Don’t read my diary when I’m gone. OK, I’m going to work now. When you wake up this morning, please read my diary. Look through my things, and figure me out. (Kurt Cobain: Journals)
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Neue Rubik – wieder für genau 1 Jahr:

69 oder: Einerseits. Andererseits.

Einerseits: der 7. Oktober 2023.
Andererseits: Wieviel Schlimmes darf ich tun, weil man mir Schlimmes angetan hat? Wie böse darf ich werden, um das Böse zu besiegen? Und wie groß ist die Gefahr, dass das Böse meins wird? Wieviel von meinen humanen Werten will ich aufs Spiel setzen oder gar aufgeben, um die zu besiegen, die keine humanen Werte haben? Über wieviele Leichen soll mein Weg zum Sieg führen? Die Israelis schauen auf eine zweitausend Jahre währende Leidensgeschichte zurück, die im Holocaust ihren furchtbaren Höhepunkt fand. Daher ihr „Nie wieder!“. Die Palästinenser schauen auf ein fast 80-jährige Leidensgeschichte zurück, geprägt von immer wiederkehrenden Kriegen und Aufständen und den daraus resultierenden Niederlagen, nach denen alles immer noch schlimmer wurde.
Es ist kompliziert
Dass die Hamas die Bestien des 7. Oktobers überhaupt hervorbringen konnte, hat historisch-psychologische Gründe. Dass Israel so reagiert, auch. Hinzu kommt: Auf beiden Seiten geht es um Macht. Und an Israel stellt sich die Frage: Gibt es wirklich keinen Plan B?
Die Hamas nimmt Tausende Tote in Kauf. Israel aber auch. Nur: Von der Hamas war und ist nichts anderes zu erwarten. Von Israel schon. Dass Israel den Krieg der Bilder verlieren würde, war klar ab dem ersten Bild aus Gaza. Denn Gaza-Bilder sind medial verwertbar, die Bilder des 7. Oktobers sind unzeigbar, ja unbeschreibbar.  Die Tragik: Israel verliert so auch den Krieg der Werte. Weil Israel sich immer mehr von seinen humanistischen Werten entfernt.
Wenn ich das Böse besiegen will, muss ich mich auch immer wieder fragen: Wie böse will ich dabei selbst werden?
Nach Hiroshima schrieb der  Copilot der „Enola Gay“,   Robert Lewis, entsetzt ins Logbuch: „Mein Gott, was haben wir getan?“
Was wird eines Tages im Logbuch Israels stehen?

 

Boletus Humanus Politicus – Update Juni 2025.

Schwarzer Knallmerzer. (Platzt bei der kleinsten Berührung und sondert eine staubige Wolke ab.)
Rotes Hängeköpfchen. (Früher verbreiteter Massensiedlungpilz, aktuell stark dezimiert.)
Grüner Küchenschnurrer. (Einst beliebter „Pilz der Philosophen“, aktuell weniger gefragt.)
Kleiner Porschling. (Vor kurzem ausgestorben.)
Mongolenschnurz. (Gedeiht ausschließlich auf bayerischem Totholz, ideal zu Bratwurst oder Schweinsbraten.)
Rotes Lachschwämmchen. (Typischer Kleine-Leute-Pilz, sei Kurzem wieder sehr beliebt.)
Blauer Weidenkleber. (Typischer Schmarotzerpilz. Hoch giftig. Siedelt bevorzugt in Nachbarschaft zum Schwarzen Knallmerzer und zum Mongolenschnurz)
Knechtmorchel. (Hübscher Pilz, leider ungenießbar. Wird oft mit dem Blauen Weidenkleber verwechselt.)
Möhriger Rotzkotz. (Amerikanische Version des Schleimigen Emporkömmlings, einst aus Deutschland eingeführt.)
Krötiger Glattschimmling. (Ursprünglich in Sibirien heimisch, breitet sich seit Jahren nach Westen aus. Hoch aggressive invasive Art, hat bei uns keine natürlichen Feinde!)
Osmanischer Ziegenpilz. (Essbar. Führt nach Genuss allerdings zu Anfällen von Größenwahn und Gewaltphantasien.)
Öliger Massenmatsch. (Extrem aggressive Art im Nahen Osten. Verbreitet sich dort seit Jahren massiv in verschiedenen Varianten, unter Namen wie „Plage Palästinas“ oder „Lepra der Levante“.)
Kleiner Puszta-Stinker. (Vorkommen ausschließlich in der ungarischen Puszta-Ebene vor, dort weit verbreitet. Sein Duft, sagen manche, verleiht Gulasch ein unverfälschtes Aroma.)

 

Ballade vom Wegerich und vom Fegerich

es wächst am weg ein wegerich
den fegt ganz plötzlich fürchterlich
ein besen fort du glaubst es nich
das ist der böse fegerich
der fegt dort wirklich unheimlich
hey du da sag was fegst du mich
ruft empört der wegerich
schweig stille kerl kehr ein in dich
nicht stören sollst beim fegen mich
der wegerich der schüttelt sich
und spürt im herzen einen stich
das war ich nich das war ich nich
schreit sofort der fegerich
zu spät zu spät ruft wegerich
ich schau ein letztes mal auf dich
ich sage dir komm her und sprich
ein gebet für mich
auf meinem weg ins lich

 

Kopfhengst – Wunderlichkeiten aus Blödland. Akte 6.

Kopfhengst liegt in der Badewanne. Durch die Wohnung dröhnt eine Wagner-Oper. Kopfhengsts nackter Körper ist knallrot, das Wasser ist sehr heiß. Überall Schaum. Kopfhengst badet immer in einer Mischung aus Perwoll und Lenor, ohne Schaumbremse. Dazu ein Schuss Maggi. Kopfhengst findet, das gibt mehr Aroma. Kopfhengst greift zum Smartphone, um die Wagner-Oper lauter zu stellen. Geht alles, weil Weierlahn und so in der ganzen Wohnung. Kopfhengst fühlt es förmlich, wenn er durch den unsichtbaren Datennebel läuft, um nicht zu sagen: watet. Ja, Kopfhengst ist modern. Total. Digital Native avant la lettre, sagt er immer. Kopfhengst ist Generation A bis Z, dazu New Generation, Next Generation, Generation Alpha sowieso, Omega fuhr er früher mal, Generation Golf dagegen nie. Und jetzt KI. Künstliche Intelligenz gegen Kopfhengst-Intelligenz? Schaunmermal, denkt Kopfhengst, als er aus der Wanne steigt. Wie immer trägt beim Baden außer nichts seine grellgelben Gummistiefel. Man weiß ja nie. Kopfhengst greift nach seinem Smartphone und stellt Meta AI eine Frage:

Kopfhengst: Macht Eierlikörsuppe Krebs?
Meta AI: Eierlikörsuppe selbst ist kein direktes Krebsrisiko. Allerdings kann der Konsum von alkoholischen Getränken, einschließlich Eierlikör, das Krebsrisiko erhöhen. (…) Wenn du besorgt bist, solltest du mit einem Arzt oder Ernährungsberater sprechen.
Kopfhengst: Wieviel Eierlikörsuppe sollte ich täglich essen?
Meta AI: Eierlikörsuppe ist eher ein Getränk als eine Suppe…
Kopfhengst: Kann ich Eierlikörsuppe einfrieren?
Meta AI: Eierlikörsuppe ist ein alkoholisches Getränk und keine Suppe…
Kopfhengst: Falsch. Eierlikörsuppe ist eine Suppe, sonst hieße sie ja nicht Suppe.
Meta AI: Entschuldigung! Ich habe mich geirrt. Eierlikörsuppe scheint eine spezielle Art von Suppe zu sein, die möglicherweise Eierlikör als Zutat enthält…

Na also, geht doch, denkt Kopfhengst. doch dass die Eierlikörsuppe in der „Erholung“ nur „möglicherweise“ Eierlikör enthalten könnte – dieser Gedanke macht ihn rasend. Beruhige dich, denkt er, sie schmeckt doch total nach Eierlikör. Ja, ja, stichelt das Teufelchen in ihm, aber was ist, wenn das nur Aromen sind, die Wirtin da rein tut? Chemical Sister! Kopfhengst beschließt: Kopfhengst braucht Klarheit. Also flugs los, raus aus dem Haus, rein in die „Erholung“. „Wirtin!“, brüllt Kopfhengst, „wie hoch ist der Anteil an Eierlikör in meiner Eierlikörsuppe? Sag!“ – „Na, immer 100 Prozent, sonst wär’s doch keine Eierlikörsuppe. Und dann noch Einlage.“ Wirtin ist beleidigt und wechselt spontan in Ruhrgebietlerische: „Un sach ma: Wieso rennsse nackt in Gummistiefel durch Blödland?“ – „Wieso nicht?“, brüllt Kopfhengst. Er klebt sich unten vorn und hinten je einen Bierdeckel an und marschiert zurück nach Hause. Möglichst unauffällig. Aber die grellgelben Gummistiefel fallen schon auf. Vielleicht frag ich mal die KI, wieso das mit den Gummistiefeln, denkt Kopfhengst, und dann: Nee, lieber nicht, wer weiß, wer alles mitliest. Da bremst neben ihm ein extrem tiefergelegter Lada. „Hey, Kopfhengst, willste mit, ich fahr in deine Richtung?“ Kopfhengst nickt und legt sich auf den Beifahrersitz. „Aber schmier mir nicht die Sitze voll mit deinen Bierdeckeln.“ Dann Vollgas heimwärts. Von ferne schnell näherkommend die Wagner-Oper. Schade, denkt Kopfhengst, das Badewasser ist jetzt bestimmt kalt.

