Don’t read my diary when I’m gone. OK, I’m going to work now. When you wake up this morning, please read my diary. Look through my things, and figure me out. (Kurt Cobain: Journals)
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Lebenserwartung. Ist es das Leben, das mich erwartet? Oder das, was ich vom Leben erwarte?
Neue Rubik – wieder für genau 1 Jahr:
69 oder: Einerseits. Andererseits.
Einerseits könnte man jetzt einfach so weitermachen.
Andererseits tun wir genau das.
KurtsWellen.
Zielgruppenfokussiertes Warnschild:
Missverstandenes Angebot:
altersmüll.de
oft so mürrisch hilfsbereit
schweigsam worte haben’s weit
schleppt sich still die straße lang
keine lust kein tatendrang
nur im auto noch mobil
und selbst das hilft ihm nicht viel
kaputt gesoffen
grau geraucht
und in den müden augen nur ein satz:
ich werd nicht mehr gebraucht
Geländeübung
in des sommers mittagshitze
ein emu durchs gelände schreitet
er wird von seiner frau begleitet
die viel freude ihm bereitet
ein erdmännchen macht blöde witze
treibt es wie immer auf die spitze
drüben in einer in einer badewanne
sucht ein flusspferd etwas kühlung
und im klo gleich nebenanne
im schatten einer großen tanne
spielt ein gibbon mit der spülung
nur so zur übung
ein zebra kommt derweil herbei
um den hals vier autoreifen
alles stoppt lässt es vorbei
wie’s sich gehört bei zebrastreifen
dem zebra folgt ja ist’s denn wahr
ein reifenloser jaguar
und lässt die kupplung schleifen
da tönt von oben schrill ein schrei
ein kondor mit ’nem hirschgeweih
der will auch mal was erleben
drum hat er sich hierher begeben
das erdmännchen macht blöde witze
treibt‘ es mal wieder auf die spitze
da will der kondor ihm ans leben
das erdmännchen saust in sein loch
zebra gibbon emus auch
nur das flusspferd steht da noch
und es steht ziemlich auffem schlauch
denn merkwürdigerweise
ist flusspferd kondors lieblingsspeise
und die von jaguaren auch
und während jaguar und kondor
sich heftig nun ums flusspferd streiten
wie sie’s es am besten zubreiten
stellt sich das flusspferd einfach vor
es sei ein weiblicher kondor
und dann und das ist nicht gelogen
sind sie zusammen weg geflogen
zurück bleibt nur der jaguar
schaut sehnsuchtsvoll dem liebespaar
das da davonfliegt hinterher
er hat das alles reichlich satt
er denkt für sich ich will nicht mehr
so rollt er langsam und sehr matt
in die reparaturwerkstatt
der abend senkt sich aufs gelände
und die geschichte geht zu ende
alle sind nach Haus gegangen
kein streit wurde mehr angefangen
und als jetzt güldne sternlein prangen
spielen erdmännchen maleviz
und eins erzählt noch mal ’nen richtig blöden witz
spät noch am abend
ein apfel aus dem garten
frisch gepflücktes glück
pflastermalerkind
bunt wird die welt durch sein tun
begehbares glück
Moritat von einem, der sich Künstliche Intelligenz einplantieren ließ
jüngst auf eines freundes rat
gönnte ich mir ein implantat
schließlich sind die jetzt modern
technik wie vom andern stern
ich dacht ich lass es mir besorgen
sonst versäum ich noch das morgen
also rein den chip ins hirn
hab da eh nichts zu verliern
minimal nur invasiv
aber irgendwas lief schief
denn anstatt besser zu denken
tut seitdem mich jemand lenken
AIKI heißt das blöde ding
dauernd macht es in mir pling
kaum will ich was eignes denken
fängt es an mich einzuschränken
quatscht mir blöd in alles rein
versaut mir mein komplettes sein
plötzlich habe ich gedanken
die ich früher wies in schranken
ständig will ich dinge kaufen
nur noch fahren nicht mehr laufen
und in der parteienlandschaft
wähl ich die nationalmannschaft
jeden abend lieg ich blöde
vorm tv und binge öde
fresse junkfood ohne ende
wasche mir nicht mehr die hände
lasse mich total verlottern
und fang auch noch an zu stottern
net net netflix
sonst ge geht garnix
twit twit twitter
tiktokgewitter
und als allerschlimmster schaden
massenweise hasstiraden
AIKI AIKI lass mich los
dummer mensch was willst du bloß
hast auf dauer mich bestellt
pech wenn’s dir nicht mehr gefällt
dies abo gilt dein ganzes leben
und sei es noch so sehr daneben
als ich all dies dem freund erzählt
seh ich dass ihn das sehr quält
zum glück jedoch ist er chirurg
mit einer klinik in hamburg
dort tat er fein mich operieren
und AIKI gründlich extrahieren
jetzt kann ich wieder ich nur sein
und kein chip quatscht mir mehr rein
und euch menschen möcht ich warnen
vor denen die sich als fortschritt tarnen
glaubt ihre schönen worte nicht
sie sind nur auf macht erpicht
was ich von alldem übrig habe
ist auf meiner stirn die narbe
Kopfhengst – Wunderlichkeiten aus Blödland. Akte 9.
Kassandra, die blinde, ewig unkende Unke, ist tot. Seit gestern baumelt sie im Einmachglas an der Leiter, mit einem Strick um die Kiemen. Depressionssuizid, sagt der Amtsarzt. „Kann das Einmachglas so in den Container?“, fragt Kopfhengst. Als der Amtsarzt kopfschüttelnd raus ist, macht sich Kopfhengst an die Formulierung einer Todesanzeige im Blödländer Blödsinn, der führenden, weil einzigen Zeitung in Blödland. Eine aktuelle Ausgabe hat der Amtsarzt auf dem Tisch vergessen. So kam Kopfhengst auf die Idee. Kopfhengst textet:
„Anke, meine geliebte Unke, ist tot. Sie hat sich umgebracht. Das hätte sie auch ruhig mir überlassen können. So aber habe ich sie morgen schon wieder vergessen. Kopfhengst.“
Diesen Text schickt Kopfhengst sogleich an die Redaktion. Per E-Mail. Kopfhengst ist schließlich modern. Dann fällt sein Blick auf die Zeitung auf dem Tisch und bleibt an der Schlagzeile hängen:
Regierung wirft Palästinenser über Gazastreifen ab!
Kopfhengst ergreift die Zeitung und liest:
Um die Bevölkerungsverluste im Gazastreifen zu kompensieren, hat die Regierung von Blödland beschlossen, Palästinenser über dem Gazastreifen abzuwerfen. Sozusagen als menschliche Hilfsgüter. „In Blödland gibt es ja genug davon“, so der Blödlandkanzler Drichfried Scherz. Zum Einsatz kommt dabei nicht nur die Luftwaffe der Blödländer Blödwehr, sondern auch die private Flotte des Blödlandkanzlers. Dass damit auch gewissermaßen ein Migrationsproblem gelöst werden kann, wie es lobend die rechtsradikale Opposition hinausschreit, weist der Blödlandkanzler weit von sich. „Es handelt sich ausschließlich um eine zutiefst humanitäre Aktion.“ Die israelische Regierung hat schon protestiert und droht mit einer Neuausrichtung des Luftabwehrsystems „Iron Dome“.
Kopfhengst kennt nur den Kölner Dom. Der lässt ihn wieder an die tote Unke denken. Die hat der Amtsarzt so im Einmachglas an der Leiter hängend hängen lassen. Kopfhengst fischt die Unke raus und wickelt sie in die Zeitung. Schreibt dann mit schwarzem dicken Filzer große Buchstaben drauf:
An den Gazastreifen – Hilfslieferung!
Dann öffnet er das Fenster und schmeißt das Paket raus. Vorher hat er noch Luftpost drauf geschrieben. Als er das Fenster wieder schließt, denkt er noch: Wo hätte ich so schnell auch einen Palästinenser herholen sollen?
Ein halbe Stunde später. Kopfhengst liegt in der Badewanne. Zur Entspannung nach all dem Stress nimmt er ein homöopathisches Eierlikörbad. Macht er nur nur selten, aber heute ist es nötig. Leider wird es nicht von der Krankenkasse bezahlt. Egal, Kopfhengst ist eh nicht versichert. Da klingelt es an der Tür. „Ist auuuuuuuf,“ schreit Kopfhengst durch die offene Badezimmertür. „Halloooo? Haaaaaaaaalo. Ist jemand zu Hause?“ Eine wunderbare, junge, weibliche Stimme! „Hüüür bün üch. Üm Badezümmer!“, flötet Kopfhengst. Da steht sie auch schon vor ihm: eine anscheinend junge, weibliche Gestalt, eine Frau wie aus einem Märchen aus tausend und einer Nacht, gehüllt in ein weites Gewand, das einen schlanken Körper ahnen lässt, Gesicht und Kopf verhüllt von seidenem Stoff, zu sehen nur zwei funkelnde, schwarze Augen. So gewandet, hält sie Kopfhengst ihre offene Rechte entgegen: „Ich hab das da vor Ihrem Haus auf dem Bürgersteig gefunden. Es sagt, es gehört zu Ihnen.“ Kopfhengst starrt auf die Hand: die Unke. „Das hat was gesagt?“ – „Klar, was denkst du denn,“ spricht da die Unke, „der Sturz hat mich nicht nur wiederbelebt, er gab mir auch alle Sinne und noch ein paar mehr. Fatima,“ die Unke zeigt auf die Frau, „Fatima hat mich gefunden und ich hab ihr gesagt, wo sie mich hinbringen soll.“ Kopfhengst seufzt: „Okay, dann kommt erst mal beide in die Wanne.“
Minuten später zu dritt in der Wanne: „Sag mal, Fatima, wo stammst du her? Doch wohl nicht aus Norwegen?“ – „Gaza.“
Am nächsten Morgen. Kopfhengst hat Fatima in der Wanne zurückgelassen. Sie müsse noch mehr einweichen, hatte sie gesagt. Die Unke kam wieder ins Einmachglas zu ihrer Strick-Leiter. (Scheiß Wortspiel! Hinweis des Lektorats). Kopfhengst geht zum Supermarkt, Eierlikör kaufen. Vor dem Eingang ein Mann mit einem großen Schild: Kaufe Trödel aller Art. Kopfhengst zeigt dem Mann die Innenseite seiner Jacke:
„Guck, Nazi-Ritterkreuz WK 2, was gibst du mir?“– „30.“ – „Läuft.“ – „Haste noch mehr so’n Zeugs?“ – „SS-Uniform, komplett gut erhalten.“ – „Kann ich sehn?“ – „Klar. Bin gleich zurück.“
Zehn Minuten später ist Kopfhengst zurück. In SS-Uniform. „Haha, steht dir echt gut,“ sagt Trödelmann. – „Wieviel?“, fragt Kopfhengst. „Nicht meine Größe, kannst behalten, tut mir leid.“ Jemand tippt Kopfhengst von hinten auf die Schulter. „Isset endlich wieder so weit? Echt? Isset?“ Kopfhengst dreht sich um. Jüngelchen mit blondem HJ-Haarschnitt. Konfektionsgrößenganzkörperscan. „Könnte passen. Komm mit rein, aufs Kundenklo.“ – „Das kostet aber,“ flüstert Jüngelchen.“ – „Stimmt. 50 Euro. Haste die dabei?“ Jüngelchen versteht: Missverständnis. Zieht Portemonnaie: „Vorkasse?“ – „Läuft.“ Beide ab aufs Kundenklo: Kleidertausch. Sonst nichts. Jüngelchen stolziert davon in neuer alter Kluft. Stolz kommt von stolzieren. Oder umgekehrt. Als Jüngelchen draußen an einem Schäferhund vorbeigeht, hebt dieser leicht die rechte Pfote. (Oder war’s das rechte Bein?)
Kopfhengst kauft derweil Eierlikör. Er trägt jetzt die Klamotten von Jüngelchen. Körperbetonendes blaues Hochwasserhöschen mit körperbetonendem weißen Hemdchen mit körperbetonendem blauen Jackettchen. Also normale Blödlandkluft. So fällt er auch nicht weiter auf. Anschließend, auf dem Heimweg, kommt er an einem Reklameplakat vorbei:
Sofort macht Kopfhengst kehrt, geht zurück zum Supermarkt, kauft sämtliche Dosen Vitaldrink für Katzen. Also das ganze Regal leer. Zu Hause geht er gleich wieder zu Fatima ins Bad: „Guck, Mieze, ich hab dir was Leckeres zu trinken mitgebracht.“
Dann zieht er die Jüngelchenklamotten aus und wirft sie in den Müll. Oder ist das Sondermüll, denkt Kopfhengst noch. Nackt legt er sich zu Fatima in die Wanne. „Gib mir auch ’nen Schluck von der Katzenpisse, Miezchen.“ – „Was machen wir mit den vielen Dosen, die wir nicht schaffen, mein Hengst?“ – „Gaza?“
Die kleinen Mönche.
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Episode 3: Landung in der Normandie
– Eine Geschichte, die einfach so das Reihenendhaus verlässt –
Was bisher geschah – ein kurzer Blick in Karolines „Akte Kleine Mönche“.
Im ersten gemeinsamen Abenteuer rettet Karoline die kleinen Mönche vor aggressiven Elstern und nimmt sie anschließend mit ins Reihenendhaus (die Mönche, nicht die Elstern, wobei, eine schon), in das sie mit ihren Eltern aus der großen in eine benachbarte kleinere Stadt am selben Strom umzieht. Das ist Episode 1 / Tempel auf dem Dach.
Als sie schon eine Zeitlang in der kleineren Stadt wohnen, helfen die kleinen Mönche, die Krise um den Regenwasserkanal im Bachwäldchen zu überwinden. Episode 2 / Der Kampf ums Bachwäldchen.
Ein Jahr später, Karoline ist inzwischen 13 Jahre alt, passiert wieder etwas Erzählenswertes.
Und noch etwas zur Erinnerung: Sämtliche Kleine-Mönche-Geschichten wurden von Karoline noch einmal gesichtet und, wo nötig, überarbeitet, bevor sie dann ihr Elternhaus verließ, um sich in der großen weiten Welt ihre eigene zu schaffen.
Doch jetzt startet hier und jetzt erst mal Episode 3 von Karolines Kleine-Mönche-Erzählungen. Karoline, bitte…
Achtung: Wichtige Informationen zu den kleinen Mönchen! An alle, für die es neu ist: Bitte hier und jetzt als Erstes lesen, weil ich es später nicht andauernd erklären will!
Die kleinen Mönche stammen ursprünglich aus einem stillen, abgelegenen Kloster in Tibet, hoch oben in den Himalaya-Bergen. Von dort mussten sie eines Tages fliehen (siehe hierzu Episode 1 „Tempel auf dem Dach“ bzw. Wikipedia Tibet/China) und gerieten so ins Leben eines Mädchens namens Karoline (das bin ich). Zur Flucht und auch später bedienten sich die kleinen Mönche diverser Kleine-Mönche-Zaubereien. Zum Beispiel ihre Verkleinerung auf echte Winzlinge, die so lange anhält, bis sie wieder in ihr Kloster zurückgekehrt sind. Ausnahmen von dieser Regel sind allerdings immer möglich. Diese Zaubereien perfektionieren sie im Verlauf der Geschichten immer weiter. Denn je länger der Zustand der Verkleinerung anhält, desto mächtiger und stärker werden die Zauberkräfte der kleinen Mönche. Irgendwie dialektisch, oder?
Zu diesen Zaubereien gehört vor allem und von Anfang an der Glitzerring. Er dient als Lupe, damit Menschen die Winzlinge sehen können. Und kann zur Glitzerglocke bzw. Glitzerkuppel bzw. zum Glitzerdom bzw. zur Glitzerkugel „aufgeblasen“ werden, unter / in der/dem dann eine optimale Kommunikation Mönche-Menschen möglich ist, weil dann alle gleich groß bzw. klein sind. Wird die Kuppel zur Kugel, kann man sich mit ihr fliegend fortbewegen (wie z.B. in Episode 2 „Der Kampf ums Bachwäldchen“ ). Kommuniziert wird außerhalb der Kuppel telepathisch, also in Gedanken, und innerhalb der Kuppel entweder normal sprachlich oder aber auch gedanklich, wenn z.B. die Elster Finanzamt mit dabei ist. Wer nicht weiß, wer das ist, lese Episode 1 oder 2. Oder einfach weiter.
Der Abt des Klosters, Meister Alhasa, trägt ein Holzkistchen mit dem Ursprungsglitzerstaub und einem kleinen Löffel in seinem Umhang immer bei sich. Auf Basis dieses Ursprungsstaubes lässt sich immer wieder neuer Glitzerstaub herstellen. Ilhasa mit seiner umfassenden Bildung nennt das Kästchen deshalb gern auch die Staubmutter, weil ihn das alles an das Prinzip der Essigmutter erinnert.
Alhasa ist der Vorstand des Klosters, ein uralter, weiser Mönch, der schon viel erlebt und gesehen hat und so manches Geheimnis kennt und es meist auch für sich behielt. Er ist das Herz, die Seele und der alle anderen überragende Geist des Klosters.
Elhasa ist ein stiller, etwas verschlossener Mönch. Deshalb passt auch das e für ernst so gut zu ihm. Dabei ist er hilfsbereit und pragmatisch, auch wenn er dabei nicht viele Worte macht. Er kann gut zuhören, und wenn er mal selbst den Mund aufmacht, hat das, was raus kommt, Hand und Fuß. Aus für die anderen unerklärlichen Gründen hat der Abt gerade ihn mit den sogenannten Außenkontakten betraut: Ab und zu schickte er ihn runter ins Dorf – einkaufen, tauschen und vor allem hören, was so läuft in der Welt. Das musste er dann jedes Mal bei seiner Rückkehr sofort dem Abt berichten, und nur dem. Meister Alhasa erzählte es dann den anderen Mönchen. Oder auch nicht. Merkwürdig ist, dass sich Elhasa noch nie, nachdem er dem Abt berichtet hatte, daran erinnern konnte, was für Neuigkeiten das gewesen waren.
