wartezeit, sagte Alhasa.
– Und worauf warten wir?, fragte ich.
– Wir warten darauf, dass wir die alte Wartezeit fortsetzen können.
– Alte Wartezeit. Neue Wartezeit. Geht es auch etwas einfacher?, fragte Mama.
Der alte, weise Meister lächelte und nickte:
– Gewisse, hoch verehrte Mutter der Freundin Karoline. Die alte Wartezeit, das ist die Zeit, die wir in den blauen Tempeln bis jetzt verbracht haben und noch verbringen werden, bis dass wir in unsere Heimat zurückkehren können. Die neue Wartezeit ist die Zeit, in der wir darauf warten, dass die Elstern komplett vom Fluch des Giftsandes geheilt sind. Wenn sie nicht mehr davon fressen, wird die Wirkung im Laufe der Zeit nachlassen und schließlich ganz verschwinden. Dann sind die Elstern wieder ganz normale Elstern. Und wir können in die Tempel zurückkehren, um die alte Wartezeit fortzusetzen.
– Und wo wollt ihr diese neue Wartezeit absitzen?, fragte ich, merkte dann, dass das nicht die richtige Wortwahl war und verbesserte: Wo wollt ihr die neue Wartezeit verbringen? Ihr braucht doch jetzt auch ein Zuhause?
Alhasa, Ulhasa, Ilhasa, Olhasa und Elhasa sahen Mama und mich an. Dann verneigten sich alle fünf vor uns.
– Oh nein, entfuhr es Mama.
– Oh doch! Oh doch!, rief ich begeistert.
– Ja, aber, Karoline, wie soll das denn gehen?
– Maaaama. Wo ein Wille ist…
Riesenseufzer von Mama. Ich hatte gewonnen. Fast. Eine Sache musste ich jetzt noch durchziehen.
– Mama?
– Karoline?
– Wie haben noch jemanden vergessen…
Mama setzte ihr Jetztistaberdefinitivschlussgesicht auf. Ich war auf dem guten Weg.
– Aber wo soll sie denn hin? Ihre Kumpels sind doch noch böse. Und außerdem werden die sauer sein auf sie, weil sie alles verraten hat.
– Nein!
Hoppla, jetzt machte Mama auf hart. Auf hart machte Mama immer, bevor sie weich wurde. Dran bleiben, Karoline! Aber das war gar nicht nötig. Ich bekam Hilfe.
– Verehrte Freundin Mutter der Karoline! Das war die Stimme von Meister Alhasa. Die Elster kann uns nützlich sein. Sie kann Nachrichten zwischen dem verehrten Fred Fortein und uns transportieren…
– Wollt ihr eine Briefelster aus ihr machen?
Ich fand, Mama war ganz schön frech zum alten Meistermönch. Aber Alhasa lachte und sagte:
– Glaube mir, die Elster wird uns nützen. Und euch. Und wir werden uns um sie kümmern. Sie wird euch keine Schwierigkeiten oder Arbeit machen. Sie wird in unserer Nähe wohnen.
– Gutes Stichwort, hakte Mama ein, wo wollt ihr eigentlich wohnen bei uns? Weiterhin in den Rohrschächten?
– Nein, Alhasa schüttelte den Kopf, wir haben schon etwas sehr Schönes gefunden. Oben im Haus gibt es einen Ort, den ihr Speicher nennt.
– Wo die Mäuse sind?
– Die werden bald nicht mehr da sein. Wir werden sie bitten, ein anderes Haus mit ihrer Anwesenheit zu beehren. Wir werden auf diesem Speicher sehr gut leben.
– Ja, und eure Sachen, fragte ich, die sind doch noch in den kleinen blauen Tempeln, oder?
– Nein, antwortete Alhasa, die haben wir schon vor einiger Zeit nach und nach von unserem großen Freund, dem Hund, in Sicherheit bringen lassen. Morgen werde ich die Elster zu ihm schicken, sie wird ihm sagen, dass er die Sachen zu euch bringen soll.
– Ein Hund? Zu uns? Mama klang alarmiert.
– Er bringt nur unsere Sachen, beruhigte sie Alhasa, dann verschwindet er wieder. Er meidet menschliche Behausungen.
– Und was wollt ihr dann den ganzen Tag so machen bei uns? Diese Frage lag mir schon die ganze Zeit auf der Zunge.
– Wir werden die Zeit mit Beten, Meditieren und dem Tun guter Dinge verbringen.
– Dem Tun guter Dinge? Mama klang erneut ein wenig alarmiert.
Alhasa verneigte sich:
– Wir werden dabei vor allem zwei Dinge tun, verehrte Freundin Mutter der Karoline. Wir werden euch in keinster Weise stören und wir werden euch auf jede Weise helfen. Wenn ihr es wünscht.
– Gut, sagte Mama (jetzt war sie weich), wir werden es versuchen und sehen, was draus wird. Und, Karoline, wir müssen es Papa beibringen. Du weißt, wie empfindlich er ist was Hausgenossen angeht.