 

 

 

wir legen die welt
gestern heute und morgen
in lieferketten
fahren und fliegen
wir sie in grund und boden
auf dem wir leben

 

über den rasen
läuft es sich wie auf beton
wann endlich regen

 

warum nicht deutschland
frag ich den mensch im sahel
ist mir zu trocken

 

die trauerweide
lässt ihre zweige hängen
die weide trauert

 

KurtsWellen: Die Barbaren sind mitten unter uns.

tageschau.de: „In der Nacht des historischen Champions-League-Triumphs von Paris Saint-Germain ist es in der französischen Hauptstadt zu gewaltsamen Krawallen gekommen. Randalierer plünderten Geschäfte, schlugen Fensterscheiben ein und zündeten Autos an – 294 Menschen wurden festgenommen, wie französische Medien unter Berufung auf die Polizei berichteten. In Südfrankreich ist ein junger Mann am Rande einer Fan-Feier zum Finalsieg von Paris Saint-Germai erstochen worden.“

 

Die kleinen Mönche.

Episode 3: Landung in der Normandie
– Eine Geschichte, die einfach so das Reihenendhaus verlässt –

Was bisher geschah – ein kurzer Blick in Karolines „Akte Kleine Mönche“.

Im ersten gemeinsamen Abenteuer rettet Karoline die kleinen Mönche vor aggressiven Elstern und nimmt sie anschließend mit ins Reihenendhaus (die Mönche, nicht die Elstern, wobei, eine schon), in das sie mit ihren Eltern aus der großen in eine benachbarte kleinere Stadt am selben Strom umzieht. Das ist Episode 1 / Tempel auf dem Dach.

Als sie schon eine Zeitlang in der kleineren Stadt wohnen, helfen die kleinen Mönche, die Krise um den Regenwasserkanal im Bachwäldchen zu überwinden. Episode 2 / Der Kampf ums Bachwäldchen.

Ein Jahr später, Karoline ist inzwischen 13 Jahre alt, passiert wieder etwas Erzählenswertes.

Und noch etwas zur Erinnerung: Sämtliche Kleine-Mönche-Geschichten wurden von Karoline noch einmal gesichtet und, wo nötig, überarbeitet, bevor sie dann ihr Elternhaus verließ, um sich in der großen weiten Welt ihre eigene zu schaffen.

Doch jetzt startet hier und jetzt erst mal Episode 3 von Karolines Kleine-Mönche-Erzählungen. Karoline, bitte…

 

Achtung: Wichtige Informationen zu den kleinen Mönchen! An alle, für die es neu ist: Bitte hier und jetzt als Erstes lesen, weil ich es später nicht andauernd erklären will!

Die kleinen Mönche stammen ursprünglich aus einem stillen, abgelegenen Kloster in Tibet, hoch oben in den Himalaya-Bergen. Von dort mussten sie eines Tages fliehen (siehe hierzu Episode 1 „Tempel auf dem Dach“ bzw. Wikipedia Tibet/China) und gerieten so ins Leben eines Mädchens namens Karoline (das bin ich). Zur Flucht und auch später bedienten sich die kleinen Mönche diverser Kleine-Mönche-Zaubereien. Zum Beispiel ihre Verkleinerung auf echte Winzlinge, die so lange anhält, bis sie wieder in ihr Kloster zurückgekehrt sind. Ausnahmen von dieser Regel sind allerdings immer möglich. Diese Zaubereien perfektionieren sie im Verlauf der Geschichten immer weiter. Denn je länger der Zustand der Verkleinerung anhält, desto mächtiger und stärker werden die Zauberkräfte der kleinen Mönche. Irgendwie dialektisch, oder?

Zu diesen Zaubereien gehört vor allem und von Anfang an der Glitzerring. Er dient als Lupe, damit Menschen die Winzlinge sehen können. Und kann zur Glitzerglocke bzw. Glitzerkuppel bzw. zum Glitzerdom bzw. zur Glitzerkugel „aufgeblasen“ werden, unter / in der/dem dann eine optimale Kommunikation Mönche-Menschen möglich ist, weil dann alle gleich groß bzw. klein sind. Wird die Kuppel zur Kugel, kann man sich mit ihr fliegend fortbewegen (wie z.B. in Episode 2 „Der Kampf ums Bachwäldchen“ ). Kommuniziert wird außerhalb der Kuppel telepathisch, also in Gedanken, und innerhalb der Kuppel entweder normal sprachlich oder aber auch gedanklich, wenn z.B. die Elster Finanzamt mit dabei ist. Wer nicht weiß, wer das ist, lese Episode 1 oder 2. Oder einfach weiter.

Der Abt des Klosters, Meister Alhasa, trägt ein Holzkistchen mit dem Ursprungsglitzerstaub und einem kleinen Löffel in seinem Umhang immer bei sich. Auf Basis dieses Ursprungsstaubes lässt sich immer wieder neuer Glitzerstaub herstellen. Ilhasa mit seiner umfassenden Bildung nennt das Kästchen deshalb gern auch die Staubmutter, weil ihn das alles an das Prinzip der Essigmutter erinnert.
Alhasa ist der Vorstand des Klosters, ein uralter, weiser Mönch, der schon viel erlebt und gesehen hat und so manches Geheimnis kennt und es meist auch für sich behielt. Er ist das Herz, die Seele und der alle anderen überragende Geist des Klosters.
Elhasa ist ein stiller, etwas verschlossener Mönch. Deshalb passt auch das e für ernst so gut zu ihm. Dabei ist er hilfsbereit und pragmatisch, auch wenn er dabei nicht viele Worte macht. Er kann gut zuhören, und wenn er mal selbst den Mund aufmacht, hat das, was raus kommt, Hand und Fuß. Aus für die anderen unerklärlichen Gründen hat der Abt gerade ihn mit den sogenannten Außenkontakten betraut: Ab und zu schickte er ihn runter ins Dorf – einkaufen, tauschen und vor allem hören, was so läuft in der Welt. Das musste er dann jedes Mal bei seiner Rückkehr sofort dem Abt berichten, und nur dem. Meister Alhasa erzählte es dann den anderen Mönchen. Oder auch nicht. Merkwürdig ist, dass sich Elhasa noch nie, nachdem er dem Abt berichtet hatte, daran erinnern konnte, was für Neuigkeiten das gewesen waren.
Der lange, hagere Ilhasa ist der Gebildetste der fünf Mönche (i für intellektuell, ist doch klar), was vor allem daran liegt, dass er die Klosterbibliothek verwaltete und eine richtige Leseratte ist. Passend dazu trägt er eine kleine, runde Brille, was ihm etwas Professorhaftes verleiht. Neben der Bibliothek kümmerte sich Ilhasa auch um die kleinen Felder und den Obst- und Gemüsegarten des Klosters.
Olhasa wiederum ist das komplette Gegenteil von Ilhasa: Er ist der kleinste und dickste Mönch. Und der langsamste, was das Begreifen angeht. Wenn er dann endlich mal was kapiert hat, begleitet er seine Erkenntnis oft mit einem langen, staunenden „Ooooh“. Seine Mitbrüder haben ihm deshalb den Beinamen „Licht der geistigen Bescheidenheit“ verliehen, was Olhasa tatsächlich als Kompliment versteht, gilt doch im Kloster Bescheidenheit als Tugend. Wie man bei seiner Leibesfülle schon annehmen kann, ist Olhasa in der Küche tätig. Er ist aber nicht nur ein exzellenter Koch, sondern auch  ein perfekter Hausmönch: putzen, waschen, spülen, aufräumen, nähen, flicken – für Olhasa das reinste Vergnügen. Früher so im Kloster und jetzt da, wo die kleinen Mönche leben. Denn da, wo sie leben, sagt der Abt, ist auch das Kloster, irgendwie.