Der lange, hagere Ilhasa ist der Gebildetste der fünf Mönche (i für intellektuell, ist doch klar), was vor allem daran liegt, dass er die Klosterbibliothek verwaltete und eine richtige Leseratte ist. Passend dazu trägt er eine kleine, runde Brille, was ihm etwas Professorhaftes verleiht. Neben der Bibliothek kümmerte sich Ilhasa auch um die kleinen Felder und den Obst- und Gemüsegarten des Klosters.
Olhasa wiederum ist das komplette Gegenteil von Ilhasa: Er ist der kleinste und dickste Mönch. Und der langsamste, was das Begreifen angeht. Wenn er dann endlich mal was kapiert hat, begleitet er seine Erkenntnis oft mit einem langen, staunenden „Ooooh“. Seine Mitbrüder haben ihm deshalb den Beinamen „Licht der geistigen Bescheidenheit“ verliehen, was Olhasa tatsächlich als Kompliment versteht, gilt doch im Kloster Bescheidenheit als Tugend. Wie man bei seiner Leibesfülle schon annehmen kann, ist Olhasa in der Küche tätig. Er ist aber nicht nur ein exzellenter Koch, sondern auch ein perfekter Hausmönch: putzen, waschen, spülen, aufräumen, nähen, flicken – für Olhasa das reinste Vergnügen. Früher so im Kloster und jetzt da, wo die kleinen Mönche leben. Denn da, wo sie leben, sagt der Abt, ist auch das Kloster, irgendwie.
Ulhasa ist ein recht junger Mönch, der zudem ziemlich gut aussieht und sich eine Menge traut und zutraut. Im Kloster war er vor allem für die Tiere, essbare und nicht essbare, zuständig. Ich denke, er heißt Ulhasa, weil er so besonders unternehmungslustig ist.
Diese Porträts beziehen sich, wie ihr sicher schon gemerkt habt, auf das Leben bzw. die Zeit im Kloster in Tibet, als dort noch alles gut und friedlich war. Ihre individuellen Eigenschaften haben die kleinen Mönche in ihrer Diaspora zum Glück behalten, und, was immerhin ein Trost ist: Sie werden, jeder für sich, kontinuierlich besser und perfekter. Noch so ein kleines Wunder.
Prolog.
Gedankenaustausch:
– Finanzamt?
– Ja, Karoline.
– Wir fahren in Urlaub, Mama, Papa und ich.
– Aha.
– Vier Wochen. Ans Meer, nach Frankreich, in eine Gegend, die Normandie heißt oder so.
– Aha.
– Die Frage ist jetzt: Was machst du, wenn wir weg sind?
– Ich passe auf Haus und Garten auf.
– Nee, das macht schon Melanie von nebenan.
– Okay, dann komm ich eben mit.
Ich erleichtert:
– Dann ist ja alles gut. Und die Mönche?
Stimme Meister Alhasas in meinem Kopf:
– Wir auch, meine liebe Karoline.
– Und wie macht ihr das?
– Sagen wir dir, wenn wir angekommen sind. Oder vielleicht auch nicht. (Leises Kichern im Hintergrund.)
– Und du, Finanzamt, wie machst du die Reise? Fliegst du?
– Bin ich ein Zugvogel? Ein Mauersegler, der beim Fliegen schläft? Ich bin eine Elster. Ich bin für Kurzstrecken konstruiert.
– Ja, also, dann, wie…
– Ich fahre in eurem Auto mit, so wie damals, als ich das Straßenbahndepot verlassen habe.
– Aber du kackst uns nicht aufs Gepäck!
– Wenn ihr mich ab und zu raus lasst zum Gassi fliegen, nicht.
– Keine Sorge, Mama und ich müssen unterwegs auch öfter mal piesele.
– Wann geht es eigentlich los?
– Nächste Woche.
– Dann wird es Zeit, dass du deine Eltern vorbereitest.
Ich mit Riesenseufzer:
– Ich weiß.
En route !
Das ist Französisch. Wortwörtlich heißt das „auf dem Weg, unterwegs“. Es kann mit Ausrufezeichen aber auch eine Aufforderung sein. So, wie die Fußballreporter im Fernsehen zu Beginn eines Spiels oft „Auf geht’s“ sagen. Was sie sonst noch sagen, weiß ich nicht, weil Mama und ich danach immer fluchtartig das Wohnzimmer verlassen. Ach so, „Was ist denn hier los?“ sagen die Reporter auch oft, aber das tut Mama in der Schule auch.
Bevor es also in jenem Sommer, ein Jahr nach dem (gewonnenen!) Kampf ums Bachwäldchen, auf nach Frankreich ging, musste ich mit meinen Eltern noch kurz etwas klären, und zwar dies:
– „Für die Einfuhr von Vögeln (insbesondere von Papageien und Wellensittichen),
Nagetieren, Ratten, Meerschweinchen und Kaninchen werden benötigt:
• eine Gesundheitsbescheinigung, die weniger als fünf Tage vor der Abreise ausgestellt
wurde und die bestätigt, dass die Tiere an keiner arttypischen Krankheit leiden;
• eine offizielle Bestätigung des Tierhalters, dass er der Eigentümer der Tiere ist und diese
nicht verkaufen wird.“ Das sind die Gesetze, meine werte Tochter.
Papa konnte manchmal so ein Korinthenkacker sein. Er selbst benutzte dafür einen anderen Begriff, irgendwas mit Ameisen.
– Papa, Finanzamt leidet an keiner arttypischen Krankheit, und verkaufen will ich sie schon gar nicht!
Ich war echt empört.
– Und die elsterntypische Kleptomanie?
– Das ist keine Krankheit, das ist artgerechtes Verhalten, Nomen ist halt Omen, grätschte Mama in die Diskussion, die daraufhin unter dreifachem Gelächter beendet wurde.
– Außerdem, fügte Mama hinzu, ist Finanzamt eigentlich ein wildes Tier. Und kann somit machen, was sie will.
Draußen im Garten hörte ich ein zufriedenes Elstern-Keckern.
Und die kleinen Mönche? Wie gesagt: davon später, vielleicht. Jetzt waren wir erst einmal unterwegs. Das Auto voll, aber zum Glück genug Platz zum Sitzen. Neben mir auf der Rückbank hatte es sich Finanzamt zwischen dem Gepäck gemütlich gemacht. Sie schlief, und auch mir fielen bald die Augen zu. Mama und Papa unterhielten sich ab und an leise. Autobahnfahrten sind wirklich langweilig. Am späten Nachmittag erreichten wir ein sehr schönes, schlossähnliches Gebäude, das mitten auf dem Land irgendwo in Nordfrankreich gelegen war. Drumherum ein wunderschöner Park, den Finanzamt gleich erkundete.
– Das ist unsere Übernachtung mit Abendessen und Frühstück, verkündete Papa, als wir durch das sehr enge Eingangstor in den Park rollten. Mama und ich waren begeistert. Das Dreierzimmer auf der Etage riesig, mit großen Betten, hohen Decken, alten Möbeln und großen Fenstern mit Blick auf den Park. Die Gastgeber dieser „Chambres d’Hôtes“, so heißt Bed & Breakfast auf Französisch, waren ein, Achtung, niederländisches Ehepaar, die eine lustige Mischung aus Niederländisch, Englisch, Französisch und Deutsch sprachen. Vor allem aber waren sie sehr, sehr nett. Abends gab es lecker Essen im Esszimmer unter einem wirklich ungeheuer großen Hirschkopf mit Geweih. Auf den Tellern dann aber kein Wild, sondern „Kip“, was „Hühnchen“ bedeutet und Niederländisch ist.
Nach einem prima Frühstück am nächsten Morgen waren wir dann wieder en route. Finanzamt hatte den Abend und die Nacht bei französischen Verwandten im Park verbracht.
– Und?, fragte ich sie, als wir vor der Abfahrt – Mama und Papa studierten noch die Karte – eine Runde durch den Park drehten, was sagen die französischen Elstern denn …
– „Pie“, unterbrach mich Finanzamt, auf Französisch heißt Elster „Pie“.
– Also, fuhr ich fort, was hat die Verwandtschaft denn Pie mal Daumen so erzählt?
Finanzamt schüttelte kurz ihr Gefieder.
– Was sollen sie schon erzählt haben? Die Raubvögel sind hier genauso bescheuert wie bei uns, und die Menschen auch. Die schießen sogar auf Elstern. Manchmal jedenfalls.
– Hä? Wozu das denn? Essen Franzosen Elstern? Ich hab im Internet mal ein Rezept für Krähen aus dem Ofen gefunden. Und Elstern und Krähen sind doch irgendwie ähnlich.
Finanzamt schüttelte sich erneut.
– Hör bloß auf mit so was. Die Franzosen schießen dann auf uns, wenn sie meinen, wir schädigen sie, nur weil wir zum Beispiel ein bisschen ihre Obstbäume plündern, und weil sie uns anders nicht los werden. Aber meistens hauen die Elstern hier schon vor dem ersten Schuss ab. Sind ja nicht blöd.
– Papa sagt immer, die Franzosen schießen auf alles, was sich bewegt.
– Da verwechselt er die Franzosen mit den Amis. Übrigens dürfen in Deutschland die Elstern auch gejagt werden, aber alles streng geregelt, und in Städten, also da, wo ich wohne, sowie so nicht.
– Hast du die französischen Elstern mal gefragt, ob es da, wo wir hinfahren, auch Elstern gibt?
– Ja, gibt es. Aber vor allem gibt es dort die sogenannten Seevögel. Also Möwen, Austern, Robben und so. Finanzamt sah mich mit schräg gelegtem Kopf an. Grinste sie etwa?
– Passt schon, murmelte ich, und da riefen zum Glück auch schon Mama und Papa nach uns.
Vier Stunden später, so gegen Mittag, waren wir angekommen. Als wir das Ortsschild passierten, deklarierte Papa fast feierlich:
– Willkommen in Gairemanville Plage. Ein kleiner Familienbadeort an der Westküste der Halbinsel Cotentin, Département Manche, im früher Basse Normandie genannten Westteil der Normandie. Wenn ihr nachher am Strand steht, seht ihr gegenüber die britische Kanalinsel Jersey. Wenn ihr der Küste nach Norden folgt, kommt ihr irgendwann nach Cherbourg. Wenn ihr an die Ostseite der Halbinsel fahrt, kommt ihr an die sogenannten Landungsstrände, wo im Juni 1944 die Westalliierten gelandet sind, um gegen Hitlerdeutschland zu kämpfen und, Gott sei Dank, zu siegen. Folgt ihr der Küste von hier aus nach Süden, kommt ihr zum Mont Saint Michel. Dahinter beginnt die Bretagne. Noch Fragen?
Papa war schon immer sehr stolz auf seine Geographie- und Geschichtskenntnisse. Dann hielten wir auch schon vor unserem Ferienhaus. Beim Blick über die Hecke sahen wir auf der Terrasse eine kleine, drahtige, sonnengebräunte ältere Frau mit halblangen, glatten Haaren sitzen und Zeitung lesen: Marion, unsere Vermieterin. Als sie uns sah, sprang sie flink auf und kam uns mit einem strahlenden Lächeln entgegen.
– Bonjour. Dü bist Lücie, und dü bist Mathias, begrüßte sie meine Eltern, um sich dann, immer noch strahlendes Lächeln, an mich zu wenden, und dü princesse, dü bist Karolin, n’est-ce pas?
Hm, dachte ich, Prinzessin, da habe ich schon schlimmere Komplimente bekommen. Was ich viel bemerkenswerter fand, war die Tatsache, dass die Dame, obwohl Französin, relativ gut Deutsch sprach, mit einem schönen Singsang und einem heftigen Akzent. Bald sollte ich merken, dass Marion ganz bewusst diesen heavy accent pflegte.
– Karoline. Karoline! Träumst du? Sag doch was zu Madame! Das war jetzt Papa.
Ich sah Marion, die mich immer noch anstrahlte, in ihre sanften braunen Augen und stammelte ein „Bongschuuur“. Aber da hatte sie mich auch schon umarmt und mir rechts-links diese berühmt-berüchtigte französische Wangenkussnummer verabreicht. Zum Glück roch sie gut, irgendwie nach Meer.*
– Aaaah, rief Marion, kaum dass sie mich wieder aus ihren Armen entlassen hatte, voilà Fronk!
Über die kleine Straße kam vom gegenüber liegenden Haus ein langer, schmaler Schlaks geschlendert, auch schon etwas alt, vom Typ her so einer, den Mama als „kernigen alten Kerl“ zu bezeichnen pflegte. Dass der so ruhig schlendern konnte, lag daran, dass auf der Straße überhaupt nichts los war. Nochmalige Begrüßung, zum Glück ohne Küsschen. Fronk, also Frank, war nicht rasiert, sprach dafür wesentlich besser Deutsch als seine Frau, ohne deren heftigen Akzent, dafür aber mit einem merkwürdigen Tonfall, der eindeutig kein französischer war.
Aber jetzt wollten wir ja erst mal ankommen. Also einchecken. Mein Zimmer aussuchen, ganz wichtig. Und wo war übrigens Finanzamt? Rätsch, rätsch machte es in der Pinie neben dem Haus. Und wo waren die Mönche?
– Wir sind hier, werte Karoline, sprach es sanft in meinem Kopf. Lass uns später reden, jetzt hast du zu tun, sieh dich mal um.
Das tat ich und stellte fest: Hoppla, die vier Erwachsenen waren ins Haus gegangen. Schnell hinterher.
* Wer mehr wissen will über die hohe Kunst des französischen Wangenküsschen: https://www.accentfrancais.com/de/blog/der-brauch-des-bises
Gairemanville Plage.
Nachdem uns Frank und Marion ins Haus eingewiesen und alles erklärt und wir alle Taschen und Koffer reingeschleppt hatten, hieß es erst einmal: Einkaufen.
– Morgön ist ier unser Sonntagsmarché, sagte Marion, da findet ihr Gemüsä, Obst, Käsä und vieles mehr.
– Auch Austern?, fragte Papa.
– Des huîtres? Oh oui. Die werden ier gleisch vor die Küstö gezüschtet. Von die Plage könnt ihr die tables à huîtres sehen, mit tausendö huîtres in ihre poches.
– Das sind die Tische, auf denen die Austern wachsen, erläuterte Papa, wir Deutschen nennen das Austernbänke. Die Austern sind dort in schwarzen Säcken gelagert, die aussehen wie große, sehr stabile Netztaschen, die nennen die Franzosen poches, also Taschen. Und im Wechsel von Ebbe und Flut sind die poches mal unter, mal über Wasser. Sind sie über Wasser, kommen die Austernleute und ernten.
– Rischtik, und oft vergessön die ihre poches, und die liegen dann bei Ebbä rum, und irgöndwann verschwinden sie für immör in die Määr.
– Klingt interessant, meinte Mama, wo genau finde ich diese poches?
– Femme, lass uns jetzt mal los die Grundausstattung kaufen, und den Rest dann morgen auf dem Markt. Papa klang leicht beunruhigt, ich verstand nicht, warum. Marion schaltete sich wieder ein:
– Dazü fahrt ihr am bestön in die Intermarché nach Lessay, das sind nür zähn Minüt.
– Gibt es hier einen guten Metzger?, fragte Papa.
Frank nickte:
– Im alten Gairemanville Bourg, im Dorf, da ist eine sehr, sehr gute Metzgerei, die bekommen ihr Fleisch hier aus der Gegend und machen ihre ganzen Produkte, also Würste, Pasteten und so, selbst. Und in Créances ist ein prima Bäcker, der auch ganz ausgezeichnete Konditoreiprodukte anbietet.
Papa strahlte:
– Auf geht’s, Mädels.
Drei Stunden später hatten wir alle wichtigen Vorräte im Haus verstaut. Fürs Abendessen sollte es Hacksteaks und Ofenkartoffeln geben, unser Ankunftsklassiker in jedem Urlaub. Aber jetzt war es noch mitten am Nachmittag, und so beschlossen wir, erst einmal zum Meer zu gehen, das, wie sich herausstellte, am Ende unserer Straße war. Also ganz nah, in Nullkommanix waren wir am Strand. Es war gerade Flut, die Leute badeten und schwammen, Kinder juchzten, wir waren glücklich. Durch den Sand liefen wir bis zur sogenannten Cale, einer Betonrampe, über die die Trecker der Ferienfranzosen mit ihren Bootsanhängern und die Trecker der Austernzüchter mit ihren Lastenhängern runter ans Wasser beziehungsweise hinaus zu ihren Austerntischen fuhren.
Die Flut hatte die halbe Rampe unter Wasser gesetzt, also kletterten wir über die großen Felsen an der Seite hinauf – und liefen oben Frank und Marion in die Arme.
– Habt ihr Lust auf einen Willkommensapéritif im Café?
Papa schaute Mama schaute Karoline schaute Papa an. Dann dreifaches Nicken.
– Abär vorhär machen wir eine kleine Ortsführüng, sagte Marion, damit ihr schon mal das Wischtigste wisst über Lond und Lötä.
– Aber nicht zu lange zu weit, maulte ich.
– Pas de souci, so groß ist Gairemanville Plage nischt.
– Und außerdem sind wir auch dabei, zwitscherte es in meinem Kopf.
– Hä, wo denn?, dachte ich zurück.
– Wir reiten auf der Elster.
Rätsch, rätsch. Ich sah mich um. Drüben auf der Mauer einer großen, alten und sehr malerischen Ferienvilla saß Finanzamt mit, wenn man ganz genau hinsah, irgendetwas auf dem Rücken. Aber wenn man nicht wusste, dass da was war, sah man auch nicht, dass da was war. Also sah ich vorsichtshalber wieder weg, damit mich niemand fragte, wieso ich da so intensiv hinsah.
Plötzlich ertönte ein ziemlich lauter Vogelschrei. Und dann noch einer und noch einer. Dazwischen das „Rätsch! Rätsch!“ einer ziemlich empörten Elster. Elster? Finanzamt! Ich sah wieder hin. Und mit mir Mama, Papa, Frank und Marion. Und das sahen wir:
Eine riesige weiße Möwe stieß immer wieder auf eine nicht so riesige Elster (d.h. auf Finanzamt) herab, in erkennbar unfreundlicher Absicht. Und jedes Mal prallte die Möwe flügelschlagend und laut schimpfend zurück. Oder prallte sie ab? Aber an was? Dann hatte die Möwe anscheinend genug und flog davon.
– Die Möwen werden auch immer komischer, sagte Frank. Marion nickte.
– Ganz so wie bei uns. meinte Papa.