Eine Weile später kamen Papa und Fred Fortein vom Dach zurück.
– Alles dicht!“ verkündeten sie stolz.
Während die Männer Leiter und Werkzeug zurück an ihren Platz räumten, erzählte Mama, was wir in Sachen kleine Mönche beschlossen hatten. Und was diese Hausgenossen anging, war Papa nun überhaupt nicht empfindlich. Die Idee, die kleinen Mönche auf längere Zeit bei uns im Reihenendhaus wohnen zu haben, gefiel ihm sichtlich. Ja, ja: Papa und seine ewige Suche nach dem Ungewöhnlichen. Mit Fred Fortein wurde vereinbart, dass wir uns regelmäßig besuchen würden und er uns über jede Veränderung bei den Elstern informieren sollte.

Meister Alhasa hielt dann auch noch eine kleine Ansprache, in der er uns allen dankte und noch einmal eindringlich darauf hinwies, dass wir – Mama, Papa, Fred und ich – niemals mit anderen über die kleinen Mönche sprechen dürften. Er verzichtete darauf, auf den möglichen Einsatz des Glitzerstaubes zum Zwecke des kompletten Allesvergessens hinzuweisen. War auch nicht nötig – uns Vieren war klar, dass wir das Vertrauen der kleinen Mönche nicht missbrauchen würden. Wir waren jetzt sowas wie ein kleiner Geheimbund. Klasse fand ich das.

Später, im Auto auf der Fahrt nach Hause, saß ich wie benommen im Fond. Mama und Papa vor mir schwiegen und hingen ihren Gedanken nach. In meiner Zahnspangendose in meiner Umhängetasche fuhren die kleinen Mönche mit uns in ihr Neuewartezeitzuhause. Hinter mir auf dem Rand der Rückbank hockte eine Elster und zog mich manchmal sanft an den Haaren. Ich war so überrascht über die Wendung, die die ganze Geschichte genommen hatte, dass ich noch keinen klaren Gedanken fassen konnte. Aber ganz tief in mir drin fühlte ich eine große Freude wachsen.

Willkommen in der neuen Wartezeit, dachte ich. Und dann: Verflixt, welchen Namen geb ich jetzt dieser Elster?

Dies ist das Ende dieser Geschichte. Wird es weitere Geschichten geben? Ich weiß es noch nicht. Ich muss jetzt erst einmal einen Namen für diese Elster finden…


Meine Frau – sagt meine Tochter – fährt Fahrrad immer nur im ersten Gang.

Meine Frau – sagt meine Tochter – fährt Fahrrad immer nur im ersten Gang.

Geständnisse aus einem Kleinfamilienleben.
Warnung an die Leser.

Allen treuen Fans von „Meine Frau kann – rückwärts! – einparken, die nun seufzen „Herrje, findet das denn nie ein Ende? Immer diese weinerlichen Geschichten über die Superfrau und den Nichtsupermann.“ sei hiermit gesagt: Nein, es findet noch kein Ende. Es ist noch nicht vorbei. Es geht weiter, in kleinen Variationen. So habe ich z.B. unsere Tochter hier und da mit eingebaut, obwohl sie schon längst ihr eigenes Leben führt, ferab der einstigen Kleinfamilie. Aber das ist mir egal. Denken Sie sich einfach an den entsprechenden Stellen das Präsens ins Präteritum um. So eine kleine grammatikalische Übung ist gesund und hält geistig fit.

Klar soweit? Dann kann’s ja los- bzw. weitergehen:

 

Prolog.

Meine Tochter: „Weißt du Papa, mit Mama Fahrrad fahren ist total öde.“
Ich: „Ach ja?“
Meine Tochter: „Ja, Mama fährt die ganze Zeit immer nur im ersten Gang.“
Meine Frau: „Wieso fahre ich die ganze Zeit immer nur im ersten Gang?“
Meine Tochter: „Das frage ich mich auch.“

(Gespräch im Auto, Normandie, Sommer 2008)

 

Kapitel 1: Das Auge putzt mit.