Ulhasa ist ein recht junger Mönch, der zudem ziemlich gut aussieht und sich eine Menge traut und zutraut. Im Kloster war er vor allem für die Tiere, essbare und nicht essbare, zuständig. Ich denke, er heißt Ulhasa, weil er so besonders unternehmungslustig ist.

Diese Porträts beziehen sich, wie ihr sicher schon gemerkt habt, auf das Leben bzw. die Zeit im Kloster in Tibet, als dort noch alles gut und friedlich war. Ihre individuellen Eigenschaften haben die kleinen Mönche in ihrer Diaspora zum Glück behalten, und, was immerhin ein Trost ist: Sie werden, jeder für sich, kontinuierlich besser und perfekter. Noch so ein kleines Wunder.

 

Prolog.

Gedankenaustausch:
– Finanzamt?
– Ja, Karoline.
– Wir fahren in Urlaub, Mama, Papa und ich.
– Aha.
– Vier Wochen. Ans Meer, nach Frankreich, in eine Gegend, die Normandie heißt oder so.
– Aha.
– Die Frage ist jetzt: Was machst du, wenn wir weg sind?
– Ich passe auf Haus und Garten auf.
– Nee, das macht schon Melanie von nebenan.
– Okay, dann komm ich eben mit.
Ich erleichtert:
– Dann ist ja alles gut. Und die Mönche?
Stimme Meister Alhasas in meinem Kopf:
– Wir auch, meine liebe Karoline.
– Und wie macht ihr das?
– Sagen wir dir, wenn wir angekommen sind. Oder vielleicht auch nicht. (Leises Kichern im Hintergrund.)
– Und du, Finanzamt, wie machst du die Reise? Fliegst du?
– Bin ich ein Zugvogel? Ein Mauersegler, der beim Fliegen schläft? Ich bin eine Elster. Ich bin für Kurzstrecken konstruiert.
– Ja, also, dann, wie…
– Ich fahre in eurem Auto mit, so wie damals, als ich das Straßenbahndepot verlassen habe.
– Aber du kackst uns nicht aufs Gepäck!
– Wenn ihr mich ab und zu raus lasst zum Gassi fliegen, nicht.
– Keine Sorge, Mama und ich müssen unterwegs auch öfter mal piesele.
– Wann geht es eigentlich los?
– Nächste Woche.
– Dann wird es Zeit, dass du deine Eltern vorbereitest.
Ich mit Riesenseufzer:
– Ich weiß.

 

En route !

Das ist Französisch. Wortwörtlich heißt das „auf dem Weg, unterwegs“. Es kann mit Ausrufezeichen aber auch eine Aufforderung sein. So, wie die Fußballreporter im Fernsehen zu Beginn eines Spiels oft „Auf geht’s“ sagen. Was sie sonst noch sagen, weiß ich nicht, weil Mama und ich danach immer fluchtartig das Wohnzimmer verlassen. Ach so, „Was ist denn hier los?“ sagen die Reporter auch oft, aber das tut Mama in der Schule auch.

Bevor es also in jenem Sommer, ein Jahr nach dem (gewonnenen!) Kampf ums Bachwäldchen, auf nach Frankreich ging, musste ich mit meinen Eltern noch kurz etwas klären, und zwar dies:
– „Für die Einfuhr von Vögeln (insbesondere von Papageien und Wellensittichen),
Nagetieren, Ratten, Meerschweinchen und Kaninchen werden benötigt:
• eine Gesundheitsbescheinigung, die weniger als fünf Tage vor der Abreise ausgestellt
wurde und die bestätigt, dass die Tiere an keiner arttypischen Krankheit leiden;
• eine offizielle Bestätigung des Tierhalters, dass er der Eigentümer der Tiere ist und diese
nicht verkaufen wird.“ Das sind die Gesetze, meine werte Tochter.
Papa konnte manchmal so ein Korinthenkacker sein. Er selbst benutzte dafür einen anderen Begriff, irgendwas mit Ameisen.
– Papa, Finanzamt leidet an keiner arttypischen Krankheit, und verkaufen will ich sie schon gar nicht!
Ich war echt empört.
– Und die elsterntypische Kleptomanie?
– Das ist keine Krankheit, das ist artgerechtes Verhalten, Nomen ist halt Omen, grätschte Mama in die Diskussion, die daraufhin unter dreifachem Gelächter beendet wurde.
– Außerdem, fügte Mama hinzu, ist Finanzamt eigentlich ein wildes Tier. Und kann somit machen, was sie will.
Draußen im Garten hörte ich ein zufriedenes Elstern-Keckern.

Und die kleinen Mönche? Wie gesagt: davon später, vielleicht. Jetzt waren wir erst einmal unterwegs. Das Auto voll, aber zum Glück genug Platz zum Sitzen. Neben mir auf der Rückbank hatte es sich Finanzamt zwischen dem Gepäck gemütlich gemacht. Sie schlief, und auch mir fielen bald die Augen zu. Mama und Papa unterhielten sich ab und an leise. Autobahnfahrten sind wirklich langweilig. Am späten Nachmittag erreichten wir ein sehr schönes, schlossähnliches Gebäude, das mitten auf dem Land irgendwo in Nordfrankreich gelegen war. Drumherum ein wunderschöner Park, den Finanzamt gleich erkundete.
– Das ist unsere Übernachtung mit Abendessen und Frühstück, verkündete Papa, als wir durch das sehr enge Eingangstor in den Park rollten. Mama und ich waren begeistert. Das Dreierzimmer auf der Etage riesig, mit großen Betten, hohen Decken, alten Möbeln und großen Fenstern mit Blick auf den Park. Die Gastgeber dieser „Chambres d’Hôtes“, so heißt Bed & Breakfast auf Französisch, waren ein, Achtung, niederländisches Ehepaar, die eine lustige Mischung aus Niederländisch, Englisch, Französisch und Deutsch sprachen. Vor allem aber waren sie sehr, sehr nett. Abends gab es lecker Essen im Esszimmer unter einem wirklich ungeheuer großen Hirschkopf mit Geweih. Auf den Tellern dann aber kein Wild, sondern „Kip“, was „Hühnchen“ bedeutet und Niederländisch ist.

Nach einem prima Frühstück am nächsten Morgen waren wir dann wieder en route. Finanzamt hatte den Abend und die Nacht bei französischen Verwandten im Park verbracht.
– Und?, fragte ich sie, als wir vor der Abfahrt – Mama und Papa studierten noch die Karte – eine Runde durch den Park drehten, was sagen die französischen Elstern denn …
– „Pie“, unterbrach mich Finanzamt, auf Französisch heißt Elster „Pie“.
– Also, fuhr ich fort, was hat die Verwandtschaft denn Pie mal Daumen so erzählt?
Finanzamt schüttelte kurz ihr Gefieder.
– Was sollen sie schon erzählt haben? Die Raubvögel sind hier genauso bescheuert wie bei uns, und die Menschen auch. Die schießen sogar auf Elstern. Manchmal jedenfalls.
– Hä? Wozu das denn? Essen Franzosen Elstern? Ich hab im Internet mal ein Rezept für Krähen aus dem Ofen gefunden. Und Elstern und Krähen sind doch irgendwie ähnlich.
Finanzamt schüttelte sich erneut.
– Hör bloß auf mit so was. Die Franzosen schießen dann auf uns, wenn sie meinen, wir schädigen sie, nur weil wir zum Beispiel ein bisschen ihre Obstbäume plündern, und weil sie uns anders nicht los werden. Aber meistens hauen die Elstern hier schon vor dem ersten Schuss ab. Sind ja nicht blöd.
– Papa sagt immer, die Franzosen schießen auf alles, was sich bewegt.
– Da verwechselt er die Franzosen mit den Amis. Übrigens dürfen in Deutschland die Elstern auch gejagt werden, aber alles streng geregelt, und in Städten, also da, wo ich wohne, sowie so nicht.
– Hast du die französischen Elstern mal gefragt, ob es da, wo wir hinfahren, auch Elstern gibt?
– Ja, gibt es. Aber vor allem gibt es dort die sogenannten Seevögel. Also Möwen, Austern, Robben und so. Finanzamt sah mich mit schräg gelegtem Kopf an. Grinste sie etwa?
– Passt schon, murmelte ich, und da riefen zum Glück auch schon Mama und Papa nach uns.