Ach ja? Hatte ich noch gar nicht bemerkt. Ich musste an diesen gruseligen Film von Alfred Hitchcock denken, „Die Vögel“, den hatte ich vor gar nicht langer Zeit mit Papa gucken dürfen, im Fernsehen, obwohl Mama meinte, das sei noch nichts für mich, weil zu jung. Na, wenn die gewusst hätte, was die Mädels und Jungs aus meiner Klasse so alles streamten.
Nachdem alle noch mal aufs Meer der Möwe hinterher geschaut hatten, begann die Erkundung von Gairemanville Plage unter Führung von Frank und Marion.
Man muss sich Gairemanville Plage als ein in die Dünen hinein und am Meer entlang gesprenkeltes Schachbrett vorstellen – also von oben betrachtet. Viele ruhige, erstaunlich breite, schnurgerade Straßen, rechts und links eskortiert von breiten Rasenstreifen, dazwischen Häuser und Grundstücke. Viele Pinien gibt es auch. Die Häuser sind in der Regel eher klein und höchstens mit erster Etage und/oder Dachgeschoss. Die Grundstücke oft nur Wiese oder Rasen, manchmal auch mit kleinem Gemüsegarten und Obstbäumen. „Terrain“ nennen die Franzosen das. Leider gab es auch ein paar neue, moderne Häuser, „architektonische Geschwüre“ und „Bauhausbunker“ sagte Papa dazu. Mama meinte nur: „Schrecklich!“. Frank und Marion nickten.
Nachdem wir eine Weile kreuz und quer übers Schachbrett gelaufen waren, führten uns Frank und Marion wieder an die kleine Straße direkt an der Düne parallel zum Strand, die den bombastischen Namen Boulevard de l’Océan trug. Nach ein paar hundert Metern blieben sie vor einem Gebäude stehen, das aussah wie ein großes Hotel.
– Hoppla, sagte Papa, sieht ja aus wie das Sanatorium im „Zauberberg“.
Mama verdrehte kurz die Augen, ich verstand nur Zauberberg. Frank hob den Arm und machte eine Art Präsentiergeste:
– Voilà, das ist unser Miraplaya. Gemeindeeigentum. Kein Sanatorium für Lungenkranke, aber dass sich auch hier zuweilen menschliche Schicksale intensiv begegnen, ist nicht auszuschließen.
Ich hätte nie gedacht, dass ich Papa mal so verblüfft würde dreinschauen sehen.
– Fronk, erklärte Marion mit einem kleinen, stolzen Lächeln, war vor seine Pensionierüng Professör für dötsche Literatür an die Üniversité in Caen. Oßerdäm at er zwei Jahrö in Wien stüdiert. Und vorär ist er zehn Jahröö zu die See gefahröön, meine kleine Matrosö. (Immer noch verliebter Blick zu Frank.)
Aha, dachte ich, daher das kernige Aussehen. Kurzer Blick zu Mama: Sie dachte anscheinend dasselbe.
– Und Marion, erklärte Frank nun mit immer noch verliebtem Blick zu Marion, war einst meine beste Studentin und hat später Deutsch am Lycée, Pardon, Gymnasium unterrichtet. Nur von ihrem französischen Akzent mochte sie sich nie ganz trennen. Die Deutschen mögen das, sagt sie immer. Im Unterricht war ihr Deutsch übrigens fast akzentfrei.
– Die Dötschän findön meine Akezäntö ärrlisch, abär noch ärrlischär finde isch die kleine wienärische Akezäntö von Fronk.
Dreimal deutsches, gänzlich unliterarisches, schwer beeindrucktes und zustimmendes Nicken. Jetzt verstanden wir.
– Also, sprach Frank, ich denke, unser Miraplaya hätte euren Thomas Mann auch inspirieren können. Vor allem der Blick aufs Meer. Wie ihr seht (er machte wieder seine Präsentiergeste), hat es eine wunderbare Fensterfront zum Ozean. Im Hochparterre seht ihr diese großen Fenster. Das ist die grande salle, da wird gegessen, gefeiert und sich zu Meetings oder so getroffen. Durch diesen kleinen Dünengarten kann man über die Straße direkt zum Strand gehen, hier, durch dieses Törchen. Die zwei Etagen über dem Hochparterre sind alles Zimmer, auch zur Hofseite hin. Aber die mit Meerblick sind natürlich die begehrtesten. Ganz oben unterm Dach, hinter den Doppelfenstern links und rechts der senkrechten Mittelachse, befinden sich diverse Wirtschaftsräume. Genauso wie (wir waren inzwischen weitergegangen zur rechten Giebelseite) im Souterrain, das, wie man sieht, nur von der Hofseite zugänglich ist. Außerdem seht ihr hier noch diese Baracken, in denen sich Seminarräume befinden. Und für Außenaktivitäten jenseits von Strand und Meer gibt es diesen riesigen Hof mit kleinem Fußballfeld, Basketballfeld, Tischtennisplatten und vielem mehr.
– Und wer nutzt das, fragte Mama.
– Schülklassön, sagte Marion, die kommön aus gonz Fronkreisch, für eine oder zwei Wochen. Vereine auch, alle Organisationön aus die sozialö Bereisch.
– Aber nicht nur die, ergänzte Frank. Das Miraplaya kann man auch für rein private Events wie Hochzeitsfeiern buchen, oder für professionelle Seminarveranstaltungen oder Teambuilding-Wochenenden von Unternehmen.
– Echt flexibel, euer Miraplaya, sagte Papa anerkennend. Und wie ist die finanzielle Situation? Rechnet sich das Ding für die Gemeinde?
– Bis jetzt ja, antwortete Frank, aber leider ist es ein wenig in die Jahre gekommen und muss renoviert werden. Das heißt, es kann dann einige Monate nicht benutzt werden. Und genau da beginnt das Problem.
– Wir wissön nämlisch nischt, fügte Marion hinzu, ob und wie langö es die Miraplaya überopt noch gebön wird.
Drei große deutsche Fragezeichen.
– Das erzählen wir euch am besten im Café, denn jetzt ist wirklich Apéritifzeit.
Mama und Papa schauten sich kurz an, dann sagte Papa:
– Wo Frank Recht hat, hat er Recht. Wir sind schließlich in Frankreich. (Und mit Blick auf mich.) Diabolo Menthe*, Karoline?
* Erfrischendes, herrlich grünes Sommergetränk mit Pfefferminzsirup, Sodawasser und Zitronen- oder Limettensaft. War in den 1970er-Jahren sehr angesagt. Bekommt man in Frankreich aber auch heute noch in fast jeder Bar. Ich liebe es.
Fünf Minuten später saß ich mit Mama, Papa, Frank und Marion auf der Terrasse des „Bac de Sable“, zu Deutsch „Sandkasten“, und genoss meinen erste Diabolo Menthe des Urlaubs, natürlich mit Strohhalm. Die Sonne schien spätnachmittäglich und auf der Straße vor uns mischten sich Sommerfrischler und Einheimische. Nicht zu viele, aber genug zum Gucken. Finanzamt saß mit den kleinen Mönchen auf dem Rücken im Baum eines Gartens gegenüber. Ich wollte gerade wieder in das Gespräch der Erwachsenen reinhören, als ein unglaublicher Lärm die Straße – Rue de la Mer genannt – Richtung Meer runterrollte. Das heißt, es rollte nicht der Lärm, sondern ein sehr alter Trecker, der auf einem uralten Hänger ein uraltes Boot hinter sich her zog. Und das in einem Affenzahn. Am Steuer: ein verwegen blickender Mann, der aussah wie ein Pirat, der aus einem Altersheim ausgebrochen war. Als er an uns vorbei brauste, hörte ich von allen Seiten „Mika. Mika. Mika.“ Aber da war er schon längst die Rampe runter Richtung Meer.
– Was? War? Das? fragte Mama.
– Mikaël Fournot, erklärte Frank, ist einer der letzten Küstenfischer hier in der Gegend. Bisschen bärbeißig und raubeinig. Auch schon etwas älter, aber sehr, sehr fit. Alle nennen ihn Mika. Den Namen gaben ihm die Damen, vor langer Zeit, als sowohl er als auch die Damen noch jung waren. (Schaute Marion da grad etwas nostalgisch?) Manche nannten ihn sogar Haut Fournot.**
** Fournot >> Haut Fournot >> haut fourneau: leicht anzügliches Wortspiel (das Lektorat).
– Fronk, bittö! Jetzt schaute Marion missbilligend. Frank fuhr unbehelligt fort:
– Mika lebt etwas abseits, zwischen Gairemanville Plage und Gairemanville Bourg, dem alten, etwas im Landesinneren gelegenen ursprünglichen Dorf. Da wohnt er…
– Frank, unterbrach in Marion erneut, wir wolltön doch von die Miraplaya berischtön.
– Stimmt. Also, die Sache ist die…
In der folgenden Stunde erzählten Frank und Marion abwechselnd die ganze, selbst für mich ziemlich aufregende Geschichte der Ereignisse rund um das „Sanatorium“. Von den Anfängen vor rund einem halben Jahr bis zum aktuellen Stand der Dinge. Von ihrem Bürgermeister, Jean-Marie Lefatal, französisch „Monsieur le Maire“, und seinen seltsamen Verbindungen zu einem sogenannten Investor aus Deutschland, der das Miraplaya kaufen und abreißen und an seiner Stelle eine megaschicke, megateure Residenz für reiche Leute errichten wollte, inklusive Umbau des jetzt noch recht naturbelassenen Boulevard de l’Océan mit seiner Düne zu einer pompösen Strandpromenade mit Cafés, Bars, Restaurants und schicken Boutiquen. „Miraplaya 3000“ hieß die Firma des Investors, und so sollte auch die zukünftige Residenz heißen. Den Namen des Investors selbst wussten Frank und Marion auch: ein gewisser Gierski. Bei diesem Namen guckte Papa plötzlich ganz komisch, schüttelte dann wie für sich selbst den Kopf und hörte weiter zu. Die ganze Sache diente laut Bürgermeister Lefatal natürlich ausschließlich dem Wohlstand und Wohlergehen von Gairemanville und seinen Bewohnern. „Mon oeil“, meinte Frank, was, wie ich später erfuhr, so viel heißt wie „geschissen“.
Als es dann so richtig in die Details ging, wurde es mir doch zu viel und ich klinkte mich geistig aus. Es gab ja auch genug auf der Straße vor uns zu sehen. Und außerdem spendierte mir Papa noch einen zweiten Diabolo Menthe.
Eine Stunde später waren alle Gläser leer und meine Eltern auf dem neuesten Stand in Sachen Miraplaya. Die „Dorfstraße“ hatte sich inzwischen auch ziemlich geleert.
– Ich muss jetzt echt in die Küche, sagte Papa. Mama und ich nickten heftig zustimmend, Frank und Marion verständnisvoll. Vor unserem Ferienhaus verabschiedeten wir uns voneinander. Frank und Marion gingen in ihr Haus, das ja schräg gegenüber lag. Papa machte sich in der Küche an die Vorbereitung des ersten Ferien-Menüs, wie er sagte. Mama ging Betten beziehen. Und ich verzog mich in den Garten hinterm Haus, aufs „terrain“. Dort wartete, auf dem blauen Plastikgartentisch sitzend, schon Finanzamt auf mich. Der winzige Rucksack war verschwunden.
– Die Jungs harren deiner im Gartenhaus, los komm.
Gartenhaus? Ich hatte das Ding schon vom Fenster meines Zimmers aus gesehen. War eher Gartenbude. Bevor es rein ging, blieb ich kurz stehen:
– Sag mal, Finanzamt, was war das eigentlich für eine Nummer mit der fetten Möwe? Das sah aus, als wäre die volles Produkt gegen eine unsichtbare Wand geknallt.
– Schutzschirm der kleinen Mönche. Und nun frag nicht weiter.
Na dann. Also rein in die Bude. Was für ein Gekörmel! Alter Werkeltisch, wackelige Regale, Liegen, Strandspielzeug und Sportgeräte in morbidem Zustand. Dazu zwei groteske Metallgestelle, die sich bei genauerem Hinsehen als halb verrostete Fahrräder entpuppten. Und hier hatten sich die kleinen Mönche für vier Wochen niedergelassen?
– Ja sicher, werte Karoline, erklang die Stimme von Alhasa in meinem Kopf, es ist doch recht gemütlich hier.
Ich sah genauer hin: Da saßen sie nebeneinander am Rand eines Regals und ließen die Beine baumeln. Mensch-ärgere-dich-nicht-Nüppi-klein, wie damals in jener Nacht unserer ersten Begegnung. Es gab dann, wie immer, die kleine Glitzerglockennummer, und schon saß ich genauso klein mitten unter ihnen.
– Und wo genau wohnt ihr hier in diesem Chaos?
– Tss. Tss. Tss. Karoline, du weißt doch, dass du nicht alles wissen musst.
– Was du allerdings wissen solltest (das war jetzt Elhasa, der „Außenbeauftragte“ des Klosters), ist, was sich rund um das Miraplaya ereignet hat, ereignet und womöglich ereignen wird. Denn es kann durchaus sein, dass wir, also du und wir, in gewisser Weise involviert werden könnten.
– Inwollwas?
– Involviert sein heißt, dass man an etwas beteiligt, in etwas verwickelt ist. (Danke, Ilhasa.)
Ich wurde stutzig:
– So wie bei der Geschichte mit dem Bachwäldchen etwa?
– Das werden wir noch sehen, werte Karoline, sprach Alhasa, jetzt berichte ich dir erst einmal, was Frank und Marion heute Nachmittag auf der Caféterrasse erzählt haben, während du über deinen Diabolo Menthe hinweg die Straße beträumt hast.
– Das habt ihr alles gehört? Vom Baum aus? Habt ihr so was wie Fernmikrofone oder wie die Dinger heißen?
Leises Gelächter. Okay, ich verstand: keine weiteren Fragen. Stattdessen sah ich noch mal genauer hin:
– Wo ist eigentlich Olhasa?
– Na wo schon? Der schaut deinem Vater beim Kochen zu. Und nun lausche bitte aufmerksam, liebe Karoline.
Und Alhasa, der weise Abt, berichtete.
Schlechte Aussichten fürs Miraplaya.
Und also sprach Alhasa:
– Liebe Karoline, ich erzähle dir jetzt die ganze Geschichte, also auch das, was du vielleicht im Café schon mitbekommen hast.
– Kein Ding, sagte ich, so viel war das nicht.
–Seit letztem Sommer, fuhr Alhasa fort, weiß die Gemeinde Gairemanville, dass das Miraplaya in Teilen gründlich renoviert werden muss. Fenster neu, Heizung, Leitungen für Elektrik, Wasser und so weiter. Ein Gutachten hat ergeben, dass diese Arbeiten spätestens im übernächsten Sommer durchgeführt werden müssen, um die Funktionalität nachhaltig zu gewährleisten.
– Das heißt, unterbrach ich, diesen Sommer kann das Miraplaya noch benutzt werden?
Alhasa nickte:
– Wird es auch. Habt ihr heute Nachmittag nur nicht so mitbekommen, weil die alle am Strand oder unterwegs waren. Aber im Moment sind drei Schulklassen da. Wo war ich? Ah ja, die Funktionalität und die damit verbundene weitere Wirtschaftlichkeit. Das Ergebnis des Gutachtens ist eindeutig: Einmal vernünftig renoviert, rechnet sich das Miraplaya auch in Zukunft und trägt so weiterhin positiv spürbar zu den Einkünften der Gemeinde bei.
– Und wo ist jetzt das Problem?
– Das Problem, meine ungeduldige Freundin, das Problem hat zwei Namen: Lefatal und Gierski. Jean-Marie Lefatal ist seit fünf Jahren Bürgermeister von Gairemanville Bourg und Plage. Er ist eitel, skrupellos, großkotzig und auf eine besondere Art und Weise feige. Ein genialer Populist und Selbstdarsteller, immer unterwegs in eigener Sache. Und: Er ist Finanzspekulant mit Hang zu riskanten Geschäften. Außerdem will er demnächst wiedergewählt werden und braucht dazu Erfolge. Aus irgendeinem Grund, den wir nicht kennen, also noch nicht kennen, zeigt er kein Interesse am Erhalt des Miraplaya. Im Gegenteil: Er will es verkaufen und verspricht der Gemeinde einen wahren Geldregen. Vor allem aber verspricht er sich dadurch eine sichere Wiederwahl zum Bürgermeister.
– Und an wen will er verkaufen?
– An Problem Nummer Zwei. Dabei handelt es sich um einen Investor namens Anselm Gierski und sein Projekt einer Residenz für wohlhabende Pensionäre, mit dem ziemlich phantasielosen Namen „Miraplaya 3000“.
– Ja, das haben Frank und Marion auch erzählt im Café. Und dass dieser Investor wohl Deutscher sei.
– Richtig. Gierski ist Deutscher. Für mehr Informationen fragst du bitte deinen werten Vater. Der kann dir einiges erzählen.
– Papa? Der hat auch mal kurz ganz komisch geguckt, als der Name fiel.
– Eben. Und nun mach dich hurtig davon, deine Eltern denken gerade, dass sie dich rufen wollen, weil das Essen fertig ist.
Bevor ich darüber grübeln konnte, woher Alhasa nun das schon wieder wusste, sah ich, dass Olhasa aufgetaucht war. Und da hörte ich auch schon Mama „Kihiiiiind!“ rufen.
– Komm nach dem Essen noch mal kurz rüber, liebe Freundin, rief ein fünfstimmiger Chor, wir müssen dir noch was erklären.
Papas „Menu des Vacances Numéro Un“ (Hacksteaks mit Ofenkartoffeln, davor Palmherzen in Vinaigrette, danach Käse und zum Schluss lecker Kuchen) war wie erwartet und trotz seiner, wie Papa sagte, Schlichtheit, ganz vorzüglich. Anschließend setzten sich meine Eltern zum Chillen auf die vordere Terrasse, tranken einen Kaffee und sahen, soweit nicht durch die Hecke behindert, den Leuten zu, wie sie auf der Straße entweder zum Strand gingen oder vom Strand kamen. Die Sonne würde jetzt im Hochsommer ja erst sehr spät untergehen.
– Ich schau noch mal nach Finanzamt.