Meine Frau hat nicht nur ihren eigenen Kopf. Sondern auch ihren eigenen Eimer. Und damit bin nicht etwa ich gemeint, sondern der Eimer zum
Putzen. Dass meine Frau einen eigenen Eimer zum Putzen besitzt, was mir bis zum 13. September 2008 so nicht klar. Besser gesagt: überhaupt nicht klar. Sonst wäre ich doch niemals hingegangen und hätte mir im Waschkeller den erst besten Eimer geschnappt, um ihn im Rahmen des von mir jeden Samstag durchgeführten Treppeputzens einzusetzen. (Meine Frau putzt derweil Küche oder Bad oder beides. Dies schreibe ich hier, weil das gleich noch wichtig sein wird.) Also ging ich wie immer frisch ans Werk: Eimer geschnappt und Aufnehmer-Wasser-Seifenzeugs rein. Dann hoch damit durch die unendlichen Weiten des Reihenhauses, vor die Treppe gestellt und schnell mal aufs Klo. Kurz danach zurück – der Eimer war weg! Auf die handelsübliche Frage „Hast du meinen Eimer gesehen, und wenn ja, wo?“ kam aus der Küche erst einmal nur barsch und knapp diese Korrektur: „Das ist nicht dein Eimer!“ Auf Nachfrage wurde meine Frau dann präziser: „Das ist mein Eimer!“ Aha. Auf erneute Nachfrage wurde meine Frau noch präziser, fast schon eloquent: „Du weißt doch, dass ich Künstlerin bin. Wir Künstler sind Augenmenschen. Wir umgeben uns gern mit schönen Dingen. Vor allem, wenn wir so hässliche Sachen tun müssen wie putzen. Putzen können wir deshalb ausschließlich mit schönen Eimern. Dieser Eimer ist mein Eimer, weil er der schönste unter unseren Eimern ist. Das Auge putzt nämlich mit, verstehst du?“ Ich nickte. Dann ging ich in die Küche und schaute ich mir den Eimer meiner Frau, also meinen Ex-Eimer, genauer an. Er hatte, im Gegensatz zu unseren anderen Eimern, keinen Eisenbügel zum Tragen, sondern einen aus Plastik. Dies machte ihn in meinen Augen billig, aber nicht schön. Die – wie ich meine: fragwürdige – Ästhetik dieses Eimers bestand einzig und allein darin, dass er hellblau und transparent war. Das könnte gegebenenfalls bei der Überprüfung des Wasserstandes zu einer, sagen wir mal: mediterranen Anmutung führen. Ansonsten war dieser Eimer ein Eimer wie alle anderen auch. Langsam dämmerte mir, dass mir meine Frau nach all den Jahren doch noch in Vielem ein Rätsel war.

Und obwohl ich schon resignierend auf dem Weg in den Waschkeller war, schallte es mir noch vorwurfsvoll hinterher: „Und das Wasser ist auch ganz kalt!“

 

Kapitel 2: Sammeln am Strand.

Meine Frau geht gerne an den Strand. Voraussetzung: ein Urlaub am Meer. Ich gehe dann übrigens auch gerne an den Strand. Dies führt dazu, dass wir in der Regel zusammen an den Strand gehen. Beziehungsweise erst fahren, und dann gehen. Unsere Tochter, so sie denn mit in den Urlaub gefahren ist, kommt dann natürlich auch mit an den Strand. Bevor ich jetzt weiter erzähle, fasse ich kurz zusammen: Drei Menschen, ein Strand, viele Möglichkeiten. Meine Frau zum Beispiel geht gerne Sachen finden. Fetzen alter Fischernetze. Holzstücke. Gut erhaltene Austernsäcke. Es gibt übrigens ein Patent für den Verschluss von Austernsäcken, nachzulesen im AT Österreichisches Patentblatt 102. Jg./Nr. 4 April 2005. Dort findet man übrigens auch eines für „Vorrichtung und Zitzenbecher zum Melken von Tieren“. Doch zurück zum Austernsack. Der heißt auf Französisch „sac à huîtres“. Stellen Sie sich ein Fischernetz mit mittelkleinen Maschen aus stabilem Plastik vor, ziemlich steif und zu einem Sack zusammengebunden, wie eine riesige Einkaufstasche. Fertig ist der Austernsack. Darin befinden sich, wie der Name schon sagt, Austern. Diese Säcke mit ihren Austern liegen auf einer Art Tischen, die wiederum im Meer stehen, geflutet bei Flut, trocken bei Ebbe. Da wachsen dann die Austern, bis sie von Leuten wie mir gegessen werden. Die Austernzüchter in der Normandie, locker wie die meisten Franzosen, lassen ab und zu so einen Sack einfach am Strand liegen. Weil er kaputt ist, weil sie ihn vergessen haben oder weil sie meiner Frau eine Freude machen wollen. Und ich sage Ihnen: Die hat sich vielleicht gefreut, als sie diesen gut erhaltenen Austernsack fand. Leider sind solche Säcke immer leer. Höchstens leere Austernschalen befinden sich noch darin. Das finde ich natürlich schade. Doch glücklicherweise liegen an so einem Strand bei Ebbe auch noch intakte Austern herum. Ob die nun aus den Säcken ausgerissen sind oder natürlicherweise dort leben, weiß ich nicht. Ist mir auch egal. Wenn ich so eine Auster finde, geht es ihr an die Schale. Messer raus, Spitze hinten ansetzen, vorsichtig die Auster öffnen, das Fleisch mit dem Messer lösen und guten Appetit. Meine Frau findet gerne Austern für mich, aber essen mag sie die nicht. Meine Tochter übrigens auch nicht. Die rennt dann immer kreischend davon. Komisches Kind. Ich habe ihr vorgeschlagen, sie könne ja für mich ein Stück Brot und ein Fläschchen Weißwein tragen, aber das hat sie kategorisch abgelehnt. Meine Frau auch. Und das, obwohl ich ihren blöden Austernsack den ganzen Strand rauf und runter geschleppt habe. Am Anfang war der ja noch leer. Doch dann füllte ihn meine Frau mit allerlei weiteren Fundstücken, auf die ich hier nicht näher eingehen möchte. Wer wissen will, was da am Ende alles drin war, kann gerne mal bei uns vorbei kommen und im Garten nach dem Zeug suchen. Dabei erzähle ich Ihnen dann gern, wie man sich fühlt als deutscher Tourist am ellenlangen und -breiten Normandiestrand, mit einem immer voller werdenden Austernsack, während bildhübsche Französinnen ihr „Schau mal, dieser alberne Arsch mit seinem Austernsack“ hinter einem her tuscheln.