Vier Stunden später, so gegen Mittag, waren wir angekommen. Als wir das Ortsschild passierten, deklarierte Papa fast feierlich:
– Willkommen in Gairemanville Plage. Ein kleiner Familienbadeort an der Westküste der Halbinsel Cotentin, Département Manche, im früher Basse Normandie genannten Westteil der Normandie. Wenn ihr nachher am Strand steht, seht ihr gegenüber die britische Kanalinsel Jersey. Wenn ihr der Küste nach Norden folgt, kommt ihr irgendwann nach Cherbourg. Wenn ihr an die Ostseite der Halbinsel fahrt, kommt ihr an die sogenannten Landungsstrände, wo im Juni 1944 die Westalliierten gelandet sind, um gegen Hitlerdeutschland zu kämpfen und, Gott sei Dank, zu siegen. Folgt ihr der Küste von hier aus nach Süden, kommt ihr zum Mont Saint Michel. Dahinter beginnt die Bretagne. Noch Fragen?
Papa war schon immer sehr stolz auf seine Geographie- und Geschichtskenntnisse. Dann hielten wir auch schon vor unserem Ferienhaus. Beim Blick über die Hecke sahen wir auf der Terrasse eine kleine, drahtige, sonnengebräunte ältere Frau mit halblangen, glatten Haaren sitzen und Zeitung lesen: Marion, unsere Vermieterin. Als sie uns sah, sprang sie flink auf und kam uns mit einem strahlenden Lächeln entgegen.
– Bonjour. Dü bist Lücie, und dü bist Mathias, begrüßte sie meine Eltern, um sich dann, immer noch strahlendes Lächeln, an mich zu wenden, und dü princesse, dü bist Karolin, n’est-ce pas?
Hm, dachte ich, Prinzessin, da habe ich schon schlimmere Komplimente bekommen. Was ich viel bemerkenswerter fand, war die Tatsache, dass die Dame, obwohl Französin, relativ gut Deutsch sprach, mit einem schönen Singsang und einem heftigen Akzent. Bald sollte ich merken, dass Marion ganz bewusst diesen heavy accent pflegte.
– Karoline. Karoline! Träumst du? Sag doch was zu Madame! Das war jetzt Papa.
Ich sah Marion, die mich immer noch anstrahlte, in ihre sanften braunen Augen und stammelte ein „Bongschuuur“. Aber da hatte sie mich auch schon umarmt und mir rechts-links diese berühmt-berüchtigte französische Wangenkussnummer verabreicht. Zum Glück roch sie gut, irgendwie nach Meer.*
– Aaaah, rief Marion, kaum dass sie mich wieder aus ihren Armen entlassen hatte, voilà Fronk!
Über die kleine Straße kam vom gegenüber liegenden Haus ein langer, schmaler Schlaks geschlendert, auch schon etwas alt, vom Typ her so einer, den Mama als „kernigen alten Kerl“ zu bezeichnen pflegte. Dass der so ruhig schlendern konnte, lag daran, dass auf der Straße überhaupt nichts los war. Nochmalige Begrüßung, zum Glück ohne Küsschen. Fronk, also Frank, war nicht rasiert, sprach dafür wesentlich besser Deutsch als seine Frau, ohne deren heftigen Akzent, dafür aber mit einem merkwürdigen Tonfall, der eindeutig kein französischer war.
Aber jetzt wollten wir ja erst mal ankommen. Also einchecken. Mein Zimmer aussuchen, ganz wichtig. Und wo war übrigens Finanzamt? Rätsch, rätsch machte es in der Pinie neben dem Haus. Und wo waren die Mönche?
– Wir sind hier, werte Karoline, sprach es sanft in meinem Kopf. Lass uns später reden, jetzt hast du zu tun, sieh dich mal um.
Das tat ich und stellte fest: Hoppla, die vier Erwachsenen waren ins Haus gegangen. Schnell hinterher.

* Wer mehr wissen will über die hohe Kunst des französischen Wangenküsschen: https://www.accentfrancais.com/de/blog/der-brauch-des-bises

 

Gairemanville Plage.

Nachdem uns Frank und Marion ins Haus eingewiesen und alles erklärt und wir alle Taschen und Koffer reingeschleppt hatten, hieß es erst einmal: Einkaufen.
– Morgön ist ier unser Sonntagsmarché, sagte Marion, da findet ihr Gemüsä, Obst, Käsä und vieles mehr.
– Auch Austern?, fragte Papa.
– Des huîtres? Oh oui. Die werden ier gleisch vor die Küstö gezüschtet. Von die Plage könnt ihr die tables à huîtres sehen, mit tausendö huîtres in ihre poches.
– Das sind die Tische, auf denen die Austern wachsen, erläuterte Papa, wir Deutschen nennen das Austernbänke. Die Austern sind dort in schwarzen Säcken gelagert, die aussehen wie große, sehr stabile Netztaschen, die nennen die Franzosen poches, also Taschen. Und im Wechsel von Ebbe und Flut sind die poches mal unter, mal über Wasser. Sind sie über Wasser, kommen die Austernleute und ernten.
– Rischtik, und oft vergessön die ihre poches, und die liegen dann bei Ebbä rum, und irgöndwann verschwinden sie für immör in die Määr.
– Klingt interessant, meinte Mama, wo genau finde ich diese poches?
– Femme, lass uns jetzt mal los die Grundausstattung kaufen, und den Rest dann morgen auf dem Markt. Papa klang leicht beunruhigt, ich verstand nicht, warum. Marion schaltete sich wieder ein:
– Dazü fahrt ihr am bestön in die Intermarché nach Lessay, das sind nür zähn Minüt.
– Gibt es hier einen guten Metzger?, fragte Papa.
Frank nickte:
– Im alten Gairemanville Bourg, im Dorf, da ist eine sehr, sehr gute Metzgerei, die bekommen ihr Fleisch hier aus der Gegend und machen ihre ganzen Produkte, also Würste, Pasteten und so, selbst. Und in Créances ist ein prima Bäcker, der auch ganz ausgezeichnete Konditoreiprodukte anbietet.
Papa strahlte:
– Auf geht’s, Mädels.

Drei Stunden später hatten wir alle wichtigen Vorräte im Haus verstaut. Fürs Abendessen sollte es Hacksteaks und Ofenkartoffeln geben, unser Ankunftsklassiker in jedem Urlaub. Aber jetzt war es noch mitten am Nachmittag, und so beschlossen wir, erst einmal zum Meer zu gehen, das, wie sich herausstellte, am Ende unserer Straße war. Also ganz nah, in Nullkommanix waren wir am Strand. Es war gerade Flut, die Leute badeten und schwammen, Kinder juchzten, wir waren glücklich. Durch den Sand liefen wir bis zur sogenannten Cale, einer Betonrampe, über die die Trecker der Ferienfranzosen mit ihren Bootsanhängern und die Trecker der Austernzüchter mit ihren Lastenhängern runter ans Wasser beziehungsweise hinaus zu ihren Austerntischen fuhren.

Die Flut hatte die halbe Rampe unter Wasser gesetzt, also kletterten wir über die großen Felsen an der Seite hinauf – und liefen oben Frank und Marion in die Arme.
– Habt ihr Lust auf einen Willkommensapéritif im Café?
Papa schaute Mama schaute Karoline schaute Papa an. Dann dreifaches Nicken.
­– Abär vorhär machen wir eine kleine Ortsführüng, sagte Marion, damit ihr schon mal das Wischtigste wisst über Lond und Lötä.
– Aber nicht zu lange zu weit, maulte ich.
– Pas de souci, so groß ist Gairemanville Plage nischt.
– Und außerdem sind wir auch dabei, zwitscherte es in meinem Kopf.
– Hä, wo denn?, dachte ich zurück.
– Wir reiten auf der Elster.
Rätsch, rätsch. Ich sah mich um. Drüben auf der Mauer einer großen, alten und sehr malerischen Ferienvilla saß Finanzamt mit, wenn man ganz genau hinsah, irgendetwas auf dem Rücken. Aber wenn man nicht wusste, dass da was war, sah man auch nicht, dass da was war. Also sah ich vorsichtshalber wieder weg, damit mich niemand fragte, wieso ich da so intensiv hinsah.