Mit diesen Worten verkrümelte ich mich ins Gartenhäuschen. Wie erwartet wurde ich schon erwartet. Auch Finanzamt war da. Die Tür ließ sich übrigens nicht ganz schließen, so dass eine Elster leicht hineinschlüpfen konnte.
– Und, hat’s geschmeckt?, fragte Finanzamt.
– Joaa, nicht schlecht, meinte ich.
– Karoline, etwas mehr Respekt, bitte, erklang vorwurfsvoll Olhasas Stimme, dein Vater kocht wirklich sehr, sehr gut.
– Ja, ja, weiß ich doch. Aber ihr habt mich doch nicht deshalb noch mal kommen lassen.
– Nein, werte junge Freundin, sprach Alhasa, wir möchten dir gern noch für die nächsten Tage ein, wie nennt das dein ehrwürdiger Vater noch mal, ach ja, ein Briefing geben.
– Ähä…?
– Also, sprach der Abt, es wird so sein: In der nächsten Woche machen du und deine Eltern erst mal richtig schön Urlaub, ohne an irgendetwas Anderes zu denken. Das geht schon morgen los mit einem Marktbesuch hier in Gairemanville und danach Strand und Meer. Während ihr also urlaubt, werden sich Ulhasa und Elhasa im Ort und in seiner Umgebung und Olhasa in den Küchen umtun, Augen und Ohren weit geöffnet, und auch alle anderen Sinne werden zum Einsatz kommen. Danach, denke ich, werden wir umfassend informiert sein über die Hinter-, Vorder- und sonstigen Gründe für die hiesigen Ereignisse und Emotionen. Dann werden wir in Ruhe meditieren, und dann melden wir uns wieder bei dir. Und jetzt, liebe Karoline, solltest du mit deinen Eltern zum Strand gehen, um euren ersten Sonnenuntergang dieses Urlaubes zu begrüßen. Gleich rufen sie nach dir.
Fünf Minuten später marschierte ich mit meinen Eltern die Straße runter zum Strand. Mann, war das schön in Gairemanville. An der Ecke, wo „unsere“ Straße auf den Boulevard de l’Océan traf, warf ich einen kurzen Blick aufs Miraplaya. Viele Fenster erleuchtet, Fußball im Hof, junge Menschen diesseits und jenseits der Straße, vor dem Haus, bei den Bänken auf der Düne entlang dem Boulevard. Oben auf der kleinen Düne verharrten wir erst mal. Die Flut vom Nachmittag war zur Ebbe geworden, aber noch nicht komplett, und das Meer war ruhig. Weit ging der Blick hinaus, bis hinüber nach Jersey. Von dort blinkten lockend ein paar englische Lichter. Dann… Moment, ich glaube, hier muss ich kurz was erklären:
Zu England bzw. Großbritannien gehören ein paar größere und kleinere Inseln, die der Westküste des Cotentin vorgelagert sind. Also wo wir drauf gucken konnten vom Strand aus. Die, die uns am nächsten lag, heißt Jersey. Weiß ich alles von Papa. Die Namen der anderen Inseln hab ich vergessen. Und das Meer heißt da auch nicht Atlantik, obwohl es der Atlantik ist, sondern Ärmelkanal. Die Franzosen sagen nur „manche“ dazu, das heißt Ärmel. Papa sagt, Kanäle hätten die Franzosen genug. Na dann…
Ja, dann liefen wir die Treppe runter zum Strand. Auf dem nun doch schon beachtlich breiten Sandstreifen spazierten wir Richtung Cale. Dort angekommen gingen wir nun ganz bequem die Rampe hinauf und dann oben auf der Düne wieder zurück. Dabei nahm ich mir vor, mir vom allwissenden Ilhasa diese ganze Ebbe-Flut-Sache mal gründlich erklären zu lassen. Als wir an der Ecke ankamen, an der es von der Düne weg Richtung Ferienhaus ging, sagte Mama:
– Es ist gerade so schön Ebbe. Da geh ich doch mal nach diesen poches gucken, die da so rumliegen sollen. Ich hab da nämlich so eine Ahnung, dass ich aus den Dingern was machen kann.
Papa warf mir einen vielsagenden Blick zu. Ich verstand. Wenn Mama denkt, dass sie „was machen kann“ mit irgendwas, das andere Leute nur einfach wegschmeißen würden, dann macht sie meistens auch was draus. Und meistens was Gutes.
– Okay, meinte Papa, Karoline und ich gehen dann schon mal nach Hause.
Im Ferienhaus angekommen, fiel ich todmüde ins Bett und schlief mit viel Vorfreude auf Markt und Strand und Meer sehr schnell ein.
Skandal auf dem Markt.
Am nächsten Morgen wurde ich entsprechend spät wach, genauer gesagt, als Mama mich sanft rüttelte:
– Tochter, möchtest du mit zum Markt? Dann musst du jetzt aufstehen.
Ich sah kurz aus dem Fenster in den Garten. Drei schwarze, leere Austernsäcke lagen da. Aha, dachte ich, es hat angefangen. Dann ging ich duschen.
Als ich in die Küche kam, saß Papa schon marktfertig am Tisch und schrieb an seiner Einkaufsliste. Papa schreibt im Urlaub (und auch zu Hause) permanent an zwei Listen: der Einkaufsliste und der Kochliste. Beide haben natürlich miteinander zu tun. Letztere wird, besonders im Urlaub, kontinuierlich geändert. „Optimiert“, meint Papa.
Ein schnelles Frühstück später bogen wir drei am Parkplatz bei der Lebensretterstation neben der Cale um die Ecke und blieben erst mal stehen: Fast die gesamte Rue de la Mer, die vom Strand durch den Ort bis an dessen Eingang führte, war gesperrt. Statt Autos jede Menge Marktstände. Obst, Gemüse, Fisch, Austern, Meeresfrüchte, Käse, Würste – alles in schöner Vielfalt. Und alles sah so lecker aus. Vor allem auch das Grillgut, die Pommes Frites, die Paella und die Crêpes an den verschiedenen Fressständen. Dann gab es noch Stände mit Kleidung, mit Schuhen und allem möglichen anderem Klamottenzeugs, und welche mit allem möglichen Touristenzeugs. Und schließlich noch ein paar alte Leute, so opa-omi-mäßig, die auf ganz winzigen Ständen ihre eigenen Erzeugnisse darboten: Honig, Eier, Hühner, Marmeladen, Säfte und so. Manchmal alles auch durcheinander. Ich wusste gar nicht, wohin ich zuerst schauen sollte.
– Schau mal, Karoline, da ist ja Marion, sagte Mama.
Tatsächlich, nur ein paar Meter entfernt, saß unsere Marion an einem kleinen Campingtisch, der unter Kartoffeln, Tomaten, Zucchini, Salaten und anderem Gemüse fast zusammenbrach.
– Salut, Marion, rief ich, ganz stolz auf mein Französisch. Aber Marion antwortete nicht. Marion guckte noch nicht einmal. Marion schaute in die entgegengesetzte Richtung. Weiter hinten auf der Marktstraße hatte sich eine Menschentraube gebildet, die ständig größer wurde. Man hörte lautes Rufen, Schreien, Schimpfen.
– Wassen da los?, fragend sah ich meine Eltern an. Gleichzeitiges elterliches Schulterzucken – keine Ahnung, Kind.
– Jschiärrskiii. Marion guckte unfassbar böse. Ihre Lippen und Hände zitterten richtig. Eine Manif für die Miraplaya. Und, sie wurde richtig laut, gegön Jschiärrskiii!
– Klingt interessant, meinte Papa.
– Ist es aber nicht, antwortete Mama.
Das war ein Running Gag meiner Eltern aus einem Lied von Herbert Grönemeyer und den Fantastischen Vier. Leider hatten (und haben) sie nicht nur den einen.
– Am besten, wir schauen uns die ganze Sache mal näher an, beschloss Papa, ich bin jetzt wirklich richtig neugierig auf Jschiärrskiii.
Also schauten wir uns die ganze Sache mal näher an. Und das sahen und hörten wir:
Erstens einen kleinen Tisch, einen Sonnenschirm und ein Gestell mit einem Plakat. Auf dem Plakat war ein Foto des Miraplaya und darauf in riesigen Großbuchstaben: SOS MIRAPLAYA. Darunter dann in etwas kleiner und etwas wild platziert in Französisch und Englisch: SAUVONS LE MIRAPLAYA! TOUS ENSEMBLE POUR PROTÉGER NOTRE PATRIMOINE! GAIREMANVILLE EST À NOUS! SAVE THE MIRAPLAYA! NO SPECULATION IN GAIREMANVILLE! FCK INVESTORS! Auf dem Tisch lagen haufenweise Flugblätter. Ich konnte so gerade erkennen, dass auf ihnen neben den Sätzen vom Plakat noch jede Menge weiterer Sätze standen. Die meisten mit Ausrufezeichen.
Zweitens ein paar junge Leute, die rund um den Tisch standen und alle ein T-Shirt trugen mit der Aufschrift SOS MIRAPLAYA. Sie verteilten Flugblätter und diskutierten mit den Frauen und Männern, die um sie herum standen.
Drittens ein echt hübsche junge Frau in Bluejeans und weißem Aktions-T-Shirt, die sehr aufgeregt und heftig gestikulierend mit einem älteren Mann in Anzug und Krawatte schimpfte, der seinerseits sehr aufgeregt und heftig gestikulierend mit der echt hübschen jungen Frau schimpfte. Was sie sprachen, verstand ich nicht. Viel zu viel viel zu schnelles Französisch. Daneben stand ein zweiter Mann in typischer Touristenkluft und sah und hörte scheinbar interessiert zu: mittelgroß, Basecap, riesige Sonnenbrille, die ein feistes, ziemlich knallrotes Gesicht nur halb verbarg, T-Shirt mit irgendeinem Schwachsinnsaufdruck, das über dem Wohlstandsbäuchlein spannte, Shorts, weiße Beine, Sandalen. Über der feisten Brust baumelte ein pechschwarzes Mobiltelefon Marke SuperWichtIch. Aber was mir echt den Atem verschlug: Der Typ trug quietsche-entchen-gelbe Söckchen mit Smileys drauf in seinen verdächtig homöopathischen Sandalen! Quietsche-entchen-gelbe Söckchen!
Dann nahm er blöd grinsend die Sonnenbrille ab.
– Ich fasse es nicht. Dieses Arschloch kenne ich! Ich drehte mich um. Papa starrte gebannt auf die Touritype. Was zum Teufel treibt Anselm Gierski hier?, fragte er mich. Als wenn ich das wüsste. Mein Blick fiel auf ein Schild, das einer der jungen Leute vom Stand in genau diesem Moment hoch hielt. „Gierski go home!“ stand da drauf.
– Besonders beliebt ist er jedenfalls nicht. Ich zeigte auf das Schild. Und woher kennst du den, Papa?
– Erzähl ich dir später, jetzt lass mal sehen, was da abgeht.
– Da streiten sich zwei, als wären sie Vater und Tochter. Mama hatte für Familienzwiste echt einen Blick. Und sie hatte wohl Recht.
Der ältere Mann, sehr gepflegt in Anzug und Krawatte, mit kleinem französischen Fähnchen am Revers, und die echt hübsche junge Frau warfen sich bei ihrem Miteinanderschimpfen immer mal wieder die Worte „fille“, „père“ und „maire“ an den Kopf. Das verstand sogar ich. Den Rest würde ich mir später von Papa erzählen lassen. Inzwischen eskalierte der Streit zwischen Vater und Tochter. Und wenn ich „maire“ richtig deutete, schließlich las man ja in jedem Kaff den Schriftzug „Mairie“ auf irgendeinem mehr oder weniger repräsentativen Gebäude, dann war der „père“ wohl auch der „maire“. Und dann wohl der von Gairemanville. Der mit den blöden Plänen fürs Miraplaya. Der mit diesem Gierski unter einer Decke steckte. Und der hatte gerade ein richtig fettes Problem mit seiner Tochter. Weil die da am Proteststand war mit den anderen jungen Leuten und gegen… Oha, so langsam erkannte ich die Zusammenhänge.
Eine plötzliche Veränderung riss mich aus meinen Gedanken. Ein älterer Mann – wettergegerbtes, sonnengebräuntes Gesicht, grauer Dreitagebart, graue kurze Haare, kompakte muskulöse Figur in blauem Fischer-Overall, hohe Fischergummistiefel – war aufgetaucht, schnappte sich das Mädchen und zog es sanft aber bestimmt weg, also raus aus dem Streit, während er gleichzeitig beruhigend auf es einsprach. Dasselbe machte der Tourityp mit dem Père-Maire, dem Bürgermeistervater. Die beiden Streithähne wurden in verschiedene Richtungen von ihren jeweiligen Begleitern hinweg geführt. Die Menge verlief sich. Die jungen Leute am Stand ordneten ihre Flugblätter, die der Wind etwas auseinander geweht hatte und fingen dann wieder an, sie mit einem Lächeln an die vorbei kommenden Menschen zu verteilen. Die meisten nahmen eins. Wir auch. Papa gab uns eine schnelle Übersetzung der fett gedruckten Sätze:
– Gegen die Pläne des Bürgermeisters. Gegen Investoren. Gegen die Vernichtung des Miraplaya. Keine Spekulation in Gairemanville. Das Miraplaya muss leben. Wir fordern eine Lösung zum Nutzen aller Menschen in Gairemanville.
– Okay, sagte Mama, das haben uns Frank und Marion ja schon alles erzählt. Aber was wäre denn die Lösung?
Papa zuckte mit den Schultern:
– Keine Ahnung. Dazu steht hier nichts. (Er faltete das Flugblatt und steckte es in die Hosentasche.) Wisst ihr was? Meinetwegen können die Franzosen hier so viele Probleme haben wie sie wollen – wir haben Urlaub. So! Und deshalb genießen wir jetzt den Markt.
Na, dachte ich, wenn du dich da mal nicht täuschst. Als wir zu Marion an ihr Ständchen zurückkehrten, schüttelte sie mit einem ungläubigen Lächeln den Kopf.
– Mika mischt sisch ein, das at er noch nie gemacht, sagte sie.
– Und warum macht er das gerade jetzt?
Marion hob die Schultern:
– Qui sait? Wer weiß? (Dann wieder wütend werdend.) Abt ihr die Arschelok Jschiärrskiii gäsähön? Jetzt wisst ihr, wie die Feind aussieht. (Dann wieder lächelnd.) Aber jetzt macht erst mal ööre Einkeuf. Isch abe ganz frische Salade. Und sähr köstlische Paradeisör.
– Hallo Wien, unterbrach sie Papa lachend. Marion lachte auch:
– Das ist die Inflüanz von Fronk, der sagt immör Paradeisör zu Tomat. Und schaut hier: süper schöne haricots verts, grüne Bohnän.
– Aaaaaah, Bohnen! Das war Mama.
– Ich geh mal zu den Austern! Das war Papa.
Ich seufzte. Das waren meine Eltern…
Der Überraschungsvater.
Schwer bepackt marschierten Mutter, Vater, Kind gegen Mittag vom Markt zurück zum Ferienhaus. Zum Glück war es ja nicht weit. Weil Mama „Meer sehen“ wollte, nahmen wir die Strecke über den Boulevard de l’Océan, der an der kleinen Düne entlang parallel zum Strand verläuft. Übrigens nicht zu verwechseln mit der Rue de la Mer, der „Hauptstraße“ von Gairemanville Plage. Die führt vom Ortseingang schnurstracks zum Strand.
– Papa, woher kennst du diesen wie heißt er noch? Gierig?
Mein Vater lachte:
– Gierski heißt der, aber Gierig ist viel passender.
– Ach ja, fügte ich hinzu, und wenn du schon mal dabei bist, kannst du mir bitte auch das mit der Ebbe und der Flut hier erklären, warum das Meer manchmal ganz nah an der Düne hier ist und manchmal total weit weg. Du hast uns doch schon so schön das mit dem Kanal und den Inseln erzählt.
– Gut, dann setzen wir beide uns jetzt mal dort auf die Bank auf der Düne. Mama geht derweil schon mal weiter zum Haus mit den Sachen, die in den Kühlschrank müssen. Wir kommen gleich nach mit dem Rest der Einkäufe. Okay, Frau?
Mama seufzte und nickte und murmelte irgendwas von „Bin mal gespannt, wie lange das wieder dauert bis ihr da seid“ und machte sich dann mit ganz klar leichterem Gepäck wieder auf den Weg.
Vater und Tochter nahmen derweil auf der Dünenbank Platz.
– Also, sprach Papa, Gierski. Anselm Gierski ist ein sogenannter Investor. Ich nenne ihn lieber einen Spekulanten. Rücksichtslos und gerissen. In unserer alten Heimatstadt hat er vor gar nicht langer Zeit einen Immobilienskandal ausgelöst, als er versuchte, ein denkmalgeschütztes altes Schulgebäude, das er günstig von der Stadt erworben hatte mit dem Versprechen, es pfleglich umzuwidmen in eine Privatschule, abzureißen, um auf dem Grundstück teure Eigentumswohnungen zu errichten. Dazu hatte er dafür gesorgt, dass sämtliche Unterlagen, die den Denkmalschutz garantierten, urplötzlich nicht mehr aufzufinden waren. Nachdem ein subalterner städtischer Angestellter in einer übel beleumundeten Kneipe in der Nähe des Hauptbahnhofs sturzbetrunken und wichtigtuerisch ein bisschen zu laut zu viel erzählt hatte, flog das Ganze auf– und Anselm Gierski verließ über Nacht Hals über Kopf die Stadt. Der subalterne städtische Angestellte flog übrigens hinterher. Der Stadtverwaltung war das Ganze dermaßen peinlich – die halbe Stadt lachte, die andere Hälfte schimpfte –, dass sie auf eine strafrechtliche Verfolgung verzichtete. Glück gehabt, das Arschloch. Und anscheinend hat sich Anselm Gierski anschließend neuen Herausforderungen zugewandt. Am besten ganz weit weg, hat er sich wohl gesagt, irgendwo, wo mich keiner kennt. Wie er konkret auf Gairemanville gekommen ist und diesen Plan fürs Miraplaya entwickelt hat, weiß ich allerdings nicht. Reicht das als Information?
Ich nickte. Das reichte. Aber mein Wissensdurst war noch nicht vollständig gelöscht:
– Und was ist jetzt mit Ebbe und Flut?