 

Kapitel 3: Tiefspüler oder Flachspüler?

So lautete Anfang dieses Jahres eine der meistgestellten Fragen. Also bei uns daheim. Denn meine Frau und ich hatten beschlossen zu investieren. Gezielt. In zwei neue Toiletten. Und da stellte sich halt die Frage: tief oder flach, der Spüler. Oder krasser formuliert: Willst du sehen, was hinten rauskommt oder willst du eher nicht?

Unser Sanitärhandwerker meinte: Flachspüler gibt es nicht mehr. Meine Frau sagte: Gibt’s nicht gibt’s nicht. Der Handwerker seufzte. Ich grinste. Das Grinsen ist so eine Art Abhärtung, glaube ich.

Dann geschah ein paar Wochen lang nichts. Und dann stand eines Morgens der Sanitärhandwerker mit zwei Klos vor der Tür: einem Tief- und einem Flachspüler. Na bitte, meinte meine Frau, geht doch. Also machte sich der Handwerker an sein Handwerk. Erst oben im Bad: der Flachspüler. Dann unter im Gäste-WC: der Tiefspüler. Alles lief echt gut.

Zu gut. Denn:

Handwerker: Äh, können Sie mal bitte kommen?
Wir kamen.
Handwerker: Der Tiefspüler passt nicht plan an die Wand, weil wegen dem Rohr.
Wir nickten. Aha, das Rohr.
Meine Frau: Das Klo ragt jetzt aber irgendwie in den Raum rein.
Handwerker: Stimmt, aber Sie gehen ja nicht zu zweit aufs Klo.
Meine Frau: Bei Schützenfest schon.

Die Toiletten funktionieren seitdem übrigens einwandfrei. Auch bei Schützenfest.

 


Meine Frau kann – rückwärts! – einparken. (Acht Geständnisse aus einer geglückten Ehe.)

Meine Frau kann – rückwärts! – einparken. (Acht Geständnisse aus einer geglückten Ehe.)

 

Klarstellung

Meine Frau kann einparken. Und zwar nicht nur vorwärts, wie es die meisten Frauen und Männer können. Wenn ich vorwärts einparken sage, meine ich: vorwärts in eine Parkbucht auf dem Parkplatz oder im Parkhaus oder vorwärts in die Garage. Ich meine nicht: vorwärts in eine seitliche Parklücke auf der Straße. Vorwärts in eine seitliche Lücke einparken ist für mich gar kein Einparken. Das ist ein Bordstein schrappendes, hilfloses, Menschen und oft auch vorbei kommende Fahrradfahrer verachtendes Herumgewürge. Das würde meine Frau nie tun, denn sie weiß, da muss man rückwärts rein. Wobei es sehr unterhaltsam sein kann, dabei zuzusehen, wie jemand vorwärts in eine seitliche Parklücke auf der Straße einparkt. Das ist aber dann nicht meine Frau. Das ist dann eher noch ein Mann. Oder ein Frührentner.

Um es noch einmal klar zu sagen: Vorwärts in eine seitliche Parklücke einparken ist so ziemlich das Allerletzte, fast schon ein Verstoß gegen die Genfer Konvention.

Vorwärts in eine Parkplatz- oder Parkhauslücke einparken ist meist der Hinweis auf eine Person am Steuer, die sich zwar vorstellen kann, wie schwierig es ist, rückwärts in die besagte Lücke einzuparken, deren Phantasie aber komplett abschmiert, wenn es daraum geht, die Probleme zu antizipieren, die man bekommt, wenn man rückwärts aus einer Parklücke rausfahren will.

Meine Frau jedenfalls fährt in alles rückwärts rein. Garage, Parkbucht, Parklücke. Perfekt. Und zack – wieder raus. Und falls sie doch mal vorwärts eingeparkt hat – so wie meine Frau rückwärts fährt, kommt sie auch da wieder raus. Ruckzuck. Und das bei dem Verkehr.

 

Geständnis 1: Haufenbildung.

„Von meiner Frau hat unsere Tochter die Haufenbildungsgene. Von mir dagegen hat sie einen Haufen Bildungsgene.“ Mit diesem kleinen, bescheidenen Wortspiel pflege ich in der Regel meine Auslassungen über den Ordnungssinn meiner Frau einzuleiten. Um dann fortzufahren:

Meine Frau ist ein ordentlicher Mensch. Kann man so sagen. Bis auf die Haufenbildung. Wobei meine Frau der Meinung ist, gerade diese Haufenbildung sei der perfekte Ausdruck ihrer Ordnungsliebe. Denn anstatt die Dinge – ihre Dinge! – überall im Hause zu verstreuen, würden sie in einigen wenigen Haufen konzentriert. (Wobei: Verstreuen kann meine Frau auch; siehe hierzu Geständnis 8, „Das Dawillichnochdraustrinkenglas“.) Jedenfalls ist es immer die gleiche Geschichte: Meine Frau hält sich, warum auch immer, und oft auch aus gutem Grund, für eine gewisse Zeit regelmäßig am selben Ort auf. In Nullkommanix entsteht an diesem Ort ein Haufen, bestehend aus allen möglichen Dingen, die meine Frau als unabdingbar bezeichnet für ihren angenehmen Aufenthalt an besagtem Ort. Meine Frau unterscheidet dabei zwischen zwei Haufenarten: dem Themenhaufen und dem ortsgebundenen Haufen. Zu den Themenhaufen zählen: Umziehhaufen, Malhaufen, Bastelhaufen, Handwerkshaufen u.ä. Typische ortsgebundene Haufen sind: Badhaufen, Betthaufen, Wohnzimmerhaufen, Gartenhaufen. Themenhaufen und ortsgebundene Haufen lassen sich beliebig miteinander kombinieren. Da ist meine Frau sehr kreativ.

Prinzipiell gibt es drei Haufenzustände: entstehender Haufen (der einzige, bei dem ich noch eine gewisse Chance habe), zunehmender Haufen, Wanderhaufen. Einen weiteren gibt es quasi virtuell: den abnehmenden Haufen. Der existiert vor allem in der Vorstellung meiner Frau. Ich bin allerdings der Meinung, dass es sich bei einem von meiner Frau als „abnehmend“ bezeichneten Haufen im Grunde um eine Variante des Wanderhaufens handelt, die ich als Übergangshaufen bezeichne. Der echte Wanderhaufen wandert als Ganzes; in der Variante Übergangshaufen nimmt ein Haufen an einer Stelle ab, während gleichzeitig woanders aus dem abgenommenen Material ein neuer entsteht.

Zum Schluss noch ein ganz besonders seltenes Exemplar: der verschwundene Haufen. Den bekommt man so gut wie nie zu Gesicht. Meine Frau behauptet dennoch unbeirrt, dass es ihn gibt. Dass sie auch dafür einen Haufen Argumente hat, versteht sich von selbst.

 

Geständnis 2: Das Beifahrerpflaster.

Meine Frau kann gut Auto fahren. Sehr gut sogar. Es ist eine wahre Freude, meine Frau Auto fahren zu sehen. Auch von außen. Es gibt ja Frauen, die sehen einfach attraktiv aus in einem Automobil. Meine Frau ist so ein Typ. Ich könnte meiner Frau stundenlang von außen beim Autofahren zusehen.

Meist sehe ich ihr aber von innen zu. Und da würde ich mir oft wünschen, dass meine Frau früher rauf schaltet. Also in den nächst höheren Gang. Das spart Sprit, weil dann führe sie untertourig. Sag ich auch immer. Aber was macht sie? 60 Sachen im 3. Gang! Ich sag dann: „Hallo? Startbahn West?“

Außerdem: Wenn meine Frau früher schaltete, würde sie viel gelassener dahingleiten. Da hätte sie mehr Zeit zum Schauen und natürlich führe sie dann auch viel vorausschauender. Wie der Walther Röhrl. Der ist früher Rallyes gefahren. Danach schrieb er lange Zeit – ich nehme an, aus Reue – meine Lieblingskolumne in der ADAC Mitgliederzeitung. Und fast jedes Mal schrieb er da, dass wir – also auch meine Frau und ich – vorausschauend Auto fahren sollen.

Ich sage meiner Frau deshalb immer: Sei doch mal ein bisschen so wie der Walther Röhrl. Vorausschauend. Aber nein, da fährt meine Frau noch hunderte von Metern auf einer Spur, obwohl schon vor 200 Metern ein Schild gesagt hat: „Achtung! Diese Spur ist gleich zu Ende. Bitte auf die andere Spur wechseln!“ Oder meine Frau wechselt viel, aber dann wirklich viel zu früh die Fahrspur. Also fast schon, bevor sie das Schild überhaupt sieht. Ich sag dann immer: „Hey, du hast noch zighundert Meter Zeit. Lass die Hektik aus dem Verkehr, das sagt auch der Walther Röhrl.“

Außerdem fährt meine Frau viel, also wirklich viel zu langsam und unentschlossen von der Beschleunigungsspur auf die Autobahn. Ich sag dann immer „Nun gib doch mal Gummi, gleich landen wir auf dem Standstreifen.“ Noch schlimmer ist das Beschleunigen beim Überholen. Jeder Überholvorgang wird bei meiner Frau viel, aber wirklich viel zu zögerlich angegangen. Da ist kein Punch, kein Kickdown, kein Wille zum Sieg! Ich sag dann immer: „Denk doch mal bitte an den Walther Röhrl: Zügig überholen. Züüüüüüüü-gig!“

Irgendwann ist meine Frau mit mir zu einer Apotheke gefahren. „Kommst du mit rein?“, hat sie gefragt. „Klar“, hab ich gesagt. In der Apotheke hat meine Frau dann die Apothekerin gefragt: „Haben Sie Beifahrerpflaster?“.

Frauen sind echt undankbar.

 

Geständnis 3: In der Heimwerkerabteilung.