Plötzlich ertönte ein ziemlich lauter Vogelschrei. Und dann noch einer und noch einer. Dazwischen das „Rätsch! Rätsch!“ einer ziemlich empörten Elster. Elster? Finanzamt! Ich sah wieder hin. Und mit mir Mama, Papa, Frank und Marion. Und das sahen wir:

Eine riesige weiße Möwe stieß immer wieder auf eine nicht so riesige Elster (d.h. auf Finanzamt) herab, in erkennbar unfreundlicher Absicht. Und jedes Mal prallte die Möwe flügelschlagend und laut schimpfend zurück. Oder prallte sie ab? Aber an was? Dann hatte die Möwe anscheinend genug und flog davon.
– Die Möwen werden auch immer komischer, sagte Frank. Marion nickte.
– Ganz so wie bei uns. meinte Papa.
Ach ja? Hatte ich noch gar nicht bemerkt. Ich musste an diesen gruseligen Film von Alfred Hitchcock denken, „Die Vögel“, den hatte ich vor gar nicht langer Zeit mit Papa gucken dürfen, im Fernsehen, obwohl Mama meinte, das sei noch nichts für mich, weil zu jung. Na, wenn die gewusst hätte, was die Mädels und Jungs aus meiner Klasse so alles streamten.

Nachdem alle noch mal aufs Meer der Möwe hinterher geschaut hatten, begann die Erkundung von Gairemanville Plage unter Führung von Frank und Marion.

Man muss sich Gairemanville Plage als ein in die Dünen hinein und am Meer entlang gesprenkeltes Schachbrett vorstellen – also von oben betrachtet. Viele ruhige, erstaunlich breite, schnurgerade Straßen, rechts und links eskortiert von breiten Rasenstreifen, dazwischen Häuser und Grundstücke. Viele Pinien gibt es auch. Die Häuser sind in der Regel eher klein und höchstens mit erster Etage und/oder Dachgeschoss. Die Grundstücke oft nur Wiese oder Rasen, manchmal auch mit kleinem Gemüsegarten und Obstbäumen. „Terrain“ nennen die Franzosen das. Leider gab es auch ein paar neue, moderne Häuser, „architektonische Geschwüre“ und „Bauhausbunker“ sagte Papa dazu. Mama meinte nur: „Schrecklich!“. Frank und Marion nickten.

Nachdem wir eine Weile kreuz und quer übers Schachbrett gelaufen waren, führten uns Frank und Marion wieder an die kleine Straße direkt an der Düne parallel zum Strand, die den bombastischen Namen Boulevard de l’Océan trug. Nach ein paar hundert Metern blieben sie vor einem Gebäude stehen, das aussah wie ein großes Hotel.
– Hoppla, sagte Papa, sieht ja aus wie das Sanatorium im „Zauberberg“.
Mama verdrehte kurz die Augen, ich verstand nur Zauberberg. Frank hob den Arm und machte eine Art Präsentiergeste:
– Voilà, das ist unser Miraplaya. Gemeindeeigentum. Kein Sanatorium für Lungenkranke, aber dass sich auch hier zuweilen menschliche Schicksale intensiv begegnen, ist nicht auszuschließen.
Ich hätte nie gedacht, dass ich Papa mal so verblüfft würde dreinschauen sehen.
– Fronk, erklärte Marion mit einem kleinen, stolzen Lächeln, war vor seine Pensionierüng Professör für dötsche Literatür an die Üniversité in Caen. Oßerdäm at er zwei Jahrö in Wien stüdiert. Und vorär ist er zehn Jahröö zu die See gefahröön, meine kleine Matrosö. (Immer noch verliebter Blick zu Frank.)
Aha, dachte ich, daher das kernige Aussehen. Kurzer Blick zu Mama: Sie dachte anscheinend dasselbe.
– Und Marion, erklärte Frank nun mit immer noch verliebtem Blick zu Marion, war einst meine beste Studentin und hat später Deutsch am Lycée, Pardon, Gymnasium unterrichtet. Nur von ihrem französischen Akzent mochte sie sich nie ganz trennen. Die Deutschen mögen das, sagt sie immer. Im Unterricht war ihr Deutsch übrigens fast akzentfrei.
– Die Dötschän findön meine Akezäntö ärrlisch, abär noch ärrlischär finde isch die kleine wienärische Akezäntö von Fronk.
Dreimal deutsches, gänzlich unliterarisches, schwer beeindrucktes und zustimmendes Nicken. Jetzt verstanden wir.
– Also, sprach Frank, ich denke, unser Miraplaya hätte euren Thomas Mann auch inspirieren können. Vor allem der Blick aufs Meer. Wie ihr seht (er machte wieder seine Präsentiergeste), hat es eine wunderbare Fensterfront zum Ozean. Im Hochparterre seht ihr diese großen Fenster. Das ist die grande salle, da wird gegessen, gefeiert und sich zu Meetings oder so getroffen. Durch diesen kleinen Dünengarten kann man über die Straße direkt zum Strand gehen, hier, durch dieses Törchen. Die zwei Etagen über dem Hochparterre sind alles Zimmer, auch zur Hofseite hin. Aber die mit Meerblick sind natürlich die begehrtesten. Ganz oben unterm Dach, hinter den Doppelfenstern links und rechts der senkrechten Mittelachse, befinden sich diverse Wirtschaftsräume. Genauso wie (wir waren inzwischen weitergegangen zur rechten Giebelseite) im Souterrain, das, wie man sieht, nur von der Hofseite zugänglich ist. Außerdem seht ihr hier noch diese Baracken, in denen sich Seminarräume befinden. Und für Außenaktivitäten jenseits von Strand und Meer gibt es diesen riesigen Hof mit kleinem Fußballfeld, Basketballfeld, Tischtennisplatten und vielem mehr.
– Und wer nutzt das, fragte Mama.
– Schülklassön, sagte Marion, die kommön aus gonz Fronkreisch, für eine oder zwei Wochen. Vereine auch, alle Organisationön aus die sozialö Bereisch.
– Aber nicht nur die, ergänzte Frank. Das Miraplaya kann man auch für rein private Events wie Hochzeitsfeiern buchen, oder für professionelle Seminarveranstaltungen oder Teambuilding-Wochenenden von Unternehmen.
– Echt flexibel, euer Miraplaya, sagte Papa anerkennend. Und wie ist die finanzielle Situation? Rechnet sich das Ding für die Gemeinde?
– Bis jetzt ja, antwortete Frank, aber leider ist es ein wenig in die Jahre gekommen und muss renoviert werden. Das heißt, es kann dann einige Monate nicht benutzt werden. Und genau da beginnt das Problem.
– Wir wissön nämlisch nischt, fügte Marion hinzu, ob und wie langö es die Miraplaya überopt noch gebön wird.
Drei große deutsche Fragezeichen.
– Das erzählen wir euch am besten im Café, denn jetzt ist wirklich Apéritifzeit.
Mama und Papa schauten sich kurz an, dann sagte Papa:
– Wo Frank Recht hat, hat er Recht. Wir sind schließlich in Frankreich. (Und mit Blick auf mich.) Diabolo Menthe*, Karoline?

Fünf Minuten später saß ich mit Mama, Papa, Frank und Marion auf der Terrasse des „Bac de Sable“, zu Deutsch „Sandkasten“, und genoss meinen erste Diabolo Menthe des Urlaubs, natürlich mit Strohhalm. Die Sonne schien spätnachmittäglich und auf der Straße vor uns mischten sich Sommerfrischler und Einheimische. Nicht zu viele, aber genug zum Gucken. Finanzamt saß mit den kleinen Mönchen auf dem Rücken im Baum eines Gartens gegenüber. Ich wollte gerade wieder in das Gespräch der Erwachsenen reinhören, als ein unglaublicher Lärm die Straße – Rue de la Mer genannt – Richtung Meer runterrollte. Das heißt, es rollte nicht der Lärm, sondern ein sehr alter Trecker, der auf einem uralten Hänger ein uraltes Boot hinter sich her zog. Und das in einem Affenzahn. Am Steuer: ein verwegen blickender Mann, der aussah wie ein Pirat, der aus einem Altersheim ausgebrochen war. Als er an uns vorbei brauste, hörte ich von allen Seiten „Mika. Mika. Mika.“ Aber da war er schon längst die Rampe runter Richtung Meer.
– Was? War? Das? fragte Mama.
– Mikaël Fournot, erklärte Frank, ist einer der letzten Küstenfischer hier in der Gegend. Bisschen bärbeißig und raubeinig. Auch schon etwas älter, aber sehr, sehr fit. Alle nennen ihn Mika. Den Namen gaben ihm die Damen, vor langer Zeit, als sowohl er als auch die Damen noch jung waren. (Schaute Marion da grad etwas nostalgisch?) Manche nannten ihn sogar Haut Fournot.**
– Fronk, bittö! Jetzt schaute Marion missbilligend. Frank fuhr unbehelligt fort:
– Mika lebt etwas abseits, zwischen Gairemanville Plage und Gairemanville Bourg, dem alten, etwas im Landesinneren gelegenen ursprünglichen Dorf. Da wohnt er…
– Frank, unterbrach in Marion erneut, wir wolltön doch von die Miraplaya berischtön.
– Stimmt. Also, die Sache ist die…