– Ach, hat dir das Ilhasa noch nicht erklärt?
Rumms! Es tat einen Knall in meinem Kopf. Was hatte Papa da gesagt? Hatte ich überhaupt richtig gehört? Das konnte doch gar nicht sein! Meine Eltern hatten die Existenz der kleinen Mönche vergessen, dafür hatten die Jungs selbst gesorgt. Die konnten solche Erinnerungen in den Leuten ein- und ausschalten. Hatten sie Papas Erinnerungen wieder aktiviert? Wenn ja, wozu? Und wie sollte ich jetzt reagieren? Ich beschloss, es erst einmal zu ignorieren.
– Papa, bitte.
Mein Vater tat so, als sei gar nichts passiert und hob an:
– Jeden Tag ändert sich hier wie an der gesamten französischen Atlantikküste der Meeresspiegel aufgrund des universellen Phänomens der Gezeiten. Je nachdem, wo der Mond und die Sonne in Bezug zur Erde stehen, sind die Gezeiten stärker oder schwächer. Bei Vollmond ist es besonders heftig, da entsteht das Phänomen der großen Gezeiten, die man in Frankreich Grandes Marées nennt. Von großen Gezeiten spricht man, wenn der Koeffizient über 90 liegt.
Papa sah das Fragezeichen in meinem Gesicht.
– Nein, was ein Koeffizient ist, weiß ich grad nicht. Also weiter. Während der großen Gezeiten kann der Tidenhub, das ist der Höhenunterschied zwischen Ebbe und Flut, in der Bucht vom Mont-Saint-Michel zum Beispiel bis zu 13 Meter betragen! Dies ist der höchste Tidenhub in Europa. Du musst dir vorstellen, du stehst bei tiefster Ebbe da draußen auf dem wasserfreien Meeresgrund, und ein paar Stunden später ist die Wasseroberfläche mehrere Meter über dir. Pass also immer gut auf bei Ebbe, dass dich das Wasser nicht überrascht. Übrigens sind auch hier in Gairemanville die Grandes Marées ein sehr beeindruckendes Naturschauspiel. Wir schauen nachher mal in den Gezeitenkalender, den ich in der Touristeninfo abgegriffen habe, wann es die nächste Grande Marée gibt. So, reicht das als Information?
Ich nickte.*
– Dann lass uns heimwärts ziehn, ma fille.
Papa erhob sich, packte seine zwei Einkaufskörbe und deutete mit dem Kinn auf den dritten, kleinsten:
– Der ist für dich.
Die verbleibenden paar hundert Meter bis zum Ferienhaus herrschte Stille zwischen uns – auch als wir am Miraplaya vorbei kamen. War mir ganz recht, so konnte ich in Ruhe über diese Überraschung grübeln, die mir mein Vater bereitet hatte: „Hat dir das Ilhasa noch nicht erklärt?“
Die kleinen Mönche konnten sich jedenfalls auf was gefasst machen, wenn sie von ihrem Meditieren zurück sein würden.
*Anmerkung für Digital Natives: Natürlich hätte ich das alles auch im Internet recherchieren können, schließlich hatten wir alle ein Smartphone und Mama zusätzlich ihren Laptop dabei. (Das Ferienhaus hatte WLAN, auf Französisch WIFI. Mama sagte immer „WIFI muss mit.“) Und Papas Erklärungen waren meist auch nicht so ausführlich, aber dafür konnte ich sie gut verstehen, und außerdem waren sie irgendwie unterhaltsamer, so dass ich mir das alles auch viel besser merken konnte. Vielleicht kommen auch deshalb Smartphones in meinen Geschichten mit den kleinen Mönchen so relativ selten vor. Meine Eltern waren zwar einerseits, allein schon beruflich bedingt, gut digitalisiert (und ich seit ich zwölf bin zunehmend auch), aber sie waren andererseits auch auf eine gewisse entspannt-altmodische Weise analog (und ob ihr’s nun glaubt oder nicht: ich auch, wobei, nun ja…). Jedenfalls: Mit den „Wischköpfen“, wie Papa gern sagte, hatten wir alle drei nichts am Hut. Die kleinen Mönche sahen das übrigens ähnlich. Meister Alhasa sagte mal: „Mit dem Internet ist es wie mit dem Buchdruck. Bei beiden gibt es gute und schlechte Erzeugnisse. Und wie bei den Büchern haben auch im Internet viele Menschen noch nicht die Fähigkeit erworben, Qualität und Mist auseinander zu halten. Was im Internet schlimmere Folgen nach sich zieht als in der Buchhandlung.“ Papa formulierte es drastischer: „Das Smartphone ist die schlimmste Droge unserer Zeit. Und die Dealer sind börsennotiert.“
Urlaub, nichts als Urlaub.
Die folgende erste Woche unseres Urlaubs wurde dann, allen Markterlebnissen zum Trotz, genau so, wie Alhasa es vorausgesagt hatte: Urlaub und nichts als Urlaub. Kein Miraplaya, keine Krise, keine Proteste. Stattdessen „eroberten“ wir, wie Mama sagte, die „Welt“.
Zuerst fuhren wir die Küste entlang nach Süden. Pirou bzw. Pirou Plage mit seinem Meeresschwimmbad unter freiem Himmel am Strand und seinen vielen alten, gut gekleideten Menschen, die alle topfit aussahen und anscheinend auch nicht arm waren. Pirou Plage ist auch so ein Schachbrettort wie Gairemanville Plage, nur, wie Mama es ausdrückte, einen Tucken feiner. Zweimal die Woche war Markt. Und natürlich besitzt auch Pirou Plage sein Pirou Bourg, wie fast alle Plages in der Gegend. Apropos: Diverse Plages ziehen sich die ganze Küste entlang nach Süden. Und zwar sowohl Ferienorte als auch Strände.
Richtig chic, Papa sagte „mondän-bourgeois“, ist Agon-Coutainville. Ganz lange Promenade mit vielen schönen, alten Häusern, vielen Geschäften, Cafés und Restaurants, sehr vielen Touristen und Sommerfrischlern, und dahinter, also vom Strand aus gesehen, ein einziges, riesiges Villenviertel. Jedenfalls kam es mir so vor.
Noch ein Stück südlicher liegt, ein bisschen im Landesinnern, Coutances. Das ist schon eine richtige kleine Stadt.
Wenn wir gewollt hätten, hätten wir die ganze Küste Richtung Süden weiter fahren können, vorbei an mondänen und weniger mondänen Städtchen und „stations balnéaires“. Bis zum Mont-Saint-Michel. Das ist eine Art Klosterburg mitten im Meer. Bei Ebbe kann man hin, bei Flut kommt man nicht mehr zurück. Die Klosterburg wird das ganze Jahr über von Touristen belagert. Ich hab das mal gegoogelt: Laut Wikipedia wird der Ort „jährlich von etwa 2,3 Millionen Menschen besucht“. Wir haben dankend verzichtet.
Einen anderen Tag ging es die Küste hinauf nach Norden. Auch dort immer wieder die Kombination aus Bourg und Plage und einem Namen davor. Die Orte mal mit vielen, mal mit weniger französischen Sommerfrischlern (schönes altes Wort, das) und Touristen. Barneville-Carteret ist ein bisschen wie Agon-Coutainville, aber mit mehr Remmidemmi. Und einem schönen Leuchtturm auf einer sensationellen Klippe. Von dort oben gibt es einen wirklich atemberaubenden Blick aufs Meer und auf einen endlosen, nach Norden verlaufenden Strand. Dahinter dräuen ein Atomkraftwerk und eine riesige Wiederaufbereitungsanlage.
– Tja, sagte Papa, so ist Frankreich leider auch.
– Mann, grätschte Mama vorsichtshalber dazwischen, werd jetzt nicht wieder apokalyptisch, wir haben Ferien.
Genau, dachte ich, wir haben Ferien und denken an nichts anderes. Na, wenn ich mich da mal nicht täuschte…
Natürlich erkundeten wir auch die Gegend direkt um Gairemanville. Zuerst natürlich Gairemanville Bourg. Da entdeckten wir diese total süße, kleine Metzgerei – die Empfehlung von Frank und Marion – mit einer supernetten Metzgersfrau, die beim Bedienen immer, wenn sie etwas eingepackt hatte, „Et avec ceci?“ („Und sonst noch was?“) fragte, mit einer etwas hohen, leicht piepsigen Stimme. Wir haben sie gleich nach dem ersten Einkauf Avec-Ceci getauft. Des weiteren sind da die Orte Créances (mega leckere Bäckerei-Konditorei, genau wie Frank und Marion gesagt hatten), Lessay (zwei Supermärkte, eine Camembert-Käserei), La Haye (drei Supermärkte, ein großer Wochenmarkt, viele Geschäfte, sogar eine Buchhandlung).
Auf der anderen, östlichen Seite der großen Halbinsel Cotentin gibt es vor allem die berühmten sogenannten Landungsstrände, wo 1944 die Soldaten aus Amerika, England, Kanada und so ankamen, um Europa von den Nazis zu befreien. Viele Soldatenfriedhöfe, und an manchem Ortseingang wird man von einem alten Panzer empfangen. Der steht dann da so rum. Es gibt dort jede Menge kleiner und großer Orte, aber die habe ich mir nun wirklich nicht alle merken können. In einer Stadt gibt es einen riesigen, uralten Teppich, der an der Wand hängt, und ganz viele Leute kommen da hin, um sich den anzusehen. Wir zum Glück nicht.
So kullerten die Tage unserer ersten Urlaubswoche dahin. Unaufgeregt, entspannt, mit viel Entdeckerfreude und zunehmend Strandsand im Auto. Vor allem hinten, wo ich saß. Apropos zunehmend: Auch der Haufen Austernsäcke hinterm Ferienhaus wuchs – auch unter den fragenden Blicken von Frank und Marion. Von den kleinen Mönchen keine Spur, auch nicht von Finanzamt. Meine Eltern meinten schon, die Elster habe sich selbst in Frankreich ausgewildert. Doch dann, am zweiten Urlaubssonntag, saß Finanzamt schon sehr früh vor meinem Fenster zum Terrain und schnäbelte vorsichtig, aber hörbar gegen die Scheibe. Ich öffnete.
Yin und Yang oder Meditation und Investigation.
– Hallo Vogel! Da bist du ja wieder. Was gibt’s so früh?
– Schschscht, leise, deine Eltern schlafen noch. Du sollst sofort zu den Jungs im Schuppen kommen.
Ich schaltete um von Lautsprech auf Gedankensprech:
– Aha, die Herren sind aus Meditationien zurück. Na, die können sich gleich mal warm anziehen.
Ich hatte die Sache mit „Hat dir das Ilhasa noch nicht erklärt?“ nicht vergessen. Im Gegenteil: Es rumorte in mir.
– Sachte, Karoline, und nun mach schon.
Also ich raus aus den Schlaf- und rein in die Sommerklamotten. Dann leise durchs Fenster raus und rein ins Gartenhäuschen. Die kleinen Mönche saßen schon beinebaumelnd auf dem Regalrand, standen dann aber auf, verbeugten sich zum mönchischen Gruß:
– Willkommen, verehrte Freundin Karoline, bitte folge uns nach draußen.
Wir also alle hinaus auf die morgendliche Wiese hinter dem Ferienhaus, vorbei an Mamas Austernsäckehaufen, in eine windgeschützte Ecke. Falls ich es noch nicht erwähnt habe: Es war oft viel Wind in der Gegend. Hier setzten sich die kleinen Mönche im Kreise nieder, lotsten mich in die Mitte. Finanzamt war natürlich schon da.
– Weißt du, was deine Mutter mit diesen ganzen Austernsäcken plant?, fragte mich die Elster.
– Keine Ahnung, antwortete ich, vielleicht hat sie eine kreative Inspiration, wie so oft. Neuerdings sieht sie zum Beispiel beim Frühstück immer irgendwelche Dinge oder Figuren in ihrem Milchkaffee. Dann rennt sie los und holt ihr Smartphone und fotografiert das. Außerdem hat Mama, sagt Papa, Haufenbildungsgene. Und zwar haufenweise. Und dann sagt Papa noch, dass ich die auch…
– Werte Karoline, bitte, wir haben jetzt Wichtigeres zu besprechen, sagte Alhasa, auch, fügte er lächelnd hinzu, auch wenn ich ebenfalls gern wüsste, was deine ehrenwerte Frau Mutter mit den Austernsäcken plant. Doch nun setz dich bitte.
– Setzen? Die Wiese ist ganz nass!
– Jetzt nicht mehr.
Das stimmte. Kleiner Teufelskerl. Über uns wölbte sich die Glitzerkugel. Ich wurde mönchenwinzig, und wir alle wurden unsichtbar für die Welt. Die Morgenkonferenz konnte beginnen, in einer Mischung aus Lautsprech und Gedankensprech. (Aber das ist für das Folgende völlig egal.)
– Also, Jungs, was läuft?, fragte ich betont locker.
– Spionage, antwortete Alhasa, das läuft.
Jetzt sah ich den Moment gekommen, um den kleinen Kerlen mal so richtig den Marsch zu blasen:
– Schau an, schau an, das hat mir Ilhasa ja noch gar nicht erklärt. Soll ich gleich mal meinen Vater fragen?
Die Mönche sahen einander schmunzelnd an. Finanzamt trippelte etwas nervös hin und her. Ich merkte, das mein Gesicht glühte. War ich etwa wütend?
– Hoch verehrte Karoline, hob Alhasa an, dein Zorn ist verständlich und berechtigt.
Er machte eine kurze Pause, damit ich etwas runterglühen konnte und fuhr dann fort:
– Aber wir haben Gründe, die ich dir jetzt schildern werde.
– Okay, sagte ich, ich bin gespannt.
– Wir haben in den vergangenen Tagen nicht nur intensiv meditiert, sondern auch umfassend recherchiert. Wir nennen diese Methode das Yin und Yang aus Meditation und Investigation. Anders gesagt: Wir haben intensiv geforscht – das ist das Yang der Investigation – und dann die Ergebnisse intensiv reflektiert – das ist das Yin der Meditation.
– Aha, und was sind das für Ergebnisse?, fragte ich, immer noch leicht angefasst.
– Das, werte unwirsche Freundin, wird dir nun, stellvertretend für alle, Elhasa ausführlich erläutern.
Nun ergriff Elhasa das Wort:
– Zuerst zur Frage: Wozu bitte recherchierten wir? Nun, wir recherchierten, weil wir Antworten auf Fragen suchten. Fragen, die sich auch Frank und Marion stellen, und auch noch ein paar Leute mehr hier im Ort. Unter anderem eine gewisse Tochter eines gewissen Bürgermeisters.
– Und was für Fragen sind das?
– Fragen wie: Warum, oder besser, wozu will der Bürgermeister unbedingt das Miraplaya verkaufen? Warum ignoriert er die exzellenten Ergebnisse des Gutachtens, das er selbst in Auftrag gegeben hat? Welche Rolle spielt dieser Gierski? Zu welchem Zweck hat er sich vor ein paar Monaten schon hier in Gairemanville Plage in einem gut nach außen abgeschotteten, luxuriösen Ferienhaus niedergelassen, zusammen mit einer jungen Dame? Und warum sieht man ihn so oft in der Mairie, der Bürgermeisterei, wo er und besagte junge Dame Stunden mit dem Bürgermeister und dessen ebenfalls recht jungen Assistentin zusammenhocken?
– Das, sagte ich, ist reichlich Recherchestoff.
– Richtig, und wir haben auch reichlich Ergebnisse gesammelt. Wir waren viel unterwegs. Im Ort, in der Wirklichkeit, im Internet. Wir haben beobachtet und belauscht. Wenn man so winzig ist wie wir, ist so etwas keine große Sache. Alhasa hat dazu jedem Mitbruder einen speziellen Recherchebereich zugeteilt. Ich ging ins „Dorf“ und in die Orte in der näheren Umgebung. Ilhasa übernahm die Recherche in eurem merkwürdigen Internet. Olhasa belauschte die französischen Menschen an einem ihrer Lieblingsorte, der Küche. Ulhasa übernahm wie immer die gefährlichsten Aufgaben: Er recherchierte in den Geschäften, Cafés, Kneipen, Restaurants, auf dem hiesigen Campingplatz und, besonders delikat, bei den beiden besagten Paaren. Außerdem haben uns Jonathan und seine gefiederten Freunde geholfen, und auch Finanzamt hat einiges beigetragen.
– Danach, jetzt sprach wieder Alhasa, haben wir uns zurückgezogen und meditiert. Das Ergebnis ist, dass wir beschlossen haben, den Menschen hier in Gairemanville bei der Lösung ihres Problems zu helfen. Jedoch, das können wir ohne ein paar von ihnen nicht tun. Und auch nicht ohne dich, Karoline, und dein Eltern.
– Wir haben, jetzt war Elhasa wieder an der Reihe, also erkannt: Um das Problem Miraplaya zu lösen, brauchen wir Verstärkung. Also nahmen wir deine Eltern sowie Frank, Marion, Mikaël Fournot und Solange Lefatal, allerdings ohne Tochter Nolven, das war uns nun doch noch etwas zu früh, mit ins Boot.
– Boah, jetzt geht ihr aber richtig ran. Schluss mit der Geheimnistuerei, was? Ist ja der reinste Paradoxenwechsel, würde Papa sagen.
– Paradigmenwechsel, werte Freundin, Paradigmenwechsel, korrigierte Ilhasa mich sanft.
– Jedenfalls, Elhasa ergriff wieder das Wort, gestern Abend, als die Ebbe am extremsten war, gab es ein erstes Treffen, weit draußen am „Rocher de Kant“.
– Kant? Ich kenn nur Waterkant, passt ja, haha.