Manchmal nimmt mich meine Frau mit, wenn sie in den Baumarkt geht, in die Heimwerkerabteilung. Heimwerkerabteilungen machen mir Angst. Irgendwie. Besonders die Bohrmaschinen. Was da so losgeht auf den leichtesten Fingerdruck, das Geräusch, die Vibration, der stahlige Bohrer, ach nein, irgendwie nichts für mich. Das heißt, wenn ich ein paar Mal drauf gedrückt habe, macht es schon Spaß. So eine Bohrmaschine hat für mich was von einem Colt. Sie wissen schon, der Sechsschüsser aus den Western, schwer im Halfter liegend dräut er rechts oder links unter der locker herab hängenden Schusshand. Es soll tausende von Handys geben, die ähnlich getragen werden. Naja, bevor ich den ultimativen Clint Eastwood gebe, nimmt mir meine Frau die Bohrmaschine wieder aus der Hand.

Dann kommt der Verkäufer. Ein typischer Vertreter aus der Zunft der Baumarktheimwerkerabteilungsfachverkäufer. Langweilig gekleidet, mit einer Ausdünstung, die knapp am Ungepflegtsein vorbei schrammt. Eine Mischung aus kaltem Zigarettenqualm, schlecht verdunstetem Schweiß und einem Rasierwasser, das den Begriff Eau de Toilette gründlich missverstanden hat.

Zielstrebig kommt dieser Mensch auf mich zu – mich! – und fängt an zu erzählen. Watt, Volt, Umdrehung, Schlagbohrer, automatische Umschaltelektronik… Halt! Ich hebe die Hand. Dann das Geständnis: „Erklären Sie das bitte meiner Frau. Die ist bei uns der Handwerker. Ich habe keine Ahnung.“ Staunen, Lächeln (etwas herablassend, oder nur irritiert?). Dann das ganze nochmal in Frau. Das geht zwei Minuten gut. Zu Beginn der dritten Erklärungsminute redet der gute Mann wieder auf mich ein. Ich sage: siehe oben. Reaktion des Baumarkters: siehe oben.

Am Ende hatte der Verkäufer alles mindestens zweimal erklärt. Wir hatten alles mindestens zweimal gehört. Und ich hatte immer noch nichts kapiert. Meine Frau hat sich dann einmal gezielt entschieden und gekauft. Dann fuhren wir nach Hause. Mit der Bohrmaschine. Und die Angst fuhr mit. Irgendwie.

 

Geständnis 4: Ma femme ne parle pas le français.

In die Ferien fahren wir nach Frankreich. Wenn möglich, jedes Jahr. Bis auf die Jahre, wo wir gar nicht in die Ferien fahren. Dann fahren wir nicht nach Frankreich. Ich sag das nur schon mal vorab, weil meine Frau immer behauptet, wir würden jedes Jahr in die Ferien nach Frankreich fahren.

Wenn wir dann aber mal wieder endlich in Frankreich sind, gehen wir natürlich gleich lecker einkaufen. Besonders gern gehen wir in die Metzgerei. Denn so eine französiche Metzgerei, vor allem auf dem Land, ist ein wahres Erlebnis. Die haben immer so leckeres Zeugs.

In einer französischen Landmetzgerei findet man entweder einen französischen Landmetzger oder eine französische Landmetzgersfrau vor. Oft steht die Landmetzgersfrau vorn im Laden hinter der Theke, während ihr Landmetzgersmann irgendwo hinten herummetzgert. Egal, wer vorn im Laden steht, er oder sie erklärt einem immer so lieb, was was ist und was man damit in Topf, Pfanne und Ofen alles zaubern kann. Das tun sie, weil ich vorher gefragt habe, was sie denn so empfehlen können. Das mach ich natürlich auf Französisch, und da bin ich auch ein bisschen stolz drauf.

Der Landmetzger bzw. seine Frau merken natürlich sofort, dass sie nicht so einen ganz doofen Touri vor sich haben, sondern einen, der Französisch spricht. Da freuen sie sich, wie sich alle Franzosen freuen, wenn einer Französisch spricht ohne gleich Franzose zu sein. Liegt höchstwahrscheinlich daran, dass sie sonst immer nur mit Französisch sprechenden Leuten zu tun haben, die Franzosen sind. Jedenfalls: Kaum hab ich meine Frage gestellt, legen die schon los. Und erzählen und erklären. Natürlich auf Französisch, weil sich das dann besonders lecker anhört. Und die erklären es natürlich alles meiner Frau, weil französische Landmetzger und Landmetzgersfrauen davon ausgehen, dass die Frau kocht. Leider gehen die französischen Landmetzger und Landmetzgersfrauen auch davon aus, dass Frauen, die kochen und einen Mann haben, der auf Französisch fragen kann, was sie denn so empfehlen können, auch Französisch sprechen. Nun spricht meine Frau leider nur bedingt Französisch. Aber: Sie arbeitet dran. Allerdings: Sie ist noch nicht so weit, um einen französischen Landmetzger oder dessen Frau zu verstehen.