In der folgenden Stunde erzählten Frank und Marion abwechselnd die ganze, selbst für mich ziemlich aufregende Geschichte der Ereignisse rund um das „Sanatorium“. Von den Anfängen vor rund einem halben Jahr bis zum aktuellen Stand der Dinge. Von ihrem Bürgermeister, Jean-Marie Lefatal, französisch „Monsieur le Maire“, und seinen seltsamen Verbindungen zu einem sogenannten Investor aus Deutschland, der das Miraplaya kaufen und abreißen und an seiner Stelle eine megaschicke, megateure Residenz für reiche Leute errichten wollte, inklusive Umbau des jetzt noch recht naturbelassenen Boulevard de l’Océan mit seiner Düne zu einer pompösen Strandpromenade mit Cafés, Bars, Restaurants und schicken Boutiquen. „Miraplaya 3000“ hieß die Firma des Investors, und so sollte auch die zukünftige Residenz heißen. Den Namen des Investors selbst wussten Frank und Marion auch: ein gewisser Gierski. Bei diesem Namen guckte Papa plötzlich ganz komisch, schüttelte dann wie für sich selbst den Kopf und hörte weiter zu. Die ganze Sache diente laut Bürgermeister Lefatal natürlich ausschließlich dem Wohlstand und Wohlergehen von Gairemanville und seinen Bewohnern. „Mon oeil“, meinte Frank, was, wie ich später erfuhr, so viel heißt wie „geschissen“.
Als es dann so richtig in die Details ging, wurde es mir doch zu viel und ich klinkte mich geistig aus. Es gab ja auch genug auf der Straße vor uns zu sehen. Und außerdem spendierte mir Papa noch einen zweiten Diabolo Menthe.

Eine Stunde später waren alle Gläser leer und meine Eltern auf dem neuesten Stand in Sachen Miraplaya. Die „Dorfstraße“ hatte sich inzwischen auch ziemlich geleert.
– Ich muss jetzt echt in die Küche, sagte Papa. Mama und ich nickten heftig zustimmend, Frank und Marion verständnisvoll. Vor unserem Ferienhaus verabschiedeten wir uns voneinander. Frank und Marion gingen in ihr Haus, das ja schräg gegenüber lag. Papa machte sich in der Küche an die Vorbereitung des ersten Ferien-Menüs, wie er sagte. Mama ging Betten beziehen. Und ich verzog mich in den Garten hinterm Haus, aufs „terrain“. Dort wartete, auf dem blauen Plastikgartentisch sitzend, schon Finanzamt auf mich. Der winzige Rucksack war verschwunden.
– Die Jungs harren deiner im Gartenhaus, los komm.
Gartenhaus? Ich hatte das Ding schon vom Fenster meines Zimmers aus gesehen. War eher Gartenbude. Bevor es rein ging, blieb ich kurz stehen:
– Sag mal, Finanzamt, was war das eigentlich für eine Nummer mit der fetten Möwe? Das sah aus, als wäre die volles Produkt gegen eine unsichtbare Wand geknallt.
– Schutzschirm der kleinen Mönche. Und nun frag nicht weiter.
Na dann. Also rein in die Bude. Was für ein Gekörmel! Alter Werkeltisch, wackelige Regale, Liegen, Strandspielzeug und Sportgeräte in morbidem Zustand. Dazu zwei groteske Metallgestelle, die sich bei genauerem Hinsehen als halb verrostete Fahrräder entpuppten. Und hier hatten sich die kleinen Mönche für vier Wochen niedergelassen?
– Ja sicher, werte Karoline, erklang die Stimme von Alhasa in meinem Kopf, es ist doch recht gemütlich hier.
Ich sah genauer hin: Da saßen sie nebeneinander am Rand eines Regals und ließen die Beine baumeln. Mensch-ärgere-dich-nicht-Nüppi-klein, wie damals in jener Nacht unserer ersten Begegnung. Es gab dann, wie immer, die kleine Glitzerglockennummer, und schon saß ich genauso klein mitten unter ihnen.
– Und wo genau wohnt ihr hier in diesem Chaos?
– Tss. Tss. Tss. Karoline, du weißt doch, dass du nicht alles wissen musst.
– Was du allerdings wissen solltest (das war jetzt Elhasa, der „Außenbeauftragte“ des Klosters), ist, was sich rund um das Miraplaya ereignet hat, ereignet und womöglich ereignen wird. Denn es kann durchaus sein, dass wir, also du und wir, in gewisser Weise involviert werden könnten.
– Inwollwas?
– Involviert sein heißt, dass man an etwas beteiligt, in etwas verwickelt ist. (Danke, Ilhasa.)
Ich wurde stutzig:
– So wie bei der Geschichte mit dem Bachwäldchen etwa?
– Das werden wir noch sehen, werte Karoline, sprach Alhasa, jetzt berichte ich dir erst einmal, was Frank und Marion heute Nachmittag auf der Caféterrasse erzählt haben, während du über deinen Diabolo Menthe hinweg die Straße beträumt hast.
– Das habt ihr alles gehört? Vom Baum aus? Habt ihr so was wie Fernmikrofone oder wie die Dinger heißen?
Leises Gelächter. Okay, ich verstand: keine weiteren Fragen. Stattdessen sah ich noch mal genauer hin:
– Wo ist eigentlich Olhasa?
– Na wo schon? Der schaut deinem Vater beim Kochen zu. Und nun lausche bitte aufmerksam, liebe Karoline.
Und Alhasa, der weise Abt, berichtete.

 

* Erfrischendes, herrlich grünes Sommergetränk mit Pfefferminzsirup, Sodawasser und Zitronen- oder Limettensaft. War in den 1970er-Jahren sehr angesagt. Bekommt man in Frankreich aber auch heute noch in fast jeder Bar. Ich liebe es.

** Fournot >> Haut Fournot >> haut fourneau: leicht anzügliches Wortspiel (das Lektorat).

Schlechte Aussichten fürs Miraplaya.

Und also sprach Alhasa:
– Liebe Karoline, ich erzähle dir jetzt die ganze Geschichte, also auch das, was du vielleicht im Café schon mitbekommen hast.
– Kein Ding, sagte ich, so viel war das nicht.
–Seit letztem Sommer, fuhr Alhasa fort, weiß die Gemeinde Gairemanville, dass das Miraplaya in Teilen gründlich renoviert werden muss. Fenster neu, Heizung, Leitungen für Elektrik, Wasser und so weiter. Ein Gutachten hat ergeben, dass diese Arbeiten spätestens im übernächsten Sommer durchgeführt werden müssen, um die Funktionalität nachhaltig zu gewährleisten.
– Das heißt, unterbrach ich, diesen Sommer kann das Miraplaya noch benutzt werden?
Alhasa nickte:
– Wird es auch. Habt ihr heute Nachmittag nur nicht so mitbekommen, weil die alle am Strand oder unterwegs waren. Aber im Moment sind drei Schulklassen da. Wo war ich? Ah ja, die Funktionalität und die damit verbundene weitere Wirtschaftlichkeit. Das Ergebnis des Gutachtens ist eindeutig: Einmal vernünftig renoviert, rechnet sich das Miraplaya auch in Zukunft und trägt so weiterhin positiv spürbar zu den Einkünften der Gemeinde bei.
– Und wo ist jetzt das Problem?
– Das Problem, meine ungeduldige Freundin, das Problem hat zwei Namen: Lefatal und Gierski. Jean-Marie Lefatal ist seit fünf Jahren Bürgermeister von Gairemanville Bourg und Plage. Er ist eitel, skrupellos, großkotzig und auf eine besondere Art und Weise feige. Ein genialer Populist und Selbstdarsteller, immer unterwegs in eigener Sache. Und: Er ist Finanzspekulant mit Hang zu riskanten Geschäften. Außerdem will er demnächst wiedergewählt werden und braucht dazu Erfolge. Aus irgendeinem Grund, den wir nicht kennen, also noch nicht kennen, zeigt er kein Interesse am Erhalt des Miraplaya. Im Gegenteil: Er will es verkaufen und verspricht der Gemeinde einen wahren Geldregen. Vor allem aber verspricht er sich dadurch eine sichere Wiederwahl zum Bürgermeister.
– Und an wen will er verkaufen?
– An Problem Nummer Zwei. Dabei handelt es sich um einen Investor namens Anselm Gierski und sein Projekt einer Residenz für wohlhabende Pensionäre, mit dem ziemlich phantasielosen Namen „Miraplaya 3000“.
– Ja, das haben Frank und Marion auch erzählt im Café. Und dass dieser Investor wohl Deutscher sei.
– Richtig. Gierski ist Deutscher. Für mehr Informationen fragst du bitte deinen werten Vater. Der kann dir einiges erzählen.
– Papa? Der hat auch mal kurz ganz komisch geguckt, als der Name fiel.
– Eben. Und nun mach dich hurtig davon, deine Eltern denken gerade, dass sie dich rufen wollen, weil das Essen fertig ist.
Bevor ich darüber grübeln konnte, woher Alhasa nun das schon wieder wusste, sah ich, dass Olhasa aufgetaucht war. Und da hörte ich auch schon Mama „Kihiiiiind!“ rufen.
– Komm nach dem Essen noch mal kurz rüber, liebe Freundin, rief ein fünfstimmiger Chor, wir müssen dir noch was erklären.