– Kant, werte Freundin, erklärte Elhasa in seiner geduldigen Art, war ein deutscher Philosoph, der vor rund 250 Jahren lebte und Gedanken formulierte, die bis heute von Bedeutung sind. Kant ist aber auch eine weise, alte Robbe, die hier im Meer vor Gairemanville lebt. Weit draußen, auf einem einsamen Felsen, den die Eingeweihten „Rocher de Kant“ nennen, pflegt sie zu ruhen und zu denken. Dorthin kommen die Tiere, um sich, wie bei einem Orakel, Rat, manchmal auch Trost zu holen bei der weisen, alten Robbe. Und weil diese so weise ist, heißt sie Kant. Niemand weiß, wer ihr wann diesen Namen gab. Vielleicht hieß sie schon immer so. Robben können sehr eigen sein. Übrigens: Unsere vier französischen Freunde hatten, wie die meisten Bewohner von Gairemanville, über den „Rocher de Kant“ tuscheln hören, aber wie alle Nicht-Eingeweihten hielten sie das für eine schöne, alte Legende. Zumal niemand jemals diesen Felsen geschweige denn die Robbe gesehen hat. Um so überraschter waren sie, als wir sie dorthin baten. Wobei: Mikaël Fournot hatte ein Lächeln auf den Lippen, als hätte er da so eine Ahnung.
– Und wie haben die alle den Weg dorthin gefunden?
– Wir haben sie dorthin geleitet, sprach Alhasa. Auf unsere Weise. Mehr wird nicht verraten. Ohnehin, fügte er augenzwinkernd hinzu, wird sich später natürlich niemand mehr erinnern. Und die weise Robbe Kant wird wieder zur Legende.
– Also noch mal. (Ich schüttelte den Kopf, konnte es einfach nicht glauben.) Ihr habt euch neulich abends getroffen, bei Ebbe, weit draußen im Meer, an einem nicht existierenden, kantigen Felsen, wo eine Robbe wohnt, die ein Orakel ist, aber eigentlich eine Legende? Fünf kleine Mönche, fünf Erwachsene und eine Elster?
– Und eine Möwe! Vergiss bitte die Möwe nicht, rätsch, rätsch.
Was war denn bloß mit Finanzamt los? Aber egal, jetzt gab es Wichtigeres.
– Ach ja, noch was, jetzt kam ich so richtig in Fahrt, wie konnten die euch denn überhaupt erkennen und verstehen, winzig, wie ihr seid? Habt ihr die alle klein geglitzert, inklusive Felsen?
– Nein, wir haben zu diesem Anlass unsere natürliche Gestalt und Größe angenommen. Und uns kleidungstechnisch an die hiesige Mode angepasst.
– Wie bitte? Ich dachte, das geht nicht. Verboten.
– In Ausnahmefällen geht das wohl. Paradigmenwechsel, würde dein Vater sagen.
– Wie auch immer, fuhr ich fort, denn ich hatte jetzt keine Lust, mönchische Parasonstwaswechsel zu debattieren, ganz schöner Auflauf am Phantom-Felsen. Und das hat keiner mitgekriegt, wie ihr da so rumpalavert in der Ebbegegend?
– Bitte, werte Freundin, etwas mehr Respekt und Sinn fürs Überwirkliche, sprach Elhasa, um dann fortzufahren: Wir alle hatten das Equipment für die pêche à pied dabei, für das „Fischen zu Fuß“, wie die Franzosen die beliebte Aktivität bei Ebbe bezeichnen, die darin besteht, mit Eimern, Netzen und Harken weit draußen auf dem Meeresboden herumzulaufen oder zwischen Felsen herumzustaksen und nach essbaren Meeresbewohnern zu suchen.
Ich erinnerte mich. Mama und Papa hatten was von „Wir gehen noch mal ans Meer Muscheln jagen sei schön brav Kind“ erzählt. Mir war’s egal gewesen, ich hatte mein Smartphone auf Hörbuch-Funktion gestellt.
– Selbst wenn uns jemand gesehen hätte da weit, weit draußen, wären wir also nicht sonderlich aufgefallen, fügte Olhasa hinzu, aber leider kam ich auch nicht dazu, meinen Eimer zu füllen, obwohl es gerade da draußen ooooooh ganz viele köstliche …
– Olhasa, bitte, mahnte der Abt. Elhasa ist noch nicht fertig.
– Bei dieser Konferenz am Rocher de Kant (Elhasa wollte jetzt zum Ende kommen.) fassten wir die Erkenntnisse aller Anwesenden noch einmal zusammen. Daraus ergibt sich nun folgendes Bild: Bürgermeister Jean-Marie Lefatal hat massive finanzielle Probleme. Er spekuliert nicht nur gern, sondern, viel schlimmer, er ist spielsüchtig und zockt regelmäßig und relativ erfolglos im Internet. Seine Spielschulden hat er zuerst mit eigenem Geld bezahlt. Seitdem keines mehr da ist, bedient er sich in der Kasse der Gemeinde. Noch kann er das verschleiern, aber Ende des Jahres gibt es einen Kassensturz, und dann wird alles ans Licht kommen.
– Und wie kann er das verschleiern?, wollte ich wissen.
– Da kommen wir zu einem weiteren Problem des Herrn Bürgermeister: Patricia Pacontant. Als seine ausgabenfreudige Geliebte ist sie mitverantwortlich für die fatale finanzielle Lage des Monsieur Lefatal. Und als seine persönliche Assistentin und Bürochefin sorgt sie für die besagte Verschleierung der üblen Fakten. Noch. Niemand in Gairemanville weiß übrigens von dieser Beziehung, die haben die beiden sehr geschickt geheim gehalten. Auch seine Frau Solange hatte nicht den blassesten Schimmer. Entsprechend schockiert war sie, als von uns davon erfuhr. Und dann sehr, sehr zornig.
– Sieht nicht gut aus für den Bürgermeister, meinte ich.
– Und nicht gut fürs Miraplaya. Denn der Bürgermeister hat sich was überlegt: Um aus seinen finanziellen Problemen raus zu kommen und gleichzeitig zu verhindern, dass das alles rauskommt, will er das Miraplaya verkaufen, mit dem Erlös seine Geldschulden begleichen und das „geliehene“ Geld heimlich an die Gemeindekasse zurückgeben. Und natürlich soll auch offiziell Geld aus dem Verkauf an die Kommune fließen, schließlich will sich Lefatal als erfolgreicher, moderner Bürgermeister präsentieren. Auf der Suche nach einem Käufer läuft ihm Anselm Gierski über den Weg. Toller Zufall, denkt Lefatal, der ist genau der richtige Kandidat: Ausländer, reich, keine Ahnung. Nur: So ist es nicht. Dazu komme ich gleich noch.
– Moment, rief ich, habe ich das richtig verstanden? Lefatal will die Kaufsumme, die Gierski zahlen wird, aufteilen? Eine offizielle für die Gemeindekasse und eine inoffizielle zur Begleichung seiner Schulden? Die Gemeinde bekäme also nicht das gesamte Geld, das ihr zusteht? Ganz schön dreist, der Typ.
– Betrügerischer Bürgermeister trifft betrügerischen Investor, das kann nicht gutgehen, sprach Alhasa. Dies, werte Karoline, waren die Worte deines Vaters. Wahre Worte. Wobei Lefatal glaubt, schlau zu sein, wenn er Gierski seine wahren Beweggründe, nämlich seinen baldigen Bankrott, verschweigt, und sich als modernen kommunalen Macher darstellt. Doch Gierski ist schlauer. Und Gierski hat Wendy Pafdautschik an seiner Seite. Was Patricia Pacontant für Lefatal, das ist Wendy Pafdautschik für Gierski. Mit dem Unterschied, dass Wendy Pafdautschik wesentlich gerissener ist als Patricia, bei weitem nicht so ausgabenfreudig und, vor allem, auf eine geradezu unheimliche Weise verantwortungslos intelligent. Was sie unter anderem zur perfekten Hackerin und, bei Bedarf, zum perfiden Internet-Troll und Online-Stalker macht. Außerdem ist sie praktizierender Power-Point-Freak und macht ihrem Anselm für wirklich jedes noch so abartige Thema hoch attraktive Präsentationen, auf die die Leute gern hereinfallen. Und was das Private betrifft…
– Stopp!, unterbrach ich, Pafdautschik? Das kommt mir bekannt vor, und zwar fies bekannt.
– Kann ich verstehen, antwortete der alte Abt. Wendy Pafdautschik ist die einzige Tochter jener Pafdautschiks, die wir beim Kampf ums Bachwäldchen kennen zu lernen das zweifelhafte Vergnügen hatten. Man kann sagen: Der Apfel fällt hier nicht weit vom Baum. Und was das Private betrifft: Sie ist die Geliebte von Anselm Gierski.
– Woher wisst ihr eigentlich das alles?
– Internet?
– Auch das mit der Geliebten?
– Oh nein, das hat uns Jonathan erzählt. Möwen hören und sehen viel, wenn sie wollen. Von Jonathan wissen wir übrigens auch, dass Patricia Pacontant ihrem Bürgermeister nicht nur beim Bürgermeistern assistiert, sondern auch bei seinen Betrügereien.
– Ganz schön viel los für so ein kleines Kaff.
– Warte nur ab, das ist noch nicht alles. (Elhasa hatte wieder übernommen.) Denn Gierski weiß, dank seiner umtriebigen Wendy, um die finanziellen Probleme von Lefatal. So sind sie ja überhaupt erst auf den gekommen. Nach dem Schulskandal in Deutschland suchten Gierski und Pafdautschik nach einem neuen „Projekt“, wie Gierski das nennt. Am besten weit weg vom letzten Tatort. Pafdautschik recherchierte tagelang im Internet. Dann stieß sie auf eine Art Suchanzeige: „Mondäner, prosperierender französischer Badeort in der Normandie sucht seriösen Investor für Zukunftsprojekt“.
– Das war eine Anzeige von Lefatal?, fragte ich.
– Sehr gut kombiniert. Die Kontaktadresse in der Anzeige war zwar anonym, aber für Wendy war es ein Klacks herauszufinden, wer dahinter steckte. Dann hat sie weiter recherchiert, rund um die Person Jean-Marie Lefatal. Weil sie und Gierski, die haben sich natürlich gefragt, warum da ein Bürgermeister anonym einen Investor für ein „Zukunftsprojekt“ sucht. Als Pafdautschik dann einfach mal die Suchbegriffe Spielsucht und Spielschulden eintippte, und zwar nicht nur im offiziellen Internet, sondern auch im Dark Net, wen fand sie da und dort nach einer Weile? Lefatal. Wie sagt man doch so schön: Das Netz vergisst nichts, jeder hinterlässt irgendwie irgendwo seine Spuren. Dann hat Pafdautschik sich noch mal so richtig hinter Lefatal geklemmt, hat seine Online-Aktivitäten, sein Surfen, seine E-Mails verfolgt. Und so auch die Liebschaft mit Pacontant entdeckt. Die beiden schreiben sich sexy E-Mails über ihre Büro-Accounts, das muss man sich mal vorstellen! All das macht Lefatal für Gierski erpressbar, zum perfekten Opfer.
– Und dass die sich dann kennen gelernt haben, das war gar kein Zufall?
– Im Gegenteil, das war geplant. Gierski und Pafdautschik sind nach Gairemanville gefahren, als Touris sozusagen. Gierski ist dann einfach mal rein in die Mairie, zu Lefatal und hat gefragt, ob es im Ort ein richtig schönes Ferienhaus zu mieten gäbe. Lefatal empfahl die Villa, sie kamen ins Gespräch, Lefatal schilderte seinen Plan fürs Miraplaya, Gierski hatte, ganz spontan, gleich die richtige Idee, und so kam es zum Deal.
– Und Lefatal glaubt an einen Zufall.
– Richtig. Und er denkt, er hat alles unter Kontrolle. Denn noch tut Gierski ja auch so, als wolle er Lefatal beim „Projekt Miraplaya 3000“, so hat er es getauft, helfen, nicht ganz uneigennützig, aber immerhin als Win-Win-Win-Situation, von der Lefatal, Gierski und die Menschen in Gairemanville gleichermaßen profitieren. Dass er auch von Lefatals Problemen und Liebschaft weiß, verschweigt er vorerst. Diese Karte kann ich immer noch ausspielen, sagt er zu Wendy. Wenn Lefatal also in Gierski seinen Retter sieht, der ihm hilft, aus seinen finanziellen Schwierigkeiten, die er zu den Schwierigkeiten der Gemeinde gemacht hat, raus zu kommen, dann hat er sich mächtig geschnitten. Gierski wird ihn sofort fallen lassen, sobald er ihn nicht mehr braucht. Jetzt jedenfalls brauchen die beiden einander noch im Kampf gegen Nolven und ihre, wie sie ätzen, „links-grün versifften Öko-Spinner“.
Elhasa hatte fertig. Nun sprach wieder Alhasa, und es folgte die letzte Enthüllung:
– Und dann gibt es noch die Geschichte mit Lefatal, seiner Frau Solange, seiner Tochter Nolven und Mikaël Fournot. Aber das erzählt dir jetzt Olhasa, denn der hat die beiden nach der Konferenz am Robbenfelsen am nächsten Abend in deren Küche belauscht. (Alhasa lächelte fein.) Die Küche hat sich wie erwartet als der ideale Ort erwiesen für den Einsatz unseres Meisterkoches. Olhasa, bitte.
Ich hielt den Atem an. Was kam jetzt noch?
Olhasa verbeugte sich, nicht ohne einen gewissen Stolz.
– Hochverehrte Freundin, ich werde dir nun berichten. Dazu bediene ich mich aber nicht, wie wir alle sonst, nicht nur der Gedanken. Sondern ich lasse dich direkt hinein in meine gespeicherten Erinnerungen, so dass du siehst und hörst, was ich sah und hörte.
Da ich ziemlich verdattert dreinschaute, erklärte Ulhasa:
– Das ist so wie wenn dein Vater sich heute in der Mediathek ein Fußballspiel von gestern ansieht. Kommt rüber wie live, ist aber eine Aufzeichnung.
Ich nickte. Alles klar. Die kleinen Mönche waren echt modern geworden.
– Also, hob Olhasa an, letztens so gegen acht Uhr abends mache ich es mir in der Küche der Familie Lefatal bequem…
Ich schloss die Augen. In meinem Kopf startete eine Art Kino, in Farbe, dreidimensional, mit Sound und allem drum und dran – kurz: Ich dachte, ich bin dabei, als säße ich neben Olhasa in der Küche, winzig klein und nicht zu sehen…
(Start Kopfkino Olhasa – Karoline)
Die Küche der Familie Lefatal. Schön, nicht zu ambitioniert modern, gut ausgestattet mit allem, was man braucht, um lecker französisch zu kochen. Solange Lefatal stand ja auch im Ruf, eine ausgezeichnete Köchin zu sein. Und so steht sie jetzt auch am Herd, überprüft den Gargrad grüner Bohnen in einem Topf mit kochendem Wasser, macht dann die Flamme aus unterm Topf, stellt eine große Pfanne auf den Herd, gibt ein Stück Butter und einen Schuss Öl hinein, holt ein schönes großes Steak aus dem Kühlschrank und legt es auf einen Teller. („Das ist noch etwas zu kalt für in die Pfanne“, flüstert Olhasa in meinem Kopf. Aha.) Inzwischen macht sich Solange ans Putzen eines großen grünen Salats. Nun kann ich sie auch besser betrachten: Die Schürze mit dem blauen Himmel, den weißen Wolken und Möwen, die ihr schon etwas Muttchenhaftes verleiht. Die rotblonden Haare trägt sie nach hinten zusammengerafft in einer Mischung aus Dutt und Pferdeschwanz, was ihre schöne Kopfform betont und ihren zarten, weißen Hals frei gibt. Eigentlich eine richtig attraktive Frau, denke ich, mit einer echt prima Figur. („Ooooooh ja“, denkt da Olhasa. „Ich dachte, du interessierst dich nur fürs Kochen.“ – „Ja, aber sie kocht doch.“) Da geht die Küchentür auf: Nolven. Das absolute Gegenteil ihrer Mutter, und auch wieder nicht. Klar, ganz andere Klamotten. Jeans, T-Shirt und so. Aber die gleichen rotblonden Haare, die gleichen Sommersprossen um die Nase (bei der Mutter sehe ich sie erst jetzt), die gleiche Zartheit in der Erscheinung. Nur hier mit frech kurz geschnittenen Haaren, rustikal-sportlichen Bewegungen, manchmal ein wenig eckig (fiel mir schon auf dem Markt auf, ein bisschen so wie ich), was auch an den groben Wanderstiefeln liegen mag, die sie trägt. Und ihre Haut ist bei weitem nicht so hell wie die der Mutter. Da ist jemand viel draußen. Aber jetzt zurück zum Geschehen:
– Salut, Maman, was gibt’s zu essen? (Lustig, denke ich, dieselbe Frage, wie ich sie immer stelle. Und ja, ich verstehe alles, obwohl die zwei natürlich Französisch sprechen. Mönche machen’s möglich.)
– Nolven, ich muss mit dir sprechen.
– Maman, können wir das nicht nachher machen. Ich habe Hunger.
– Nein, das muss jetzt. Es ist wichtig. Bitte, setz dich.
Nolven kennt ihre Mutter gut genug, um zu wissen, wann sie besser tut, was sie ihr sagt. Während sie sich an den großen, alten Küchentisch setzt, gießt ihre Mutter das Wasser samt Bohnen in ein großes Sieb, tut sie dann zurück in den Topf, wischt sich die Hände kurz an der Schürze ab, obwohl die gar nicht schmutzig sind, und setzt sich dann gegenüber ihrer Tochter an die andere Seite des Tisches.
– Also, fängt sie an. (Unterbricht sich sofort. Ringt die Hände.) Also, es geht um dich, um mich, um deinen Vater, also um uns.
Nolven zieht die Augenbrauen hoch:
– Also mit Papa brauchst du mir gar nicht zu kommen, nachdem, was da heute auf dem Markt abgegangen ist. Der war ja dermaßen aggressiv. Ich habe mich echt geschämt, dass so jemand mein Vater ist.
– Genau darüber muss ich mit dir sprechen, Nolven. (Pause.) Dein Vater. (Pause.) Dein Vater ist nicht dein Vater. Also nicht dein leiblicher.
Minutenlang ist es sehr still in der Küche. Nolven sieht Solange an, Solange sieht nach unten. Minutenlang. Dann:
– Maman?
– Ja, mein Kind.
– Bist du denn wenigstens meine Mutter? Also meine echte?
Mit dieser Frage hat Solange nicht gerechnet. Sie bricht in Tränen aus.
– Ja, schluchzt sie, ja, natürlich, du bist mein Kind, meine Tochter, meine Nolven, mein eigenes Fleisch und Blut, ich habe dich zur Welt gebracht…
– Maman, ist gut, verzeih mir, die Frage war blöd. Ich weiß das, ich spüre das doch.