Also kommt es, wie es immer kommt. Irgendwann, manchmal erst nach Minuten, sage ich: „Ma femme ne parle pas le Français.“ Dann ertönt auf der anderen Seite der Theke ein enttäuschtes „Ah bon“, und dann kauf ich ein paar Lammkoteletts oder Steaks oder einen Braten, und dann ist alles wieder gut.

Später, draußen, sagt meine Frau: „Nächstes Mal fragst du bitte auf Deutsch.“

 

Geständnis 5: Grünes Programm.

„Grünes Programm“ ist ein medialer Fachbegriff, den meine Frau
 erfunden hat. „Grünes Programm!“ ruft meine Frau jedes Mal, wenn 
ich im Fernsehen Fußball gucke. Sie ruft es also mindestens einmal
 pro Woche, immer wieder samstags, wenn die Sportschau läuft. Sie
 ruft es auch alle 14 Tage, dienstags, mittwochs oder donnerstags,
wobei man die drei „oder“ auch durch drei „und“ ersetzen kann. Das
 hängt davon ab, wer in welchem europäischen Wettbewerb gerade 
spielt. Weitere, unregelmäßigere Anlässe für ein „Grünes
 Programm!“-Rufen sind Länderspiele und die Spiele im DFB-Pokal. Und die diversen EMs und WMs.
Das ist soweit so gut. Ich habe mich längst daran gewöhnt, dass
 meine Frau das immer ruft. Einerseits. Andererseits: Dass sie das
 aber immer noch ruft, nach all den Jahren, zeigt, dass sie sich immer
 noch nicht daran gewöhnt hat. Und das finde ich, ehrlich gesagt, ein 
bisschen schade. Vor allem, weil meine Frau nicht konsequent ist in 
ihren medialen Begrifflichkeiten. Golf zum Beispiel ist kein „Grünes 
Programm“, sondern Golf. Schwimmen ist Schwimmen, und beileibe 
kein „Nasses Programm“. Dabei ist meine Frau immer für eine 
Überraschung gut: Einmal, bei irgendeiner Tennis-Open – es spielten 
zwei Damen, die ich hier lieber nicht nenne – meinte sie am Telefon zu unserer 
Tochter: „Dein Vater schaut wieder knackigen, leicht bekleideten
 Frauen beim Stöhnen zu.“
Ja, was sollte ich denn sonst machen, mitten in der Bundesliga-
Winterpause?

 

Geständnis 6: Die Nudeln sind kalt.

Falls ich es noch nicht erwähnt habe, sage ich es jetzt: Bei uns zu Hause bin ich der Koch. Und zwar nicht von der Art Ehemannfreizeitkoch, der nach Schaffung eines mehrgängigen, stark präpositionslastigen Menüs in der Küche ein Schlachtfeld hinterlässt.

Nein: Ich koche täglich, nach der Arbeit, das früher familiäre und jetzt eheliche Abendessen. Und die Küche bleibt sauber. Und meist ist Frau (und war Tochter) glücklich. Und ich auch. Jedoch: Ein Problem trübt die Idylle. Das Problem ist ein Satz. Den Satz sagt – wer sonst? – meine Frau. Der Satz lautet: „Die Nudeln sind kalt.“ Dann könnte ich jedes Mal ausrasten.

Denn die Nudeln sind nur deshalb nur noch warm – und ich sage bewusst warm und nicht kalt, denn der Begriff „kalt“ ist eine böse, üble Übertreibung meiner Frau –, also nur deshalb nur noch warm, weil meine Frau wünscht, dass Nudeln und Soße g-e-t-r-e-n-n-t serviert werden. Das heißt konkret: Zwischen dem letzten Kontakt mit dem heißen Topf und dem ersten Kontakt mit dem Mund meiner Frau verbringen die Nudeln eine gewisse Zeit in einer temperatursenkenden Umgebung. Sie liegen quasi draußen – auf einem kalten Teller. Und Nudeln halten die Hitze nun mal nicht besonders gut. Vor allem nicht, wenn sie auf einem kalten Teller auf die heiße Soße warten müssen!

Und da ich nun mal erst die Nudeln und dann erst die Soße servieren darf, und meine Frau nicht wartet, bis dass die heiße Soße die warmen (warmen!) Nudeln wieder auf eine höhere Temperatur gebracht hat, sondern sich direkt über die kalttellerbedingt nur noch warmen Nudeln hermacht, kommt es Nudelgericht für Nudelgericht zu dem klagenden, um nicht zu sagen: anklagenden Ausspruch, den ich wegen seiner sachlichen Ungenauigkeit nicht noch einmal wiederholen möchte.

 

Geständnis 7: Maschase-Praxis.

Meine Frau hat manchmal Verspannungen. Dann sagt sie gern: „Hmm, jetzt eine Maschase.“ Meine Frau sagt „Maschase“, obwohl sie natürlich „Massage“ meint und „Massage“ auch fehlerfrei sprechen kann. Meine Frau verdreht nur gern Worte. Sie sagt auch „Frisöse“ und nicht ‚“Friteuse“, aber ich verstehe sie trotzdem. Allerdings, als unsere Tochter letztens meinte, dass heiße jetzt nach neuer deutscher Rechtschreibung „Frisörin“, da war ich doch etwas verwirrt.