Papas „Menu des Vacances Numéro Un“ (Hacksteaks mit Ofenkartoffeln, davor Palmherzen in Vinaigrette, danach Käse und zum Schluss lecker Kuchen) war wie erwartet und trotz seiner, wie Papa sagte, Schlichtheit, ganz vorzüglich. Anschließend setzten sich meine Eltern zum Chillen auf die vordere Terrasse, tranken einen Kaffee und sahen, soweit nicht durch die Hecke behindert, den Leuten zu, wie sie auf der Straße entweder zum Strand gingen oder vom Strand kamen. Die Sonne würde jetzt im Hochsommer ja erst sehr spät untergehen.
– Ich schau noch mal nach Finanzamt.
Mit diesen Worten verkrümelte ich mich ins Gartenhäuschen. Wie erwartet wurde ich schon erwartet. Auch Finanzamt war da. Die Tür ließ sich übrigens nicht ganz schließen, so dass eine Elster leicht hineinschlüpfen konnte.
– Und, hat’s geschmeckt?, fragte Finanzamt.
– Joaa, nicht schlecht, meinte ich.
– Karoline, etwas mehr Respekt, bitte, erklang vorwurfsvoll Olhasas Stimme, dein Vater kocht wirklich sehr, sehr gut.
– Ja, ja, weiß ich doch. Aber ihr habt mich doch nicht deshalb noch mal kommen lassen.
– Nein, werte junge Freundin, sprach Alhasa, wir möchten dir gern noch für die nächsten Tage ein, wie nennt das dein ehrwürdiger Vater noch mal, ach ja, ein Briefing geben.
– Ähä…?
– Also, sprach der Abt, es wird so sein: In der nächsten Woche machen du und deine Eltern erst mal richtig schön Urlaub, ohne an irgendetwas Anderes zu denken. Das geht schon morgen los mit einem Marktbesuch hier in Gairemanville und danach Strand und Meer. Während ihr also urlaubt, werden sich Ulhasa und Elhasa im Ort und in seiner Umgebung und Olhasa in den Küchen umtun, Augen und Ohren weit geöffnet, und auch alle anderen Sinne werden zum Einsatz kommen. Danach, denke ich, werden wir umfassend informiert sein über die Hinter-, Vorder- und sonstigen Gründe für die hiesigen Ereignisse und Emotionen. Dann werden wir in Ruhe meditieren, und dann melden wir uns wieder bei dir. Und jetzt, liebe Karoline, solltest du mit deinen Eltern zum Strand gehen, um euren ersten Sonnenuntergang dieses Urlaubes zu begrüßen. Gleich rufen sie nach dir.

Fünf Minuten später marschierte ich mit meinen Eltern die Straße runter zum Strand. Mann, war das schön in Gairemanville. An der Ecke, wo „unsere“ Straße auf den Boulevard de l’Océan traf, warf ich einen kurzen Blick aufs Miraplaya. Viele Fenster erleuchtet, Fußball im Hof, junge Menschen diesseits und jenseits der Straße, vor dem Haus, bei den Bänken auf der Düne entlang dem Boulevard. Oben auf der kleinen Düne verharrten wir erst mal. Die Flut vom Nachmittag war zur Ebbe geworden, aber noch nicht komplett, und das Meer war ruhig. Weit ging der Blick hinaus, bis hinüber nach Jersey. Von dort blinkten lockend ein paar englische Lichter. Dann… Moment, ich glaube, hier muss ich kurz was erklären:

Zu England bzw. Großbritannien gehören ein paar größere und kleinere Inseln, die der Westküste des Cotentin vorgelagert sind. Also wo wir drauf gucken konnten vom Strand aus. Die, die uns am nächsten lag, heißt Jersey. Weiß ich alles von Papa. Die Namen der anderen Inseln hab ich vergessen. Und das Meer heißt da auch nicht Atlantik, obwohl es der Atlantik ist, sondern Ärmelkanal. Die Franzosen sagen nur „manche“ dazu, das heißt Ärmel. Papa sagt, Kanäle hätten die Franzosen genug. Na dann…

Ja, dann liefen wir die Treppe runter zum Strand. Auf dem nun doch schon beachtlich breiten Sandstreifen spazierten wir Richtung Cale. Dort angekommen gingen wir nun ganz bequem die Rampe hinauf und dann oben auf der Düne wieder zurück. Dabei nahm ich mir vor, mir vom allwissenden Ilhasa diese ganze Ebbe-Flut-Sache mal gründlich erklären zu lassen. Als wir an der Ecke ankamen, an der es von der Düne weg Richtung Ferienhaus ging, sagte Mama:
– Es ist gerade so schön Ebbe. Da geh ich doch mal nach diesen poches gucken, die da so rumliegen sollen. Ich hab da nämlich so eine Ahnung, dass ich aus den Dingern was machen kann.
Papa warf mir einen vielsagenden Blick zu. Ich verstand. Wenn Mama denkt, dass sie „was machen kann“ mit irgendwas, das andere Leute nur einfach wegschmeißen würden, dann macht sie meistens auch was draus. Und meistens was Gutes.
– Okay, meinte Papa, Karoline und ich gehen dann schon mal nach Hause.
Im Ferienhaus angekommen, fiel ich todmüde ins Bett und schlief mit viel Vorfreude auf Markt und Strand und Meer sehr schnell ein.

 

Skandal auf dem Markt.

Am nächsten Morgen wurde ich entsprechend spät wach, genauer gesagt, als Mama mich sanft rüttelte:
– Tochter, möchtest du mit zum Markt? Dann musst du jetzt aufstehen.
Ich sah kurz aus dem Fenster in den Garten. Drei schwarze, leere Austernsäcke lagen da. Aha, dachte ich, es hat angefangen. Dann ging ich duschen.

Als ich in die Küche kam, saß Papa schon marktfertig am Tisch und schrieb an seiner Einkaufsliste. Papa schreibt im Urlaub (und auch zu Hause) permanent an zwei Listen: der Einkaufsliste und der Kochliste. Beide haben natürlich miteinander zu tun. Letztere wird, besonders im Urlaub, kontinuierlich geändert. „Optimiert“, meint Papa.