(„Unglaublich, wie gefasst Nolven ist“, denke ich Richtung Olhasa. „Oooooh, wart ab,“ denkt der zurück, „wart ab, was jetzt kommt.“)
Nolven steht auf, geht um den Tisch herum und umarmt ihre Mutter.
– Weißt du, Maman, Papa, also Ex-Papa, hat sich ja immer lieb um mich gekümmert, und ich glaube auch wirklich, dass er mich echt gern hat, aber…
– Er denkt ja auch, dass du seine Tochter bist!, unterbricht sie Solange. Er weiß ja nicht…
Jetzt fällt ihr Nolven ins Wort:
– Aber irgendwie hatte ich immer das Gefühl, dass uns irgendetwas trennt, Papa, also deinen Mann, und mich. Und je mehr wir in der letzten Zeit aneinander gerieten, je öfter wir stritten, je mehr ich dachte, dass wir nicht mehr die selben Werte haben, desto intensiver wurde dieses Gefühl. (Nolven atmet tief durch.) Das heißt also: Ich habe keinen Vater mehr, ich bin Halbwaise.
Langsam trocknet sich die Mutter mit der Schürze ihre Tränen. Dann legt sich so etwas wie ein Lächeln um ihre Lippen.
– Also, das mit der Halbwaise, das ist so nicht ganz richtig.
Nolven schaut ihre Mutter an, mit einem Blick, der fragt: WAS KOMMT JETZT?
– Du willst mir also sagen, dass mein wirklicher Vater…
– Dass es ihn gibt? Ja, das will ich dir sagen. Es gibt ihn. Und er lebt gar nicht weit von uns. Er lebt hier in Gairemanville. Du kennst ihn.
– Maman, wer ist es?
– Mikaël Fournot.
– Mika?!
– Ich habe immer nur ihn geliebt. Ich liebe ihn immer noch. WIR lieben uns immer noch.
– Mika! (Nolven klingt nicht wirklich entsetzt oder traurig.) Mika ist mein Vater. Krass.
– Nolven, Kind, bitte, du musst verstehen…
– Maman, pas de soucis. Jetzt wird mir vieles klar. Warum Mika immer für mich da war, warum er mir so oft aus allen möglichen Patschen geholfen hat, auch gestern wieder auf dem Markt. Und warum er so gern mit mir aufs Meer fährt, was Papa, äh, Jean-Marie, nie tut. Mika und ich, wir lieben das Meer. Jean-Marie hasst das Meer.
Solange nickt:
– Ich weiß, wir haben oft heimlich von dir gesprochen. Er liebt dich so sehr. Und er war so unglücklich, dass er nicht wirklich Vater und Tochter mit dir sein konnte. Ich sage „konnte“, weil ab jetzt wird alles anders. Ich habe etwas über Jean-Marie erfahren…
Wieder bricht Solange in Tränen aus.
– Erzähl, Maman, erzähl mir alles.
Solange holt tief Luft:
– Jean-Marie Lefatal betrügt mich. Er hat ein Verhältnis mit einer anderen Frau. Einer jüngeren. Seit einiger Zeit schon.
– Wer ist es, Maman?
– Patricia Pacontant.
– Diese Luxusschlampe? Also deshalb ist mein Nicht-Vater immer geiziger gegen mich geworden. Immer aggressiver, wenn ich mal um ein bisschen finanzielle Unterstützung fürs Studium bat, weil gerade mal wieder keine Jobs für Studis am Start waren. Aber für die Pacontant hat es anscheinend immer gereicht. Bäh, wie freundlich die immer tut zu dir und mir. Na, die wird sich noch wundern, genau wie mein falscher Herr Papa und sein großkotziger Verbündeter.
Solange fängt wieder an zu weinen.
– Ach Kind, ich war so lange so naiv. Ich schäme mich so sehr. Aber jetzt ich Schluss damit. Jetzt wehre ich mich!
Nolven hockt sich neben ihre Mutter, streicht ihr übers Haar, nimmt sie in den Arm.
– Tapfere, kleine Maman, ich verspreche dir, am Ende wird alles gut. Und wenn es nicht gut ist, dann ist es auch noch nicht das Ende.
(„Die Kleine ist echt tough,“ denkt Olhasa zu mir. „Kleine ist gut,“ denke ich zurück. Aber ich finde auch: Diese Nolven imponiert mir gewaltig.)
Solange putzt sich ausgiebig die Nase. Dabei kommt die Tränen trocknende Schürze erneut zum Einsatz. Inzwischen hat Nolven zwei Gläser und eine Flasche auf den Tisch gestellt und gießt sich und ihrer Mutter ein.
– Auf meinen neuen Vater. Santé, Maman!
Beide nehmen einen gewaltigen Schluck. Schütteln sich. Husten. Lachen. Nolven gießt noch mal nach.
– So, und jetzt, Maman, erzähl mir eure ganze Geschichte.
Und Solange Lefatal erzählt. Die ganze Geschichte – hier in der Zusammenfassung, ohne die zahlreichen Unterbrechungen durch Weinen, Trösten, Schimpfen und In-den-Arm nehmen:
Solange war immer schon die große Liebe von Mika. Und Mika immer schon die große Liebe von Solange. Damals, als sie jung waren, als sie ein gemeinsames Leben planten, kam leider etwas dazwischen, das alles kaputt machte. Solanges Eltern, damals schon alt und gebrechlich, waren mit ihrem Anwesen bei Jean-Marie Lefatal verschuldet. Der hatte reicht geerbt und wollte diesen Reichtum dadurch mehren, dass er Geld zu hohen Zinsen verlieh. Mit dem Spekulieren und Glückspielen, um noch mehr Geld zu haben, fing er erst später an. Lefatal war ebenfalls in Solange verliebt. Und er wollte sie unbedingt haben und scheute auch vor Intrige und Gemeinheit nicht zurück. Also hat er Solanges alte Eltern erpresst: Entweder ich kriege eure Tochter oder ich nehme euch euren Hof weg. Dann könnt ihr sehen, wo ihr bleibt, und euer so heiß geliebtes einziges Kind auch. Solange wusste weder ein noch aus. Sie liebte nicht nur ihren Mika, sie war, das hatte ein Test ergeben, seit zwei Wochen auch schwanger von ihm. An einen Abbruch war nicht zu denken, dazu war sie zu katholisch, und außerdem, auf dem Land, das wäre schnell bekannt geworden. Quel scandal! So jedenfalls dachte Solange damals. Sie war halt noch so jung. Also hat sie sich geopfert, schnell Sex gehabt mit Lefatal, ihn schnell geheiratet und Nolven kam als „erstaunlich gut entwickeltes Frühchen“ und als Lefatals „Tochter“ zur Welt. Mika hatte alles die ganze Zeit gewusst, denn Solange hatte es ihm unter Tränen gestanden. Heimlich ein Verhältnis zu haben, kam für beide nicht in Frage. Mika verließ für ein paar Jahre Gairemanville. „Ich muss jetzt erst mal weg von hier,“ sagte er zum Abschied zu Solange, „ich halt das nicht aus. Aber ich komme zurück, versprochen.“ Und er kam zurück, am Tag von Nolvens Einschulung. Und wurde ihr großer Freund. Als dann Solanges Eltern bald darauf starben – auch aus Kummer über das von ihnen verursachte Unglück ihrer Tochter – kaufte Mika über einen Strohmann das Anwesen, beglich die Schulden und zog, zum Erstaunen aller, ein und wohnt immer noch dort. Solange hatte sich derweil mit ihrem falschen Leben arrangiert, bis, ja, bis zu dem Tag, an dem sie beschloss, es nicht mehr zu tun und stattdessen ihrer Tochter alles zu erzählen. Um gemeinsam, zu zweit, nein, zu dritt, Solange, Nolven und Mika, ein neues, bessere Leben zu beginnen. Und um gemeinsam gegen Lefatal und Gierski und deren Intrigen und Pläne zu kämpfen.
Solange hat fertig erzählt. Die Flasche ist halb leer. Stille. Dann sagt Solange:
– Ich habe da ein schönes großes Steak. Die Bohnen muss ich nur noch mal kurz in Butter schwenken, und das Fleisch braucht auch nur ein paar Minuten.
– Und ich hab einen Bärenhunger.
– Dann hau ich jetzt mal das Steak in die Pfanne.
– Und später hauen wir die ganze Bande in die Pfanne.
(Ende Kopfkino Olhasa – Karoline)
Ich atmete lang und kräftig durch. Was für ein Drama. Das war ja alles unglaublich.
– Olhasa, sagte ich, du hast Recht: Nolven ist echt ein tough cookie.
– Na ja, so tough nun auch wieder nicht, antwortete unser Chefkoch. Ich habe dir nicht alles gezeigt.
– Was meinst du?
– Nolven hat die ganze folgende Nacht geweint.
Für einen gefühlt endlos langen Zeitraum waren wir alle still. Schließlich klatschte der Abt in die Hände:
– Wir haben noch zwei Berichte, von Ulhasa. Der ist nämlich voll ins Risiko gegangen und hat die beiden sauberen Pärchen belauscht: Lefatal und Pacontant im Büro der Bürgermeisterei, Gierski und Pafdautschik in ihrer Ferienvilla. Ulhasa, bitte:
(Start Kopfkino 1 Ulhasa – Karoline)
Das Büro von Jean-Marie Lefatal. Der Bürgermeister sitzt, die Anzugjacke abgelegt, die Krawatte gelockert, in seinem Sessel hinter seinem Schreibtisch. Auf dem stehen eine Flasche Champagne und zwei halbvolle Gläser. Auf Lefatals Oberschenkeln sitzend: Patricia Pacontant, ihren Jean-Marie anhimmelnd, der wichtig tut:
– Chérie, ich sage dir, das werden wir super hinbekommen.
Pacontant nickt.
– Diesen Gierski hat uns der Himmel geschickt. Wir werden einen Maximalpreis herausschlagen, der Typ hat doch keine Ahnung.
– Aber viel Geld, lacht Pacontant.
Beide greifen zu den Gläsern, stoßen an:
– Auf uns! Und unsere Zukunft in Gairemanville.
– Apropos Zukunft, Pacontant wird ernst, was ist denn jetzt mit uns beiden? Wann werden wir denn offiziell ein Paar? Wann lässt du dich endlich scheiden von deinem langweiligen Hausmütterchen?
– Aber Chérie, ein Bürgermeister, der sich von seiner lieben, kleinen Madame trennt, der Mutter seiner Tochter, nur weil er in seiner jungen, attraktiven Sekretärin die Liebe seines Lebens gefunden hat, was wäre das denn für ein Skandal? Nein, nein, wir wecken da keine schlafenden Hunde, wobei, Solange ist noch nicht mal ein schlafender Hund, sie ist eine schlafende dumme Gans.
Pacontant kichert wild.
– Und außerdem, Chérie, außerdem werde ich dafür sorgen, dass man bei Solange eine Depression diagnostiziert, und dann schicken wir sie in Erholung…
Beide lachen hysterisch, Lefatal gießt Champagne nach.
– Darf ich mir denn dann wenigsten was Schönes wünschen?, trällert Pacontant.
– Alles, was du willst, mein Täubchen.
(Ende Kopfkino 1 Ulhasa – Karoline)
– Ja, ich glaub es nicht, empörte ich mich, was sind denn das für Menschen?
– Warte ab, werte Freundin, sagte Olhasa, jetzt kommt die Übertragung aus der Villa von Gierski.
(Start Kopfkino 2 Ulhasa – Karoline)
Das opulente Wohnzimmer in der Ferienvilla von Gierski und Pafdautschik. Auf dem ambionierten Designertischchen ein Flasche Champagne und zwei volle Gläser. Davor Gierski stehend, am Fenster Pafdautschik an einem kleinen Schreibtisch sitzend, ihren Laptop aufgeklappt.
– Ich sag dir, Wendy-Maus, wir werden das super hinbekommen. Dieses Bürgermeisterchen mit seinem französischen Landflittchen hält sich für superschlau und …
– Isser aber nicht, unterbricht ihn Wendy.
– Korrekt. Bürgermeisterchen hat überhaupt keinen Schimmer von dem, was läuft. Haben sich die Chinesen schon gemeldet?
– Haben sie. Sie sagen okay zu deinem Plan.
– Sie überweisen mir also genug Geld, so dass ich bei Lefatal eine Anzahlung machen kann, damit der Kaufvertrag sofort gültig wird?
– Yes! Nur, wie willst du Lefatal dazu bringen, das zu akzeptieren? Dass du erst nur eine Anzahlung machst, das Miraplaya dann aber sofort dir gehört und du die große Restsumme eine Woche später zahlst?
– Nun, ich werde ihm ein paar Dinge erzählen, von denen er jetzt noch nicht ahnt, dass wir sie, dank deiner Recherchen, wissen. Und was er auch nicht ahnt: Ich werde das Miraplaya ja nur eine Woche besitzen, dann habe ich es schon an die Chinesen weiterverkauft. Und mir und dir gehört die große Restsumme. Und mit der machen wir dann sofort die Fliege. Und Lefatal hat die megagroße, ultimative Arschlochkarte.
Gierski nimmt die Champagnergläser, reicht eines Pafdautschik. Die stellt sich auf die Zehenspitzen und beißt ihren Lover sanft in die Nasenspitze.
– Ich liebe böse Männer.
– Und ich böse Mädchen.
(Ende Kopfkino 2 Ulhasa – Karoline)
Jetzt war ich wirklich bedient. In meinem Kopf fuhr eine Art Achterbahn des Nicht-mehr-Verstehens.
– Das ist ja unglaublich. Wie können die nur so gemein sein?
– Menschen können vieles sein, sprach Alhasa und legte mir kurz seine rechte Hand auf den Kopf. Sofort ging es mir besser. Dann fuhr er fort:
– Kommen wir jetzt zu dem, was als Nächstes zu tun ist. Kant, der ja nicht nur ein weiser Philosoph, sondern auch ein weises Orakel ist, gab uns diesen Rat: Wer in die Haut seines Feindes schlüpft, kann die Welt durch dessen Augen sehen. Im Klartext: Jetzt wird Spionage betrieben. Und die Spionin, hoch geehrte Freundin Karoline, bist du.
Spionin im Auftrag des Abtes.
Jetzt wurde es spannend. Spionin Karoline im Dienste ihrer Mönchistät. 007 endlich weiblich.
– Worum geht’s?
– Deine Eltern werden heute nach dem Frühstück zum Markt nach Pirou fahren. Du wirst nicht mitfahren, weil du lieber an den Strand willst, wofür deine netten Eltern Verständnis haben werden.
– Ja, aber, hier im Ort ist doch heute auch wieder Markt. Warum fahren meine Eltern dann nach Pirou?
– Weil sie auf dem Weg dorthin noch beim Bäcker in Créances vorbei wollen. Und weil du dann ein paar Stunden elternfrei hast. Und diese Zeit wirst du zusammen mit Ulhasa nutzen, um zu spionieren.
– Und was und wie und wo spionieren wir? Ihr wisst doch schon alles.
– Wir wissen, sprach Alhasa, was geschah. Nun wollen wir wissen, was geschehen wird oder geschehen könnte. Dazu wirst du dich heute mit Ulhasa zur Bürgermeisterei im alten Dorfteil von Gairemanville begeben. Dort treffen sich Lefatal und Gierski nebst ihren Damen. Finanzamt fliegt euch.
Das klang jetzt richtig, richtig spannend.
– Ich bin dabei. Aber unter einer Bedingung: Ich will diese Robbe auf dem Felsen kennen lernen. Total gemein, dass nur ihr die kennt.
– Alles zu seiner Zeit, werte Freundin, alles zu seiner Zeit. Und jetzt ist erst einmal die Zeit für, wie sagt man noch so schön: Action. Ach so: Deinen Eltern sagst du darüber bitte nichts. Kein Wort.
– Ach, und warum dürfen meine Eltern davon nichts erfahren, wo sie doch sonst mit im Boot sind, wie ihr so schön sagt?
– Weil, sprach Ulhasa, unsere Mission nicht ganz, wie soll ich sagen, ungefährlich ist.
Schluck.
– Okay. Na gut. Aber vorher muss ich noch frühstücken.
Sprach’s und war weg zu meiner heißen Schokolade, die ich mir zum Frühstück gewünscht hatte.
Eines musste man den kleinen Mönchen lassen: Sie konnten unglaublich gut organisieren. Nach dem Frühstück machten sich Mama und Papa, die sich freuten, dass „unsere“ Elster wieder da war, tatsächlich auf den Weg nach Pirou, nicht ohne vorher noch einige wohlwollende Ermahnungen in meine Richtung ausgesprochen zu haben.
– Und mach keinen Quatsch mit Finanzamt!, rief Mama mir noch aus dem offenen Autofenster zu.
Dann waren sie um die Straßenecke davon.
– Was für’n Quatsch sollst du denn nicht mit mir machen, fragte Finanzamt, die sich auf meiner Schulter niedergelassen hatte.
– Weiß ich auch nicht. Aber schau mal (ich zeigte nach oben), ist das da nicht die blöde Möwe von neulich? Die dich angegriffen hat? Wieso segelt die schon die ganze Zeit über uns und guckt runter? Wird die wieder aggressiv?
– Nö, antwortete Finanzamt, im Gegenteil. Das ist Jonathan, der passt auf uns auf. Das mit letztens an der Cale haben wir inzwischen geklärt. Hatte was zu tun mit den klar definierten Fressrevieren von Elstern und Möwen hier, wovon ich nichts wusste und wogegen ich allein durch meine bloße Anwesenheit verstoßen habe. Aber letzte Woche gab es bei Sonnenaufgang ein klärendes Treffen draußen auf dem einsamen Felsen mit Kant.
– Jonathan?
– Ja, so hat Alhasa ihn getauft. Ist nämlich ne männliche Möwe. Der Name stammt, sagt Alhasa, aus einem Film: „Die Möwe Jonathan“. In dem geht es irgendwie um Flugkünste
und Mutproben, keine Ahnung. Jedenfalls finde ich Jonathan ziemlich nett.
– Ach was, echt? Von der Seite kenn ich dich gar nicht.
– Rätsch. Rätsch. Ich muss Ulhasa abholen, und dann geht es los.