Jedenfalls: Immer, wenn meine Frau „Hmm, jetzt eine Maschase.“ sagt, schaut sie mich traurig an, fügt noch ein „Aber du willst ja nicht.“ hinzu, um schließlich im finalen Quittungsschuss der Frau-Mann-Beziehung zu kulminieren: „Du hast mich eben nicht mehr lieb genug.“ Diesem Vorwurf spontan zu widersprechen, ist zwar naheliegend, wäre aber fatal.

Dies würde nämlich die Warummassierstdumichdanntrotzdemnichtdiskussion auslösen. Einmal habe ich es mit dem Vorschlag versucht, eine junge Vietnamesin als Hausmasseurin einzustellen. Das war auch keine gute Idee. Wobei ich nicht genau verstanden habe, was meine Frau jetzt ausgerechnet gegen Vietnamesinnen hat. Aber ich hatte auch keine Lust, bei uns eine Rassismusdebatte loszutreten. Stattdessen kam mir eine geniale Idee: Ich massiere meine Frau, während ich im Fernsehen Fußball gucke. Habe ich ihr gleich vorgeschlagen.

Seitdem erzählt mir meine Frau keine Verspannungen mehr. Schade eigentlich.

 

Geständnis 8: Das Dawillichnochdraustrinkenglas.

Frauen, das wird Ihnen jeder Mann bestätigen, hinterlassen ihre Spuren. Im Leben des Mannes, aber auch anderswo. Zum Beispiel bei uns zu Hause. Da hinterlässt meine Frau eine ganz eigene, um nicht zu sagen, eigenartige Spur: das „Dawillichnochdraustrinkenglas“. Für alle, die sich schwertun mit der deutschen Zusammenschreibrechtschreibung noch einmal: das „Da-will-ich-noch-draus-trinken-Glas“. Besser? Fein. Also weiter im Stück:

Meine Frau ist, wie die meisten Gesundheitsratgeber, der festen Überzeugung, dass der Mensch täglich Flüssigkeit in zweistelliger Litermenge in sich hineingießen müsse. Weil er sonst vertrocknet. Und sie natürlich auch. Also trinkt meine Frau regelmäßig Wasser. Aus einem Glas. Und da meine Frau viel im Haus unterwegs ist, mal hier, mal dort für kürzere oder längere Zeit zu tun hat, platziert sie an ihren wichtigsten Aufenthaltsorten ein Glas, aus dem sie trinkt. In der Regel verteilt sie so täglich an die drei Gläser im Haus. Sobald ich eines dieser Gläser sehe – oft ist es leer, oft noch halb voll –, will ich es wegräumen. (Ein Ordnungsdrang, den meine Frau gern anprangert.) Denn was soll das: ein Glas, einfach so, stundenlang rumstehend, irgendwo, irgendwie, mit nichts oder mit irgendwas drin, das auch schon nicht mehr richtig lecker aussieht, schon schmutzig, angelaufen? Ist das etwa schön? Also greife ich mir das Glas, nehme schon Kurs auf Küche und Spülmaschine, da ertönt der Ruf meiner Frau: „Halt, da will ich noch draus trinken!“

Natürlich versuche ich, dagegen anzuargumentieren. Spreche von Hygiene. Oder davon, dass ein solches Anlegen kleiner Feuchtbiotope im Innern eines Einfamilienhauses nicht artgerecht ist. Und mit Naturschutz nichts, aber auch gar nichts zu tun hat. Und was macht meine Frau? Geht in die Küche, schnappt sich eine Flasche Wasser, holt ein frisches Glas aus dem Schrank und sagt: „Ich geh jetzt nach oben.“


Das Gleichnis von den sechs Ingenieuren

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Das Gleichnis von den sechs Ingenieuren

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Es waren einmal sechs Ingenieure. Sie praktizierten alle sechs in einer kleinen Stadt. Diese kleine Stadt lag am Fuße einer mächtigen Staumauer, die vor sehr, sehr langer Zeit erbaut worden war, man wusste nicht mehr, von wem. Die Einwohner der Stadt profitierten seit Generationen von der Staumauer und dem dahinter liegenden großen See: Strom, Wasser, Freizeitvergnügen aller Art. Partys an den Ufern, Riesenevents auf der Staumauer, Tanz, Konzerte, alles, was ging – immer öfter, immer mehr. Einer der sechs Ingenieure warnte jahrzehntelang davor, es mit der Benutzung und Belastung der Staumauer nicht zu übertreiben. Erklärte die Gefahren und ihre Ursachen. Machte immer wieder Vorschläge, wie man es besser machen könnte. Den anderen fünf Ingenieuren (und den meisten Menschen in der Stadt) ging das mehr oder weniger am Arsch vorbei. Dann, eines Tages, tauchte der erste Riss in der Staumauer auf. Und allmählich wurden die Risse zahlreicher – und größer. Und plötzlich ging den meisten Bewohnern der Arsch mehr oder weniger auf Grundeis.

Und für alle stand eine Frage im Raum: Welcher der sechs Ingenieure kann uns jetzt am besten helfen?