Ein schnelles Frühstück später bogen wir drei am Parkplatz bei der Lebensretterstation neben der Cale um die Ecke und blieben erst mal stehen: Fast die gesamte Rue de la Mer, die vom Strand durch den Ort bis an dessen Eingang führte, war gesperrt. Statt Autos jede Menge Marktstände. Obst, Gemüse, Fisch, Austern, Meeresfrüchte, Käse, Würste – alles in schöner Vielfalt. Und alles sah so lecker aus. Vor allem auch das Grillgut, die Pommes Frites, die Paella und die Crêpes an den verschiedenen Fressständen. Dann gab es noch Stände mit Kleidung, mit Schuhen und allem möglichen anderem Klamottenzeugs, und welche mit allem möglichen Touristenzeugs. Und schließlich noch ein paar alte Leute, so opa-omi-mäßig, die auf ganz winzigen Ständen ihre eigenen Erzeugnisse darboten: Honig, Eier, Hühner, Marmeladen, Säfte und so. Manchmal alles auch durcheinander. Ich wusste gar nicht, wohin ich zuerst schauen sollte.
– Schau mal, Karoline, da ist ja Marion, sagte Mama.
Tatsächlich, nur ein paar Meter entfernt, saß unsere Marion an einem kleinen Campingtisch, der unter Kartoffeln, Tomaten, Zucchini, Salaten und anderem Gemüse fast zusammenbrach.
– Salut, Marion, rief ich, ganz stolz auf mein Französisch. Aber Marion antwortete nicht. Marion guckte noch nicht einmal. Marion schaute in die entgegengesetzte Richtung. Weiter hinten auf der Marktstraße hatte sich eine Menschentraube gebildet, die ständig größer wurde. Man hörte lautes Rufen, Schreien, Schimpfen.
– Wassen da los?, fragend sah ich meine Eltern an. Gleichzeitiges elterliches Schulterzucken – keine Ahnung, Kind.
– Jschiärrskiii. Marion guckte unfassbar böse. Ihre Lippen und Hände zitterten richtig. Eine Manif für die Miraplaya. Und, sie wurde richtig laut, gegön Jschiärrskiii!
– Klingt interessant, meinte Papa.
– Ist es aber nicht, antwortete Mama.
Das war ein Running Gag meiner Eltern aus einem Lied von Herbert Grönemeyer und den Fantastischen Vier. Leider hatten (und haben) sie nicht nur den einen.
– Am besten, wir schauen uns die ganze Sache mal näher an, beschloss Papa, ich bin jetzt wirklich richtig neugierig auf Jschiärrskiii.
Also schauten wir uns die ganze Sache mal näher an. Und das sahen und hörten wir:

Erstens einen kleinen Tisch, einen Sonnenschirm und ein Gestell mit einem Plakat. Auf dem Plakat war ein Foto des Miraplaya und darauf in riesigen Großbuchstaben: SOS MIRAPLAYA. Darunter dann in etwas kleiner und etwas wild platziert in Französisch und Englisch: SAUVONS LE MIRAPLAYA! TOUS ENSEMBLE POUR PROTÉGER NOTRE PATRIMOINE! GAIREMANVILLE EST À NOUS! SAVE THE MIRAPLAYA! NO SPECULATION IN GAIREMANVILLE! FCK INVESTORS! Auf dem Tisch lagen haufenweise Flugblätter. Ich konnte so gerade erkennen, dass auf ihnen neben den Sätzen vom Plakat noch jede Menge weiterer Sätze standen. Die meisten mit Ausrufezeichen.
Zweitens ein paar junge Leute, die rund um den Tisch standen und alle ein T-Shirt trugen mit der Aufschrift SOS MIRAPLAYA. Sie verteilten Flugblätter und diskutierten mit den Frauen und Männern, die um sie herum standen.
Drittens ein echt hübsche junge Frau in Bluejeans und weißem Aktions-T-Shirt, die sehr aufgeregt und heftig gestikulierend mit einem älteren Mann in Anzug und Krawatte schimpfte, der seinerseits sehr aufgeregt und heftig gestikulierend mit der echt hübschen jungen Frau schimpfte. Was sie sprachen, verstand ich nicht. Viel zu viel viel zu schnelles Französisch. Daneben stand ein zweiter Mann in typischer Touristenkluft und sah und hörte scheinbar interessiert zu: mittelgroß, Basecap, riesige Sonnenbrille, die ein feistes, ziemlich knallrotes Gesicht nur halb verbarg, T-Shirt mit irgendeinem Schwachsinnsaufdruck, das über dem Wohlstandsbäuchlein spannte, Shorts, weiße Beine, Sandalen. Über der feisten Brust baumelte ein pechschwarzes Mobiltelefon Marke SuperWichtIch. Aber was mir echt den Atem verschlug: Der Typ trug weiße Söckchen in seinen verdächtig homöopathischen Sandalen! Weiße Söckchen! Dann nahm er blöd grinsend die Sonnenbrille ab.
– Ich fasse es nicht. Dieses Arschloch kenne ich! Ich drehte mich um. Papa starrte gebannt auf die Touritype. Was zum Teufel treibt Anselm Gierski hier?, fragte er mich. Als wenn ich das wüsste. Mein Blick fiel auf ein Schild, das einer der jungen Leute vom Stand in genau diesem Moment hoch hielt. „Gierski go home!“ stand da drauf.
– Besonders beliebt ist er jedenfalls nicht. Ich zeigte auf das Schild. Und woher kennst du den, Papa?
– Erzähl ich dir später, jetzt lass mal sehen, was da abgeht.
– Da streiten sich zwei, als wären sie Vater und Tochter. Mama hatte für Familienzwiste echt einen Blick. Und sie hatte wohl Recht.
Der ältere Mann, sehr gepflegt in Anzug und Krawatte, mit kleinem französischen Fähnchen am Revers, und die echt hübsche junge Frau warfen sich bei ihrem Miteinanderschimpfen immer mal wieder die Worte „fille“, „père“ und „maire“ an den Kopf. Das verstand sogar ich. Den Rest würde ich mir später von Papa erzählen lassen. Inzwischen eskalierte der Streit zwischen Vater und Tochter. Und wenn ich „maire“ richtig deutete, schließlich las man ja in jedem Kaff den Schriftzug „Mairie“ auf irgendeinem mehr oder weniger repräsentativen Gebäude, dann war der „père“ wohl auch der „maire“. Und dann wohl der von Gairemanville. Der mit den blöden Plänen fürs Miraplaya. Der mit diesem Gierski unter einer Decke steckte. Und der hatte gerade ein richtig fettes Problem mit seiner Tochter. Weil die da am Proteststand war mit den anderen jungen Leuten und gegen… Oha, so langsam erkannte ich die Zusammenhänge.

Eine plötzliche Veränderung riss mich aus meinen Gedanken. Ein älterer Mann – wettergegerbtes, sonnengebräuntes Gesicht, grauer Dreitagebart, graue kurze Haare, kompakte muskulöse Figur in blauem Fischer-Overall, hohe Fischergummistiefel – war aufgetaucht, schnappte sich das Mädchen und zog es sanft aber bestimmt weg, also raus aus dem Streit, während er gleichzeitig beruhigend auf es einsprach. Dasselbe machte der Tourityp mit dem Père-Maire, dem Bürgermeistervater. Die beiden Streithähne wurden in verschiedene Richtungen von ihren jeweiligen Begleitern hinweg geführt. Die Menge verlief sich. Die jungen Leute am Stand ordneten ihre Flugblätter, die der Wind etwas auseinander geweht hatte und fingen dann wieder an, sie mit einem Lächeln an die vorbei kommenden Menschen zu verteilen. Die meisten nahmen eins. Wir auch. Papa gab uns eine schnelle Übersetzung der fett gedruckten Sätze:
– Gegen die Pläne des Bürgermeisters. Gegen Investoren. Gegen die Vernichtung des Miraplaya. Keine Spekulation in Gairemanville. Das Miraplaya muss leben. Wir fordern eine Lösung zum Nutzen aller Menschen in Gairemanville.
– Okay, sagte Mama, das haben uns Frank und Marion ja schon alles erzählt. Aber was wäre denn die Lösung?
Papa zuckte mit den Schultern:
– Keine Ahnung. Dazu steht hier nichts. (Er faltete das Flugblatt und steckte es in die Hosentasche.) Wisst ihr was? Meinetwegen können die Franzosen hier so viele Probleme haben wie sie wollen – wir haben Urlaub. So! Und deshalb genießen wir jetzt den Markt.
Na, dachte ich, wenn du dich da mal nicht täuschst. Als wir zu Marion an ihr Ständchen zurückkehrten, schüttelte sie mit einem ungläubigen Lächeln den Kopf.
– Mika mischt sisch ein, das at er noch nie gemacht, sagte sie.
– Und warum macht er das gerade jetzt?
Marion hob die Schultern:
– Qui sait? Wer weiß? (Dann wieder wütend werdend.) Abt ihr die Arschelok Jschiärrskiii gäsähön? Jetzt wisst ihr, wie die Feind aussieht. (Dann wieder lächelnd.) Aber jetzt macht erst mal ööre Einkeuf. Isch abe ganz frische Salade. Und sähr köstlische Paradeisör.
– Hallo Wien, unterbrach sie Papa lachend. Marion lachte auch:
– Das ist die Inflüanz von Fronk, der sagt immör Paradeisör zu Tomat. Und schaut hier: süper schöne haricots verts, grüne Bohnän.
– Aaaaaah, Bohnen! Das war Mama.
– Ich geh mal zu den Austern! Das war Papa.
Ich seufzte. Das waren meine Eltern…

(Fortsetzung folgt Juli 2025)