Verdutzt blieb ich zurück. Was war da bloß mit meiner Elster los? Etwa verliebt? Aber da war sie auch schon wieder zurück, mit diesem kleinen Rucksack auf dem Rücken, aus dem heraus Ulhasa winkte, kurz die bekannte Glitzerzauberei machte, so dass ich mich genau so winzig neben ihm im Rucksack wiederfand. Ulhasa war der mutigste der kleinen Mönche, ein echter Draufgänger, auf den man sich aber hundertprozentig verlassen konnte. Daher war ich auch nicht ängstlich. Ich war unglaublich gespannt. Was würde jetzt geschehen?
Nun, erst einmal hoben wir ab. Flugs ging es im Elsternflug durch das Schachbrett von Gairemanville Plage, dann hinaus über Dünen, Wiesen und Äcker. Dann noch ein Stück über die Salzwiesen der großen, flachen Meeresbucht, den „Havre de Gairemanville“, und dann hatten wir den alten, ursprünglichen Ortsteil erreicht, das Dorf, „Bourg“ genannt. Und da war auch schon die Mairie. Finanzamt flog einmal um das Gebäude herum und steuerte auf der Rückseite ein offenes Fenster an, das vom Efeu halb zugewachsen war. Es raschelte ein ganz kleines bisschen, aber das hatten die Leute, die da im Raum rund um einen Tisch saßen, nicht gehört. Ulhasa und ich kletterten vorsichtig aus dem Rucksack, ließen uns Finanzamts Rücken hinunter gleiten und versteckten uns in den Blättern vor dem Fensterrahmen. Und zwar so, dass wir hörten und sahen, ohne selbst gesehen zu werden. Was bei unserer Winzigkeit ohnehin so gut wie unmöglich war. Als ich kurz zum Himmel hinauf blickte, sah ich oben unsere Luftunterstützung: die Möwe Jonathan. Dann richtete ich meine ganze Aufmerksamkeit auf die Leute im Raum und das, was im Raum gesprochen wurde. Wobei, zuerst kamen Infos von Ulhasa in meinen Kopf:
– Der Mann im blauen Anzug mit Krawatte und dem Anstecker mit der Frankreichfahne, das ist Jean-Marie Lefatal, der Bürgermeister. Den kennst du ja schon vom Markt. Die aufgedonnerte junge Dame neben ihm, die mit ihrem rosa Mobiltelefon spielt, ist seine Assistentin, Patricia Pacontant. Der andere Mann, in dieser lächerlichen Capri-Hose, dem Lacoste-Hemd und dem Smartphone Marke SuperWichtIch vor sich auf dem Tisch, das ist Anselm Gierski.
– Den kenn ich auch schon vom Markt. Diese Pafdautschik hat wirklich Recht, der Typ ist hässlich.
– Aber du kennst noch nicht seine weibliche Begleitung, die mit dem Laptop. Das ist Wendy Pafdautschik.
– Oje, die sieht auch nicht besser aus. Da hat Gierski Recht. Aber wieso treffen die sich alle an einem Sonntag hier in der Bürgermeisterei?
– Weil sie hier und jetzt völlig ungestört sind. Aber jetzt lass uns mal reinhören in die Konferenz.
Okay, dachte ich, bevor es losgeht, schau ich mir Lefatal und die beiden Damen noch kurz mal genauer an. Und das sah ich: Jean-Marie Lefatal, kerzengerade sitzend auf seinem Stuhl, makellos gescheitelt und glattrasiert. Vor sich, er natürlich auch, sein Portable, wie die Franzosen ihre Handys nennen. Neben ihm Patricia Pacontant, an ihrem rosa Handy klebend, enges, kurzes Jacke-Rock-Kostüm in Flammrot, blütenweiße, ziemlich offene Bluse, darunter rote Seide oder so, nackte Füße in High Heels, sehr lange, sehr rote Fingernägel, puuuh. Pacontant war eine echte Abziehbildschönheit, blond, kurvig, und wenn sie lächelte oder lachte, sah sie oft ein bisschen dumm aus. Mama würde sagen, eine „Torte“. Der „Torte“ gegenüber, neben Anselm Gierski, ihr komplettes stilmäßiges Gegenstück: Wendy Pafdautschik. „Paint it black“ singen, glaube ich, die Rolling Stones. Nun, die Pafdautschik war painted in black, denn sie trug mehr oder weniger das gleiche Zeug wie Pacontant, nur alles in Schwarz. Sogar schwarze Seidenstrümpfe trug sie. Und einen schwarzen Lederrock. Dazu lange, schwarz lackierte Fingernägel und, kein Witz, schwarz geschminkte Augenlider. Das konnte einen reichlich verwirren, wenn sie mit den Wimpern klimperte. Vor sich auf dem Tisch: ein Smartphone und ein Laptop. Beide natürlich schwarz. Pafdautschiks pechschwarze Haare waren kurz – mit einem Hauch Punk. Ihr Gesicht war schmal, hart und irgendwie abstoßend. Beim Lächeln war da ein leicht grausamer Zug. Ich fand sie unheimlich.
Ulhasas tippender Finger auf meiner Schulter riss mich aus meinen Betrachtungen. Es ging los. Was ich hörte, war Englisch, manchmal etwas komisch ausgesprochen, und dazwischen Französisch und Deutsch. Irritiert zupfte ich Ulhasa an der Kutte. Der schaute mich kurz an, nickte – und plötzlich verstand ich alles.
– Wie…?
Ulhasa grinste und hielt einen Zeigefinger vor seine Lippen. Schulterzuckend gehorchte ich, schwieg und horchte.
Und hier nun mein karolinischer Live-Mitschnitt dessen, was die Vier in der Mairie da zu besprechen hatten:
Gierski: Mein lieber Jean-Marie, was da letztens auf dem Markt abgegangen ist zwischen dir und deiner Tochter zeigt, dass wir jetzt wirklich schnell und konsequent handeln müssen.
Lefatal: Was? Ja, wie? Das war eine reine Familienangelegenheit.
(Patricia Pacontant hebt die Augenbrauen, sagt aber nichts. Wendy Pafdautschik, weitaus weniger zurückhaltend, prustet los.)
Pafdautschik: Regelt man in Frankreich immer so seine Familienangelegenheiten?
(Strafender Blick von Gierski Richtung Pafdautschik.)
Gierski: Jean-Marie, das war und das ist keine Familienangelegenheit. Das, was deine Tochter da mit ihren bekifften linken Ökospinnern betreibt, ist blindwütige Agitation mit fadenscheinigen Argumenten, mit dem Ziel der Störung moderner, fortschrittlicher kommunaler Politik. Deiner Politik, mon Cher.
Lefatal: Ja, aber, sie weiß doch gar nicht, was sie da tut, sie ist doch noch ein halbes Kind.
Pacontant: Pardon, Jean-Marie, aber wann hast du deine Tochter das letzte mal am Strand im Bikini gesehen? Da kann von Kind keine Rede mehr sein. Nolven ist 20!
Lefatal: 20? Mein Gott, wie die Zeit vergeht.
Gierski: Das tut sie in der Tat. Wir sollten uns daher beeilen. Also zurück zum Punkt: Bring deine Tochter zur Räson. Wie du das machst, ist mir egal. Und dann bringen wir das ganze Projekt „Miraplaya 3000“ endlich in trockene Tücher. Diese französische Schlamperei hat jetzt ein Ende. Da müssen nun Profis ran. Wir übernehmen jetzt.
Lefatal (plötzlich förmlich): Pardon, Monsieur, aber so sprechen Sie nicht mir mir. Nicht Sie. Und schon gar nicht als Nichtfranzose. Sie sprechen hier nämlich immer noch mit dem Bürgermeister einer französischen Gemeinde, einem Repräsentanten der République Francaise.
Gierski (schaut mit einem bösen Lächeln um den Mund Wendy Pafdautschik an): Nun gut, wir können auch anders. Wendy, bitte.
Während Wendy Pafdautschik kurz das diabolische Lächeln ihres Chefs und Geliebten erwiderte, um dann genüsslich ihren Laptop aufzuklappen, ein paar Mal zu tippen und zu wischen, um dann mit einem „Voilà“ das Ding so zu drehen, dass alle auf den Bildschirm schauen konnten, wurde ich von einer Bewegung links im Efeu abgelenkt. Was ich da sah, ließ mir die Haare zu Berge stehen bei gleichzeitiger Gänsehaut und heftigem Schweißausbruch, vom Gefühl, mir gleich vor Angst in die Hose zu machen, ganz zu schweigen. Eine riesige, fette Spinne bewegte sich langsam auf mich zu.
– Keine Panik, ich regel das mit ihr, flüsterte Ulhasa.
Aber da kam wie aus dem Nichts schon ein großer, scharfer Schnabel, schnappte sich die Spinne, es knackte kurz, dann war sie weg.
– Ey, Finanzamt, wusste gar nicht, dass du so brutal sein kannst.
– Tja, Karoline, was dachtest du denn, was ich bin? Ich bin eine Elster.
– Achtung, raunte Ulhasa, jetzt wird es richtig spannend da drinnen.
Pafdautschik: Also, sehr geehrter Herr Bürgermeister einer französischen Gemeinde. Oder sollte ich besser sagen Bald-nicht-mehr-Bürgermeister?
(Schockstarre bei Lefatal und Pacontant)
Lefatal: Was bitte…?
Pafdautschik (klickt sich durch eine Power-Point-Präsentation, wobei sie das dort zu Lesende zusammenfasst): Jean-Marie Lefatal, seines Zeichens hoch wichtiger und hoch angesehener Bürgermeister der normannischen Küstenmetropole Gairemanville ist ein Betrüger. Ein Zocker-Junky mit reichlich Spielschulden, der sich zu deren Begleichung und um weiterhin online zocken zu können schon seit geraumer Zeit in der Kasse seiner Kommune bedient, was von seiner Geliebten, der hier anwesenden Patricia Pacontant (hämisches Nicken hinüber), in ihrer Dreifachfunktion als Schatzmeisterin der Kommune, Sekretärin des Bürgermeisters und dessen heimlicher Geliebter mit Hang zum Mondänen, gedeckt wird. Monsieur le Maire betrügt also auch noch seine ach so geliebte Gattin Solange, die keinen blassen Schimmer hat, das arme, hübsche Hausfrauenhascherl. Das nenne ich mal feine französische Familienangelegenheiten. Claude Chabrol hat über dieses Thema gute Filme gedreht.
(Extreme Schockstarre bei Lefatal und Pacontant)
Pafdautschik: Und um das Ganze abzuschließen: Es ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis Ihnen das alles erst vor die Füße fällt und dann mit Getöse um die Ohren fliegt. Es sei denn…
Gierski: Es sei denn, Sie tun jetzt einfach, was wir Ihnen sagen.
Weiterhin extreme Schockstarre bei Lefatal und Pacontant.
Gierski: Und um Ihnen beiden die Entscheidung zu erleichtern, präsentieren wir Ihnen jetzt unseren Masterplan. Wendy, bitte.
Wendy Pafdautschik tippte und wischte wieder auf dem Laptop herum:
– Die „Initiative SOS MIRAPLAYA“ – das sind Nolven Lefatal und ihre Spinner. Die wollen einen Bürgerentscheid. Sie hoffen, die Leute dahingehend zu manipulieren, dass sie sich gegen unser Projekt aussprechen. Was das für Konsequenzen für Sie, Monsieur le Maire, haben würde, wissen Sie.
Hier kleine Pause mit bösem Grinsen bei Pafdautschik und versteinerter Miene bei Lefatal.
– Deshalb werden Sie, lieber Jean-Marie, in Ihrer Funktion als Bürgermeister und volksnah wie Sie sind, selbst einen Bürgerentscheid organisieren. Dazu werden wir, Anselm Gierski und meine Wenigkeit (wieder dieses kleine böse Lächeln) für Sie und in Ihrem Namen einen Event durchführen, auf Kosten von Anselm Gierski, sozusagen als Investition des guten Willens in unser gemeinsames Projekt. Das Ganze findet nächsten Samstag statt, auf dem Marktplatz hier in Gairemanville Plage. „Miraplaya 3000 – Gairemanville Avenir“ – unter diesem Motto werden wir eine Präsentation zaubern, die die Leute nicht nur faszinieren, sondern auch überzeugen wird, dass es keine, also wirklich keine Alternative zu unseren, Pardon, Monsieur le Maire, Ihren genialen Plänen gibt. Sie in Ihrer offiziellen Funktion als Bürgermeister werden alle Wahlberechtigten sozusagen hochamtlich dorthin beordern, Punkt 12 Uhr. Dazu werden alle Wahlberechtigten Post bekommen von der Mairie, inkl. Stimmzettel, den sollen sie mitbringen und nach der Präsentation in eine dort aufgestellte Stimmbox werfen – natürlich mit einem Kreuz beim zustimmenden „Ja“.
– A, a, aber ich habe doch gar keine Berechtigung zur Durchführung einer solchen Maßnahme. Und wenn…
– Und wenn schon!, fuhr im Gierski dazwischen, bis irgendjemand danach fragt oder merkt, dass das gar keine amtliche Mitteilung ist, ist die Sache gelaufen, das Abstimmungsergebnis in unserem Sinne und ab dafür.
– Außerdem, ergänzte Pafdautschik, haben wir den Text so formuliert, dass er wie eine Einladung klingt und wie eine Ladung wirkt. Lesen Sie selbst.
Wie aus dem Nichts zauberte sie eine Art Karte auf den Tisch, auf der stand in großen Buchstaben „Mon Oui pour Miraplaya 3000 – Gairemanville Avenir“ und noch mehr Text, den ich auf die Distanz nicht lesen konnte. Aber Lefatal las, gab die Karte an Pacontant weiter, welche ebenfalls las. Dann nickten beide:
– D’aaaaaaccord, sagte Lefatal zögernd, so kann man es machen.
– So werden wir es machen, Gierski wurde energisch, denn so werden wir verhindern,
dass es zu einer Kampagne kommt, in der unsere Gegner ihre Argumente verbreiten können.
– Das wird ein richtig schicker kleiner Event, ergänzte Pafdautschik, für hiesige Verhältnisse schon fast mega: Bühne auf dem Marktplatz, davor eine große transparente Box für die Stimmzettel, dahinter eine riesige Leinwand für meine Power-Point-Präsentation, 3D und animiert, ein absoluter Hammer! Dazu Musik, Catering, Getränke – und wenn dann genug Brot und Spiele war, begibt sich das Volk an die Abstimmung und danach zur Siesta. So sieht übrigens der Stimmzettel aus.
Pafdautschik hielt eine Art Postkarte in die Höhe. Ich konnte nicht genau alles lesen, aber eines konnte ich klar erkennen: Da war nur ein einziger Ja-Kreis, bunt und sehr groß. Und mitten in diesem einzigen Kreis war ein schwarzes X.
– Wie Sie sehen, sagte Pafdautschik, haben wir den Stimmzettel schon etwas vorbehandelt.
– Und Sie glauben, das funktioniert so?, Lefatal schien immer noch zu zweifeln.
– Aber Chérie, das wird ganz sicher funktionieren. (Patricia Pacontant klatschte vor Begeisterung in die Hände.) Du kennst doch unser Völkchen. Wenn wir die Leute erst einmal richtig beeindruckt und an der Buvette schön vorgeglüht haben, dann machen die, was wir wollen.
Pafdautschik und Gierski wechselten kurz einen vielsagenden Blick, dann meinte Gierski:
– Mademoiselle hat völlig Recht, das wird super funktionieren. Übrigens gibt es eine Menge Länder, in denen auf diese Weise regelmäßig die gewünschten Ergebnisse erzielt werden. Und außerdem (hier machte er eine kurze, bedeutungsschwere Pause), wird bis dahin, also die gesamte nächste Woche, eine Kampagnenwelle über Gairemanville hereinbrechen, gegen die eure Grandes Marées ein Witz sind. Dazu habe ich einen guten alten Kumpel von mir beauftragt, den ich für den wohl skrupellosesten kreativen Reklamefuzzi aller Zeiten halte. Der hat alles vorbereitet. Gleich im Anschluss an dieses Meeting gebe ich das Go!.
Einen langen Moment herrschte Schweigen am Tisch. Hatten die Argumente so sehr gewirkt? Oder dachte jeder für sich darüber nach, was Gierski da eigentlich erzählt hatte? Schließlich sprach Gierski in die Stille hinein:
– Gut, dann wäre ja alles klar. Die Mairie (er nickte Richtung Lefatal und Pacontant) macht ihren Job, wir (er nickte Richtung Pafdautschik) machen unseren Job. Nächsten Samstag machen wir dann gemeinsam den entscheidenden Schritt in die Zukunft von Gairemanville.
Die Sitzung war beendet. Stühlerücken, einpacken. Als Gierski und Pafdautschik schon in der Tür waren, drehte sich Gierski noch mal um.
– Ach ja, eine Kleinigkeit noch. Ich werde direkt nach dem gelungenen Volksentscheid mit dem Kaufvertrag zu Ihnen kommen. Den unterschreiben wir dann sofort und das Miraplaya gehört ab dann mir. Ich mache Ihnen eine Anzahlung auf den Kaufpreis, der große Rest folgt in einer Woche. Ich habe das schon mit meiner Bank geklärt. Läuft natürlich alles in bar. Cash in de Täsch, wie der Rheinländer sagt.
Pacontant schaute in einer Mischung aus verdutzt und erschrocken. Lefatal machte einen letzten Versuch, seine Ehre zu retten.
– Das werde ich nicht akzeptieren, Monsieur, ich werde das nicht …
– Wendy, wie wäre es mit einem Post in den sozialen Netzwerken, so im Stil von „Heiße Nummer in der Mairie von Gairemanville“?
Lefatal erbleichte, fiel förmlich in sich zusammen.
– Schon gut, schon gut, stammelte er.
Dann fiel die Tür hinter Gierski und Pafdautschik ins Schloss. Pacontant nahm Lefatal tröstend in den Arm.
– Mon pauvre Chéri…
Dann verließen auch sie den Raum. Hinter ihnen die Tür blieb offen.
– Das war’s, meinte Ulhasa, jetzt wissen wir Bescheid.
– Und was tun wir jetzt?, fragte ich.
– Jetzt geht es erst einmal zurück zum Ferienhaus, und heute Abend gibt es dann ein Treffen aller bei euch.
– Aller?
– Aller.
(Fortsetzung folgt Oktober 2025.)